Im Gespräch mit US-Medscape Chefredakteur Prof. Eric Topol macht der renommierte US-Impfstoff-Experte Prof. Paul Offit deutlich, warum er eine Zulassung eines Impfstoffes noch vor der US-Präsidentschaftswahl am 3. November für unrealistisch hält. Warum eine Corona-Vakzine nicht das Allheilmittel gegen die Pandemie sein wird. Was seine größten Bedenken im Zusammenhang mit dem Impfstoff sind, die ihm nachts den Schlaf rauben – und warum er trotzdem optimistisch ist.
Das Transkript wurde für eine bessere Lesbarkeit redigiert, das Original-Video des Gesprächs finden Sie hier.
Dr. Eric J. Topol: Hallo. Ich bin Eric Topol, Chefredakteur von Medscape. Es ist für mich eine besondere Ehre, Prof. Dr. Paul Offit willkommen zu heißen, der seit Jahrzehnten ein anerkannter Experte für Impfstoffe und Mit-Entwickler der Rotavirus-Vakzine ist.
Es ist ein guter Zeitpunkt, um über den Impfstoff für COVID-19 zu sprechen. Paul, herzlich willkommen!
Dr. Paul A. Offit: Vielen Dank, Eric.
Topol: Dies ist eine interessante Zeit, was Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 angeht. Ich weiß, dass Sie sich schon seit geraumer Zeit intensiv damit befassen. Könnten Sie uns, bevor wir in die Details gehen, kurz einen Überblick geben?
Impfstoffforschung „in Warp-Geschwindigkeit“
Offit: Ja – derzeit ist sicher ein beispielloser Moment: Noch nie zuvor in der Geschichte waren so viele Unternehmen, war so viel Geld und waren so viele verschiedene Ideen für die Herstellung eines Impfstoffs im Spiel. Wir wenden alle Strategien an, die jemals zur Herstellung eines Impfstoffs eingesetzt wurden – und eine Handvoll Strategien, die noch nie zuvor zur Herstellung eines Impfstoffs eingesetzt worden sind.
Das alles geschieht mit Warp-Geschwindigkeit, und auf einer gewissen Ebene ist das beunruhigend. [Offit spielt damit auf Donald Trumps Operation Warp Speed, ein US-Projekt zur Impfstoffentwicklung, an; Anm. d. Übers.]
Viel von der Sprache, die dies umgibt – etwa „Warp-Geschwindigkeit“, „Finalisten“, „Wettlauf um einen Impfstoff“ – macht den Menschen Angst. Sie fürchten, dass entweder die Zeitvorgaben unangemessen verkürzt werden oder, schlimmer noch, dass Sicherheitsrichtlinien ignoriert werden.
Aber ich denke, dass wir auf einem guten Stand sind. Derzeit befinden sich 8 Unternehmen mitten in Phase 3-Studien – großen, prospektiven, placebo-kontrollierten Studien – , um die Wirksamkeit, zumindest für eine bestimmte Zeitspanne, und die Sicherheit, zumindest bei bestimmten Personengruppen, nachzuweisen.
Solange Phase-3-Studien nicht abgebrochen werden, ist alles in Ordnung. Und solange die Trump-Administration nicht versucht, sich in die „Operation Warp-Geschwindigkeit“ einzumischen und ein paar Impfstoffe aus dem Hut zu zaubern, um sie in großen Mengen zu verkaufen – auch wenn es noch nicht genügend Daten gibt –, denke ich, ist es gut.
SARS-CoV-2: Ein Virus mit Besonderheiten
Topol: Bevor wir uns damit befassen: Derzeit werden verschiedene Arten von Impfstoffen getestet. In den USA sind das vor allem mRNA-Impfstoffe von Moderna und Pfizer. Aber natürlich gibt es noch andere Impfstoffe, 8 davon befinden sich in Phase 3-Studien.
Welchen Eindruck haben Sie von mRNA-Impfstoffen? Sie wurden noch nie bei Menschen in einem Impfprogramm eingesetzt, im Unterschied zu den anderen herkömmlichen Ansätzen. Glauben Sie, dass man sich über einen genetischen Impfstoff Sorgen machen muss?
Offit: Ich denke, wenn wir noch keine kommerziellen Erfahrungen mit einer Impfstrategie haben, aber versuchen, damit ein neuartiges Virus zu stoppen, wird es eine Art Lernkurve geben. Dieses Fledermaus-Coronavirus, das gerade sein Debüt in der menschlichen Bevölkerung gegeben hat, hat ja bereits einige Überraschungen für uns bereitgehalten, sowohl klinisch als auch pathologisch.
So hätte z.B. niemand erwartet, dass ein behülltes respiratorisches Virus, das durch kleine Tröpfchen verbreitet wird, in einem heißen und feuchten Klima während des Sommers – einer Zeit ohne Influenza-Aktivität – derart wüten würde, wie es derzeit in den USA geschieht. Und es hätte auch niemand vorhergesagt, dass es dieses ungewöhnliche multisystemische inflammatorische Syndrom bei Kindern verursachen kann; ich kenne kein anderes Virus, das dies tut.
Ich denke aber, der wohl überraschendste Aspekt dieses Virus ist, dass es eine Art Vaskulitis auslöst – und dies nicht, weil es sich in Endothelzellen, die Blutgefäße auskleiden, reproduziert. Ich denke, die Vaskulitis ist eine Folge der Immunantwort, und eine Reihe von Zytokinen und Chemokinen sind dafür verantwortlich. Als Folge davon kann es zu Schlaganfällen, Herzinfarkten, Erkrankungen der Leber, der Niere und anderer distaler Organe kommen.
Noch eine Besonderheit: COVID-19 scheint auch eine Präferenz für Pflegeheime zu haben. Auch die Influenza tötet ältere Menschen, aber weniger als 10% der Influenza-Todesfälle sind in Pflegeheimen zu verzeichnen. Beim Coronavirus sind es mehr als 40%.
Sie haben also dieses schwer charakterisierbare, schwer fassbare Virus, dem Sie nun mit einer Handvoll Impfstrategien begegnen wollen, mit denen Sie keine kommerzielle Erfahrung haben. Ich denke, Sie können davon ausgehen, dass es hier eine Lernkurve geben wird.
Ich wünschte, die Unternehmen, die an der Impfstoff-Entwicklung beteiligt sind, gäben sich etwas bescheidener. Sie klopfen sich selbst auf die Brust und machen Ansagen, wann sie den Impfstoff haben werden. Vor wenigen Tagen sagte der CEO von Pfizer: „Ich denke, wir können bis Ende Oktober einen Impfstoff haben.“ Da muss ich doch fragen: „Entschuldigen Sie, sind Sie im Data Safety Monitoring Board (DSMB)?“
Topol: Lassen Sie uns später darüber sprechen, wie es sich mit diesen DSMB verhält, welche kritischen Entscheidungen, Ende Oktober – also noch vor dem 3. November (dem Tag der Präsidenten-Wahl in den USA) – anstehen.
Bevor wir das tun, möchte ich noch einmal ein wenig auf die Biologie zurückkommen, die Sie gerade angesprochen haben. Wir haben einen Tropismus des Virus an vielen Stellen im Körper, überall dort, wo es eine ACE-2-Expression gibt. [Unter Tropismus versteht man die Fähigkeit eines Virus, bestimmte Zellen oder Gewebe zu erkennen und sich dort zu vermehren, Anm. d. Übers.]
Und wir haben dort auch die entzündliche Immunantwort darauf. Es ist also schwer, die beiden Effekte zu trennen, wie Sie erwähnten. Das Virus kann in Endothelzellen eindringen, aber es gibt auch die Entzündungs- und Zytokin-Reaktion auf diesen Eintritt. Das Gleiche gilt im Herzen, wie in der Niere, im Gehirn. Das ist eine wirklich harte Nuss, die es hier für die Vakzine zu knacken gilt.
Darüber hinaus gibt es eine Menge Dinge, die wir noch immer nicht verstehen, wie zum Beispiel den Langzeitverlauf von COVID-19. Was denken Sie darüber?
Offit: Meinen Sie Menschen, die von langanhaltenden Symptomen wie Depressionen, Gelenkschmerzen oder leichtem Fieber berichten?
Topol: Richtig. Gelenkschmerzen, ein benebeltes Gefühl im Gehirn, Brust und Atembeschwerden sowie eine sehr schlechte körperliche Belastbarkeit, die bei Manchem seit der Akutinfektion im März andauert. Ein unbekannter Prozentsatz der Menschen scheint davon betroffen zu sein.
Offit: Ich denke, das ist wahrscheinlich auf mehrere Aspekte zurückzuführen. Zum Teil liegt es vielleicht an der Vaskulitis, die eventuell chronische Schäden in einer Vielzahl von Organen verursacht. Auch eine Vernarbung der Lunge kann dabei eine Rolle spielen. Wir werden darüber sicher mit der Zeit noch mehr lernen.
Auch eine Psychose als Folge der Intensivtherapie kann eine Erklärung sein. Wer lange Zeit auf einer Intensivstation verbracht hat, hat so eine Art „benebeltes Gehirn“ oder vielleicht auch Depressionen. Das könnte hier ebenfalls mit hineinspielen.
Ich denke, die Beschwerden existieren wirklich. Ich glaube nicht, dass sich die Leute das nur ausdenken. Ich glaube, das ist ein echtes Problem. Wir werden mehr wissen, wenn wir mehr Informationen über das Virus gesammelt haben.
Klinische Studien zu Impfstoffen brauchen Zeit
Topol: Wenden wir uns den Impfstoffen zu. Da sind die beiden placebo-kontrollierten Studien mit 30.000 Teilnehmern der Impfstoffkandidaten von Pfizer und Moderna, die voraussichtlich bis Ende dieses Monats alle Probanden eingeschlossen haben werden.
Beide Programme testen 2 Dosen des Impfstoffs. Nach der 1. Dosis gibt es also einen Monat später eine Auffrischungsimpfung, und dann wird es einige Wochen dauern, bis Sie die volle erwartete Immunantwort sehen werden.
Da wir wissen, dass die Rekrutierung bestenfalls diesen Monat abgeschlossen sein wird, können Sie uns erklären, wie wir bis Ende Oktober eine Auswertung dieser beiden Phase-3-Studien haben sollen?
Offit: Auch ich wüsste nicht, wie das möglich sein sollte. Moncef Slaoui, Leiter der Operation Warp Speed, hat, wie ich finde, passend dazu kürzlich in einer Sendung des National Public Radio gesagt, das bestmögliche Szenario sei Ende des Jahres, höchstwahrscheinlich Anfang des nächsten Jahres. Ich denke, das ist eine zutreffendere Darstellung.
Wie Sie sagten, müssen erstmal 30.000 Menschen Dosis 1 des Impfstoffs oder Placebo erhalten. Dann muss man einen Monat warten, den 30.000 Menschen die Dosis 2 des Placebos oder des Impfstoffs geben, und dann wieder 2 Wochen bis zur vollständigen Immunität warten. Und daraufhin muss man hoffen, dass etwa 150 oder 160 Menschen in der Placebo-Gruppe krank werden. Nicht nur sich infizieren, sondern richtig krank werden. Denn der klinische Endpunkt in diesen Studien ist eine mittelschwere bis schwere COVID-19-Erkrankung.
Jackie Miller von Moderna sprach letzte Woche vor dem Advisory Committee on Immunization Practices (ACIP) und wurde gefragt, wie hoch die Infektionsrate an den Orten ist, an denen die Studien durchgeführt werden. Forscher führen Antikörper-Untersuchungen bei allen Personen durch, wenn sich diese einschreiben. Dies damit sie ein Gefühl dafür bekommen, wie hoch die Infektionsrate derzeit ist. Sie liegt bei etwa 1%.
Wenn das stimmt, und wenn man bedenkt, dass die Infektionen in 80% der Fälle asymptomatisch verlaufen, dann konzentriert man sich also mit der Impfung auf die 20%, die in einem Gebiet symptomatisch werden, in dem sich bislang nur etwa 1% der Menschen infiziert haben. Und zudem, weisen Sie die Menschen ja an, zusätzlich Alltagsmasken zu tragen und das ‚Social Distancing‘ zu beachten.
Das müssen Sie tun, denn zum einen haben die Probanden ja möglicherweise Placebo erhalten, und zum anderen wird kein Impfstoff zu 100% wirksam sein. In vielerlei Hinsicht will man ja nicht, dass die Probanden krank werden – aber andererseits erfährt man erst dann, ob der Impfstoff wirkt, wenn eine bestimmte Anzahl von ihnen erkrankt ist.
Man bittet sie ja nicht, nach Sturgis, South Dakota, zu fahren und mit einem Haufen Biker abzuhängen. [Dort findet jährlich die Sturgis Motorcycle Rally statt, mit etwa einer halben Million Besucher eine der größten Motorradveranstaltungen der Welt – und in diesem Jahr anscheinend ein Infektions-Hotspot; Anm. d. Übers.] Man will Teilnehmer zumindest zu einem gewissen Grad schützen.
Topol: Wissen Sie, ob die beiden Programme, die in Brasilien stattfinden, dort in Gebieten mit hoher Infektions- und Ausbreitungsrate durchgeführt werden? Wurde die Infektionsrate irgendwo veröffentlicht?
Offit: Wir kennen sie von Konferenzen. Die Studien werden in den Vereinigten Staaten, in Südamerika und Afrika durchgeführt; in Gebieten, die vermutlich „heiß“ sind, so dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Sie eine repräsentative Anzahl von klinisch bedeutsamen Erkrankungen in Ihrer Placebo-Gruppe bekommen.
Aber auch hier kann ich mir selbst im besten Fall nicht vorstellen, dass dies vor Ende des Jahres geschieht, wenn man davon ausgeht, dass unser Ziel hier dasselbe ist wie bei jeder Vakzine, nämlich einen klaren Sicherheits- und Wirksamkeitsstandard zu gewährleisten.
Unternehmen in der Verantwortung
Topol: Für jede dieser Phase-3-Studien gibt es ein DSMB, also eine multidisziplinäre Gruppe mit Personen, die Erfahrung mit klinischen Studien haben, Biostatistiker, Bioethiker, Immunologen, Impfstoffspezialisten und Virologen. Dieses große Team überprüft verblindete Daten – und hat einen vordefinierten Zeitpunkt dafür. Außerdem gibt es Stoppregeln, die im Voraus sowohl für die fehlende Wirkung als auch für die erwünschte Wirksamkeit festgelegt worden sind.
Aber kürzlich sagte der CEO von Pfizer, dass man die Wirksamkeit mit sehr kleinen Fallzahlen in den Placebo- und Impfstoffgruppen nachweisen könnte; diese Zahlen scheinen mit dem, was man als Abbruchregeln bezeichnen würde, völlig unvereinbar zu sein.
Es geht ja darum aufgrund dieser Programme einen Impfstoff an Dutzende Millionen Menschen zu verabreichen. Und das soll dann gestützt auf 100 Infektionsereignisse geschehen?
Offit: Die NIH ACTIV Group wurde von Francis Collins zusammengestellt, um Vorschläge zu erarbeiten, wie diese Studien aussehen sollten. Ein Statistiker der University of Washington hat sich dies angesehen. Nach seiner Analyse sind wohl mindestens 150 oder 160 erkrankte Personen in der Placebo-Gruppe nötig, um zu sagen, dass es sich um eine statistisch signifikante Beobachtung handelt – vorausgesetzt, wenn man davon ausgeht, dass Sie nur eine Handvoll oder weniger erkranke Personen in Ihrer Impfstoffgruppe haben.
Ich hoffe, dass dies die Abbruchregeln sind. Und dass die Regel nicht darauf basiert, dass sie 10 kranke Menschen in der Placebo- und 2 in der Impfstoff-Gruppe haben – Zahlen, die viel zu klein wären, um Aussagen zur statistischen Signifikanz zu machen.
Topol: Der CEO von Pfizer sprach tatsächlich von weniger als 100 Ereignissen insgesamt, wobei der Unterschied zwischen Impfstoff- und Placebo-Gruppe mindestens 50% betragen müsse. Mir erscheinen sogar 160 Erkrankte als kleine Zahl für eine Stopp-Regel, wenn so viel auf dem Spiel steht, oder?
Offit: Ich denke, man könnte sich nur vorstellen, mit 160 Fällen aufzuhören, wenn Sie praktisch keine Fälle in Ihrer Impfstoffgruppe haben.
Topol: Und um das klarzustellen, denn das ist wichtig, wir sprechen hier nicht nur von einer PCR-positiven milden Infektion. Es muss sich um eine mittelschwere bis schwere Erkrankung handeln, um als Ereignis zu gelten, richtig?
Offit: Das ist richtig.
Wie unabhängig sind die Forscher?
Topol: Der andere Teil dieser Geschichte ist, dass ein Data Safety Monitoring-Board dem Unternehmen gegenüber nicht berichten soll. Es soll nur den Studienleitern Bericht erstatten. Wie unabhängig sind diese Forscher derzeit wirklich?
Offit: Historisch gesehen berichtet ein DSMB an die jeweilige Firma. Sie gehen zum Unternehmen und sagen: „Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem man statistisch gesehen argumentieren könnte, dass der Impfstoff wirksam ist.“ Das Unternehmen hat dann die Möglichkeit, wenn es will, die Studie zu stoppen. Doch ist das eigentlich unüblich.
Topol: Das ist interessant, denn bei Studien, bei denen ich beteiligt war, wurde das Unternehmen nicht aktuell unterrichtet. Erst nachdem die Wissenschaftler alle Informationen des DSMB geprüft hatten, gab es eventuell eine Diskussion mit dem Unternehmen. Das ist ein interessanter Unterschied.
Nun lassen Sie uns über den Ausschuss sprechen, in dem Sie sitzen, nämlich das FDA Advisory Committee, richtig? Das ist das Komitee, das am 22. Oktober tagen wird und vom FDA Commissioner einberufen wurde, der dessen Empfehlungen aber nicht befolgen muss. Er kann sich darüber hinwegsetzen, wenn er will. (Anmerkung der Redaktion: Es wird erwartet/befürchtet, Trump könne darauf drängen, nach dem FDA-Meeting eine rasche Impfstoff-Zulassung zu bekommen, um seine Wahl-Chancen am 3. November zu erhöhen. Der FDA-Commissioner gilt als Trump-Anhänger .) Können Sie uns etwas über den Ausschuss erzählen?
Offit: Wie das DSMB ist der Ausschuss unabhängig von der Regierung und unabhängig von der Firma. Es sind Akademiker, die Daten betrachten und Empfehlungen aussprechen. Dasselbe gilt für die Impfstoffberatung der FDA. Sie ist unabhängig von der Regierung und von Unternehmen. Wir werden von keinem der beiden bezahlt.
Aber wie das ACIP für die CDC gibt der Impfstoff-Beratungsausschuss der FDA nur Ratschläge. Wir können sagen: „Ich glaube, dass dieser Impfstoff oder diese Impfstoffe nicht bereit sind, der amerikanischen Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt zu werden.“ Der FDA-Beauftragte und sein Team haben dann die Möglichkeit, diesen Rat anzunehmen oder nicht anzunehmen. Sie können ihn auch ignorieren.
Ich denke, das wäre aber schwierig, weil die Öffentlichkeit dieses Treffen in Echtzeit sieht. Und wenn es Leute gibt, die sagen: „Ich glaube, so weit sind wir noch nicht. Ich würde diesen Impfstoff nicht bekommen wollen“ – dies bei einer ohnehin schon ängstlichen amerikanischen Öffentlichkeit, denke ich, würden sie sich selbst aus dem Rennen werfen, wenn sie das ignorieren würden.
Topol: Ja, das ist vernünftig. Der Punkt ist, dass wir bis zum 22. Oktober keine Phase-3-Studie abgeschlossen haben werden. Diese könnten nur dann abgeschlossen werden, wenn es eine Regel gäbe, die dies erlaubt. Auf der Grundlage dessen, was wir wissen, scheint dies aber praktisch unmöglich.
Das bedeutet, dass alle Daten, die bei Ihrem Treffen am 22. Oktober diskutiert werden, auf einem noch verblindeten, laufenden Zwischenverfahren beruhen, richtig?
Offit: Solange der Code [der Studie, etwa zur verblindeten Randomisierung, Anm. d. Übers.] nicht vom DSMB gebrochen wird – gebrochen, weil sie glauben, dass sie einen Standard für Wirksamkeit und Sicherheit erfüllt haben – werden wir diese Daten nicht sehen.
Die einzige Möglichkeit, wie wir diese Daten sehen könnten, wäre, wenn das DSMB sagen würde: „Ich denke, wir sind gut.“ Und dann würden sie an das Unternehmen herantreten, denn die Firma bringt den Impfstoff letztendlich auf den Markt. Schlussendlich ist es deren Reputation. Ich möchte gern glauben, dass es kein Interesse gibt, dass ein Unternehmen einen Impfstoff auf den Markt bringt, der unsicher oder unwirksam ist. Viele Firmen stellen Impfstoffe her, international, und das würde alle beschämen.
Topol: Es steht eine Menge auf dem Spiel.
Offit: Ja. Eine weitere Option für das Treffen im Oktober ist, dass wir zunächst diskutieren, welche Art von Daten wir benötigen, um den Impfstoff empfehlen zu können. Wollen wir, dass es Empfehlungen für verschiedene Subgruppen gibt? Für Personen, die über 65 Jahre alt sind, für Personen, die Komorbiditäten haben, usw.? Welche Art von Daten wollen wir? Dann könnte die FDA für diese Jahr weitere Sitzungen anberaumen.
Notfallzulassungen – der falsche Weg
Topol: Nun, das bringt mich zu unserem Freund Anthony (Tony) Fauci, (Anmerkung: renommierter US-Immunologe und Berater der US-Regierung während der Pandemie), der kürzlich auf CNN über die Möglichkeit einer unmittelbar bevorstehenden Notfallzulassung (Emergency Use Authorization, EUA) für einen Impfstoff vor dem Abschluss einer Phase 3-Studie sprach.
Tony sagte im Grunde genommen, dass er der FDA vertraue, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Meine Sorge ist, dass die FDA jetzt beim Rekonvaleszenten-Plasma bereits Effekthascherei betrieben hat. Davor hatte sie eine EUA für Hydroxychloroquin erteilt, die sie widerrufen musste. In keinem der beiden Fälle gab es ausreichende Daten, die dies unterstützten.
Warum sollten wir also darauf vertrauen, dass die FDA ihre Entscheidung über einen Impfstoff nicht treffen wird, bevor eine Phase 3-Studie abgeschlossen ist? Die FDA hat sich seit Beginn dieser Pandemie nicht gerade mit konsistenten, verlässlichen, wissenschaftlich fundierten und evidenzbasierten Entscheidungen hervorgetan.
Offit: Ich glaube, Sie haben Recht. Hydroxychloroquin hätte niemals eine EUA erhalten dürfen. Es gab keine Beweise, die zeigten, dass es funktioniert. Wir wussten schon früh, dass es Herzrhythmusstörungen verursachen kann. Das war ein Fehler, und es wurde zurückgezogen.
Das Gleiche denke ich über das Rekonvaleszenten-Plasma. Es hätte nie zugelassen werden dürfen. Ich meine, die Daten unterstützen eine Anwendung nicht. Sowohl Dr. Collins als auch Fauci hatten, bevor die EUA bewilligt wurde, gesagt, sie seien nicht der Meinung, dass die Informationen dafürsprächen. Seit die EUA bewilligt wurde, haben die NIH ein Paper veröffentlicht, in dem sie schreiben, dass sie nicht glauben, dass es funktioniert.
Das sind gleich 2 Fehlschläge. In beiden Fällen handelte es sich aber um therapeutische Produkte, die Menschen gegeben wurden, die bereits krank waren. [Zum Impfstoff:] Ich ziehe es vor, darauf zu vertrauen – und ich bin ein ewiger Optimist –, dass wir für einen Impfstoff, der ja gesunden Menschen gegeben wird, von denen die allermeisten niemals an diesem Virus sterben werden, viel höhere Sicherheitsstandards einhalten werden.
Welche Risiken bringen SARS-CoV-2-Vakzine mit sich?
Topol: Nun, mir gefällt Ihr Optimismus, und es ist wirklich gut, jetzt etwas von diesem Gefühl zu teilen.
Wir haben noch nicht genug über Sicherheitsaspekte gesprochen, bei denen es nicht nur um die unmittelbare Reaktion auf die Injektion geht, sondern langfristige Probleme wie ein ungünstiger Effekt auf die Immunantwort, wenn Menschen, die geimpft wurden, mit dem natürlichen Erreger in Kontakt kommen.
Ich spreche z.B. von der Antikörper-abhängigen Verstärkung, von Immunkomplex-vermittelten Reaktionen. Sind Sie besorgt über solche Risiken, deren Inzidenz so gering ist, so dass Sie Tausende von Menschen brauchen, um sie zu erkennen?
Offit: Ich beschäftige mich schon länger intensiv mit solchen Fragen. Was mich dabei am meisten beunruhigt, ist eine mögliche impfstoff-induzierte Immunpathologie. Zur Erklärung: Denken Sie zurück an die Masern- und RSV-Impfstoffe der 1960er-Jahre: Das waren 2 inaktivierte Impfstoffe, die, wenn sie den Menschen verabreicht wurden, sie tatsächlich in eine schlechtere Lage versetzten.
So war bei Kindern, die den inaktivierten RSV-Impfstoff erhielten, die Wahrscheinlichkeit höher, bei einer späteren Exposition gegenüber dem Wildtyp-Virus mit Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert zu werden und zu sterben – dies im Vergleich zu ungeimpften Kindern. Dasselbe galt für den inaktivierten Masernimpfstoff, der tatsächlich eine Zeit lang ein lizenziertes Produkt war, und der atypische Masern mit Lungenentzündung und vermehrten Krankenhausaufenthalten verursachte.
Beide Viren verfügten über Fusionsproteine, die sie zur Verschmelzung mit der Zelle für den Eintritt verwenden. Sie gelangen also nicht wie üblich über Anheftung und anschließenden Transport per Endozytose in die Zelle. Die Sorge war, dass während der Impfstoffherstellung schon eine Post-Fusionskonfiguration entsteht. Menschen würden also mit etwas geimpft, das sie normalerweise nicht sehen würden, wenn sie dem Wildtyp-Virus ausgesetzt sind.
Zumindest war die immunpathologische Reaktion in diesen Situationen eine so genannte Th2-Antwort, die mit einem anderen Satz an Zytokinen in Verbindung gebracht wird als die Th1-Antwort. Wissenschaftler sind sich dieses Problems bewusst. Wenn man die Publikationen liest, die veröffentlicht werden, sogar in Studien der Phase 1, dann schauen Leute immer auf diese T-Helferzellen-Antwort und darauf, ob sie eine Th1- oder Th2-Antwort auslöst. Das beschäftigt die Forscher also.
Was die antikörper-abhängige Verstärkung betrifft – was bekanntlich ein Problem beim Dengue-Impfstoff war –, so induziert der Impfstoff, statt neutralisierende Antikörper zu bilden, eine verbesserte Aufnahme des Virus in die Zellen. Auch hier geht es um neutralisierende versus bindende Antikörper und deren Langlebigkeit.
Aber man wird erst von solchen seltenen unerwünschten Ereignissen erfahren, wenn die neuen Impfstoffe auf dem Markt sind, denn selbst im besten Fall werden sie an 20.000 oder 30.000 Menschen getestet, nicht aber an 20 Millionen oder 30 Millionen Menschen. Sie werden also erst nach der Zulassung von seltenen unerwünschten Ereignissen erfahren. Aber es gibt Systeme wie den Vaccine Safety Datalink, um dies zu erfassen. Und die CDC ist sich dessen sicherlich sehr wohl bewusst und verfügt über Systeme, um danach zu suchen, sobald der Impfstoff auf den Markt kommt.
Topol: Nehmen wir also an, Sie haben damit begonnen, diesen Impfstoff zu verabreichen, sobald er zugelassen wird, wahrscheinlich Anfang nächsten Jahres, wenn alles ordnungsgemäß geschieht. Aber es wird nicht viele Menschen in den Phase-3-Studien geben, die bereits früher Infektionen hatten, oder?
Offit: Es ist wahr, dass Menschen mit früherer Infektion nicht ausgeschlossen werden. Zwar bekommt jeder einen Antikörpertest, wenn er sich für eine dieser Impfstoffstudien einschreibt. Aber unabhängig davon, ob der Test positiv oder negativ ist, werden die Probanden trotzdem einbezogen. Das ist gut so, denn es entspricht dem Vorgehen in der Praxis, wenn wir den Impfstoff einführen – auch dann können wir nicht ausschließen, dass es bereits Kontakt mit dem Virus gab.
Topol: Einige Teilnehmer an diesen Studien hatten also bereits eine frühere Infektion.
Offit: Jackie Miller sagte dem ACIP letzte Woche, dass die Rate niedrig sei, sie betrage etwa 1%.
Topol: Das ist sehr niedrig, wenn alle Modelle darauf hindeuten, dass 13-14% der Menschen in den Vereinigten Staaten bereits eine Corona-Infektion hatten. Und diese Menschen könnten eine andere Immunantwort haben als die Menschen, die dem Virus gegenüber naiv sind. Ist das eine berechtigte Sorge?
Offit: Ich denke, man sollte das wirklich im Auge behalten. Wenn wir uns Phase-3-Studien ansehen, werden wir wissen, wer anfangs antikörper-positiv war und wer nicht. In vielerlei Hinsicht ist es eine gute Sache, dass wir diese Menschen in die Studien einbeziehen, denn das ist der natürlichen Situation ähnlich.
Topol: Worüber machen Sie sich noch Gedanken in puncto Sicherheit, etwa bei den neuen mRNA-Impfstoffen?
Offit: Bei mRNA-Impfstoffen ist die mRNA selbst ein sicheres Molekül. Wir alle haben mRNA in unserem Körper; sie wird sehr schnell abgebaut. Aber weil es sich um ein so labiles Molekül handelt, ist es in einem komplexen Lipidtransportsystem verkapselt, das reaktionsfähig ist. Wenn man Menschen mit Lipid-haltigen Vakzinen impft, bekommen sie Fieber, gelegentlich auch hohes Fieber. Und wenn Sie einen fieberauslösenden Wirkstoff verabreichen, könnten Sie jede Art von Immunkrankheit entweder auslösen oder verschlimmern. Das ist also ein Problem.
Dann gibt es replikationsdefekte Virusimpfstoffe, etwa die replikationsdefekten Affen-Adenoviren, die von AstraZeneca hergestellt werden. Außerdem gibt es das replikationsdefektive Ad26, das von Johnson & Johnson verfolgt wird, und das replikationsdefektive Ad5, das sowohl von der russischen als auch von der chinesischen Gruppe untersucht wird.
Hier ist die gute Nachricht, dass jede dieser Vakzine replikationsdefekt ist, was bedeutet, dass das Virus sich nicht selbst reproduzieren und keinen Schaden anrichten kann. Die schlechte Nachricht ist, dass man wirklich nur eine Zelle pro Viruspartikel erreicht, um das Protein herzustellen, an dem man interessiert ist, nämlich das Coronavirus-Spike-Protein. Man gibt also eine Menge Virus. Ich glaube, laut einem russischen Paper, das am 4. September erschien, wurden 100 Milliarden Viruspartikel verabreicht.
Wissen Sie, es war ein replikationsdefektes Adenovirus, das Jesse Gelsinger gegeben wurde: der erste Todesfall in direktem Zusammenhang mit einer Gentherapie.
Topol: Ich hatte vergessen, dass es sich um ein defektes Adenovirus handelte.
Offit: Damit steht im Raum, dass man eine massive Zytokin-Antwort auslösen könnte, wie es bei Jesse Gelsinger der Fall war. Jetzt haben wir zwar monoklonale Antikörper, die gegen Interleukin-6 gerichtet sind, wie Tocilizumab. Solche Therapien hatten wir damals nicht, deshalb ist Jesse Gelsinger leider gestorben. Aber man fragt sich immer, wenn man so viele Viruspartikel verabreicht, ob man eine derartige massive Zytokin-Reaktion auslösen könnte.
Studienteilnehmer sollten die gesamte Bevölkerung widerspiegeln
Topol: Sicherheit ist also etwas, über das wir nicht wirklich Bescheid wissen werden, wenn die Studien, sagen wir im 1. Quartal des nächsten Jahres, abgeschlossen sind. Das gilt vor allem angesichts der kleinen Zahl von Teilnehmern, die bereits früher Infektionen hatten, und bei denen die Sorge um ungewöhnliche Reaktionen größer ist – und die man damit genauer beobachten muss.
Offit: Ich denke, das trifft auf jedes Medizinprodukt zu. Sie können mit einiger Sicherheit sagen, dass Sie eine eher nicht so häufige schwerwiegende Nebenwirkung in einer Phase-3-Studie ausschließen können. Aber Sie können eine sehr seltene Nebenwirkung lässt sich nicht ausschließen. Wenn man von Phase 1 über Phase 2 zu Phase 3 übergeht, von 20 bis 100 über hunderte bis zu zehntausenden Menschen, verringert man die Unsicherheit. Aber man beseitigt sie niemals.
Topol: Richtig, aber ein anderes Problem ist, dass die Menschen in diesen Studien nicht sehr repräsentativ für die US-Bevölkerung sind; es handelt sich weitgehend um eine weiße Bevölkerung. Unterrepräsentierte Minderheiten sind nicht gut vertreten, ebenso wenig wie ältere Menschen oder Kinder.
Offit: Ich denke, dass diese Impfstoffe zunächst nicht für jemanden empfohlen werden können, der 65 Jahre alt oder älter ist, es sei denn, es gibt klare Sicherheits- und Wirksamkeitsdaten für diese Altersgruppe. Gleichermaßen denke ich, wenn wir sie an Personen mit bestimmten Komorbiditäten verabreichen, von denen eine der häufigsten die Adipositas ist, dann würden Sie sich wünschen, dass diese Personen in diesen Studien angemessen vertreten sind.
Kinder werden nicht an den ersten Studien teilnehmen; jeder Teilnehmer an diesen ersten Studien ist älter als 18 Jahre. Ich bin mir also sicher, dass diese Impfstoffe auf den Markt kommen werden, bevor wir sie überhaupt an Kindern getestet haben. Dann stellt sich die Frage: Wie testen Sie sie an Kindern, wenn Sie Produkte haben, die zugelassen sind und sich als wirksam erwiesen haben?
Es ist schwierig, placebo-kontrollierte Studien durchzuführen, wenn man weiß, dass man einen Impfstoff hat, der funktioniert. Ich stelle mir also vor, das Ganze würde sich mit einem Stepped-Wedge-Design abspielen – so wie das bei den Ebola-Impfstoffen in Westafrika abgelaufen ist. Das heißt, man beginnt mit der Verabreichung des Impfstoffs in dem Wissen, dass man ihn nicht allen auf einmal verabreicht.
[Beim Stepped-Wedge-Design werden Teilnehmer Clustern zugeordnet, beispielsweise geographischen Regionen. Zu Beginn gehören alle Cluster der Kontrollgruppe an. Danach erhalten alle Cluster randomisiert, aber zeitversetzt, den Impfstoff; Anm. d. Übers.]
In diesem Fall können Sie die Wirksamkeit und Sicherheit erkennen, indem Sie diejenigen, die den Impfstoff erhalten haben, mit denen vergleichen, die ihn nicht erhalten haben. Es handelt sich nicht um eine prospektive, placebo-kontrollierte Studie, was bedeutet, dass es einige verwirrende Variablen gibt, aber ich denke, so würde sich das wahrscheinlich abspielen.
Topol: Zu der Gruppe mit dem höchsten Risiko gehören ja Personen über 65 Jahren. Aber wir werden am Ende der Phase 3 keine Daten haben, die ausreichen, um diese Gruppe zu bewerten?
Offit: Wenn wir in der Gruppe der über 65-Jährigen keine ausreichenden Daten haben, dann sollten die über 65-Jährigen diesen Impfstoff nicht bekommen, was schade wäre, denn sie sind diejenigen, die am ehesten an dieser Infektion sterben werden. Wir müssen diese Daten generieren.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand – das DSMB oder das Vaccine Advisory Committee der FDA oder die Entscheidungsträger der FDA – es jemals zulassen würde, dass ein Impfstoff für diese Gruppe empfohlen wird, ohne über ausreichende Daten zu verfügen.
Das Gleiche empfinde ich für Minderheiten. Ich meine, man kann Minderheiten nicht davon überzeugen, diesen Impfstoff zu bekommen, wenn sie nicht in diesen Studien vertreten sind. Andernfalls werden sie sich als Versuchskaninchen fühlen, und das ist verständlich.
Öffentliches Vertrauen schaffen
Topol: Das bringt uns zum Vertrauen der Öffentlichkeit und zur Tatsache, dass die Bereitschaft, sich auch impfen zu lassen, wichtig ist. Denn wenn es großes Misstrauen gibt, werden wir nie das Niveau der Immunität in der Bevölkerung erreichen.
Offit: Es ist schwer, das zu fördern, wenn jetzt keine Daten vorliegen. Wenn wir erst einmal die Eigenschaften dieser Impfstoffe kennen, wird es viel einfacher sein, zu erklären, was wir wissen und was wir nicht wissen. Denn ich glaube wirklich, dass es eine Frage des Erwartungsmanagements sein wird.
Nehmen wir an, wir haben einen Impfstoff, der theoretisch zu 75% gegen mittelschwere bis schwere Formen wirksam ist, und wir wissen, dass er an 20.000 Menschen verabreicht wurde und dass ihre Gruppe vertreten war. Und nehmen wir an, das Virus tötet immer noch 1.000 Menschen pro Tag und führt dazu, dass Menschen ins Krankenhaus eingeliefert werden und leiden. Es ist nie eine Frage, wann man alles weiß. Die Frage ist, wann wissen wir genug? Wann wissen wir genug, um sagen zu können, dass die Vorteile eines Impfstoffs theoretische Risiken überwiegen?
Man muss auch dafür sorgen, dass die Leute erfahren, was man nicht weiß. Offen ist, wie lange der Schutz anhalten wird. Das weiß man erst hinterher. Sie wissen nicht, ob er eine seltene Nebenwirkung verursacht. Das werden Sie erst hinterher in Erfahrung gebracht haben. Aber es gibt Systeme, mit denen man beides herausfinden kann. Ich denke nur, dass wir ehrlich und transparent darüber sein müssen, was wir wissen und was wir nicht wissen.
SARS-CoV-2-Pandemie: Nicht nur an den Impfstoff denken…
Topol: Wir haben viel besprochen, Paul. Haben wir etwas Wichtiges übersehen?
Offit: Ich erzähle Ihnen noch, was mich nachts bei diesem speziellen Thema wachhält. Wir haben 2 Möglichkeiten, dieses Virus zu stoppen: Die eine sind hygienische Maßnahmen – Gesichtsmasken, soziale Distanzierung, Händewaschen – und die andere ist der Impfstoff. Mit diesen beiden werden wir in der Lage sein, dieses Virus unter Kontrolle zu bringen. Aber wir brauchen wirklich beides.
Was mich beunruhigt ist, dass ich mich für hygienische Maßnahmen entscheiden würde, wenn ich gefragt würde, welches das stärkere Instrument ist. Ich meine, wenn ich eine Maske trage und einen Meter von Ihnen entfernt stehe und Sie eine Maske tragen und einen Meter von mir entfernt stehen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich das Virus von Ihnen bekomme oder Sie von mir, gleich Null.
Sie haben zwei Dinge, die dafür sprechen. Erstens: Sie haben eine Maske, die verhindert, dass sich die kleinen Tröpfchen des Virus sehr weit ausbreiten können. Und zweitens, selbst wenn ich keine Maske tragen und einen Meter entfernt stehen würde, stehen die Chancen gut, dass Sie es nicht bekommen würden.
Topol: Und zusätzlich: Falls Sie es bekommen, bekommen Sie eine geringere Dosis des Virus, was wichtig ist.
Offit: Das ist richtig. Sie könnten eine leichtere Erkrankung bekommen.
Wenn wir andererseits einen Impfstoff haben, der zu 75% gegen mittelschwere bis schwere Formen wirksam ist, bedeutet das, dass einer von 4 Menschen immer noch krank werden kann, auch sehr krank. Es bedeutet auch, dass wahrscheinlich ein größerer Prozentsatz als diese 25% eine leichte Infektion oder eine asymptomatische Infektion bekommen könnten, bei der sie immer noch ansteckungsfähig sein könnten.
Wir haben Forscher bei den Studien gebeten, nicht nur zu prüfen, ob Impfstoffe vor mittelschweren bis schweren Formen schützen, sondern auch, inwieweit sie eine Ausscheidung des Virus verringern. Ich denke, das ist wichtig, zu wissen. Aber viele Menschen haben eine unrealistische Erwartung an diese Impfstoffe. Sie denken, es handele sich um Allheilmittel, um Wunderwaffen, die alles verschwinden lassen.
Wenn Bürger unrealistische Erwartungen haben, so dass sie denken: „Ich habe den Impfstoff bekommen, ich brauche keine Maske zu tragen. Ich brauche keine soziale Distanz. Ich kann mich auf risikoreiche Aktivitäten einlassen“, dann haben wir eine der wichtigsten Säulen verloren, um dieses Virus unter Kontrolle zu bringen. Am Ende könnte das sogar zu einem kritischen Wendepunkt werden – in die falsche Richtung.
Topol: Nun, Sie sprechen einen kritischen Punkt an, nämlich, dass der Impfstoff die Zahl an asymptomatischen Überträgern tatsächlich erhöhen könnte. Denn sie haben das Virus immer noch in der Nase und in den oberen Atemwegen. Und deshalb wird diese Koppelung von kontinuierlicher Hygiene – Masken, Abstand und diese anderen Maßnahmen – so lange wichtig sein, bis wir eine sehr hohe Immunität der Bevölkerung erreicht haben, nicht wahr?
Offit: Dafür gibt es eigentlich eine Formel. Wenn Sie einen zu 75% wirksamen Impfstoff bei Viren mit signifikanter Ausscheidung haben, dann müssten Sie etwa zwei Drittel der amerikanischen Bevölkerung immunisieren, um das R0 auf weniger als 1 zu senken, d.h. die Ausbreitung zu stoppen, was Sie ja wollen.
Denn Sie sprechen von Impfstoffen mit 2 Dosen – zumindest denjenigen, die gerade in der Testung am weitesten sind – und dann sprechen Sie von 400 Millionen Dosen. Das werden wir natürlich nicht haben, wenn die Impfstoffe erstmals auf den Markt kommen.
Topol: Das sind sehr praktische Aspekte. Nun, ich möchte nicht, dass Sie noch mehr Schlaf verlieren. Ich verliere in diesen Tagen sehr viel Schlaf.
Paul, es war mir ein echtes Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen. Ich werde mich irgendwann im Oktober noch einmal bei Ihnen melden, um mich auf den neuesten Stand zu bringen, denn es ist viel los, und es ist schwer, da mitzuhalten. Sie sind seit Jahren die wichtigste Person für mich, um eine realistische Einschätzung zu erhalten, selbst bei diesem Hype. Ich danke Ihnen vielmals, Paul. Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen.
Offit: Es war mir ein Vergnügen.
Dr. Eric J. Topol, Chefredakteur von Medscape, gehört zu den 10 meistzitierten Forschern in der Medizin und schreibt häufig über Technologie im Gesundheitswesen, unter anderem in seinem neuesten Buch ‚Deep Medicine: Wie künstliche Intelligenz das Gesundheitswesen wieder menschlich machen kann.‘
Dr. Paul A. Offit ist Direktor des Vaccine Education Center am Children's Hospital of Philadelphia und Maurice R. Hilleman Professor für Impfstoffkunde an der Perelman School of Medicine an der University of Pennsylvania. Als international anerkannter Experte für Virologie und Immunologie hat er mehr als 150 Arbeiten in medizinischen und wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht und hat zusammen mit anderen Forschern den Rotavirus-Impfstoff RotaTeq® entwickelt.
Dieser Beitrag wurde von Michael van den Heuvel aus www.medscape.com übersetzt.
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Diesen Artikel so zitieren: Corona-Vakzine in Warp-Geschwindigkeit? US-Experte spricht über seine größten Bedenken und über unrealistische Erwartungen - Medscape - 15. Sep 2020.
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