Rund 7 Monate sind vergangen, seit das Bundesverfassungsgericht (BVG) das strafrechtliche Verbot einer geschäftsmäßigen Sterbehilfe (§ 217 Strafgesetzbuch, StGB) gekippt hat. Jetzt geht offenbar ein tiefer Riss durch die Palliativmedizin. Das zeigt eine zum Teil hitzig geführte Debatte auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). Bei der Veranstaltung „Nach der Abschaffung von § 217 StGB – wo stehen wir?“ stritten Befürworter und Kritiker des BVG-Urteils.
Zustimmung kam vom Wittener Palliativmediziner Dr. Matthias Thöns und vom Bonner Strafrechtler Prof. Dr. Torsten Verrel. Vertreter der DGP, nämlich Präsident Prof. Dr. Lukas Radbruch aus Bonn und Geschäftsführer Heiner Melching aus Berlin, bekräftigten ihre ablehnende Haltung.
Das Recht, sich das Leben zu nehmen, als Teil menschlicher Autonomie
Zum Hintergrund: Im Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht den § 217 StGB gekippt und entschieden, dass das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben die Freiheit einschließe, sich das Leben zu nehmen. Das Gericht hat dieses Recht nicht auf bestimmte Lebens- oder Krankheitslagen beschränkt.
Eingeschlossen sei das Recht, beim Suizid Hilfe von Dritten in Anspruch zu nehmen, wenngleich niemand gezwungen werden könne, Suizidbeihilfe zu leisten, so die Richter. Zudem sei eine verbesserte Palliativversorgung nicht geeignet, den freien Entschluss zur Selbsttötung zu beschränken.
„Meine Position ist klar – zusammen mit 150 weiteren Kollegen habe ich mich gegen den § 217 ausgesprochen“, erklärte Verrel, der angesichts des nun grundrechtlichen Schutzes des Suizids von einem „Hammer-Urteil“ des BVG sprach. „Der Staat darf sich laut BVG kein Urteil darüber anmaßen, ob Suizidwünsche rechtens sind oder nicht“, betonte Verrell. Die Entscheidung des BVG sei richtig. „Mit dem Strafrecht sollte man sich in so wichtigen Bereichen enthalten.“
Mit dem BVG-Urteil stehe man heute da, wo man schon gewesen sei, bevor der § 217 StGB im Jahr 2015 eingeführt worden wäre: „Der Suizid ist nicht strafbar und damit auch nicht die Hilfe dazu“, so Verrel. „Warum die Aufregung?“
Unausweichlich sei nun der Umstand, dass das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) geändert werden müsse, damit Ärzte, die Sterbewilligen künftig tödliche Substanzen gäben, sich nicht strafbar machten. Außerdem müsse das ärztliche Berufsrecht geändert werden. Denn § 16 der Musterberufsordnung Ärzte verbiete Ärzten die Hilfe zur Selbsttötung.
Todeswünsche sind oft ambivalent
Der Palliativmediziner Dr. Matthias Thöns aus Witten war einer der Ärzte, die vor dem BVG geklagt hatten. „Weil ich mich an meiner Berufsausübung gehindert fühlte“, erklärte er auf dem DGP-Kongress. Die Argumente für § 217 StGB seien fast alle deutlich widerlegt, sagte Thöns in seiner Stellungnahme: der angebliche Vertrauensverlust zum Arzt, wenn ihm die Suizidbeihilfe erlaubt sei, der befürchtete Dammbruch oder die Aussage, dass eine Leidenslinderung auch bei Schwerstkranken immer funktioniere.
„Einzig die Ambivalenz der Sterbewünsche ist tatsächlich ein Argument für den § 217“, erklärte Thöns. „Denn Sterbenskranke, die sich etwa während der Woche alleine und verzweifelt den Tod wünschen, blühen oft auf, wenn am Wochenende zum Beispiel die Enkel kommen. Dann wollen sie wieder leben und reden.“
Umfragen zufolge seien Ärzte mehrheitlich gegen das strafrechtliche Verbot der Sterbehilfe. „Es hat sich gezeigt: Je näher Ärzte am leidenden Patienten sind, umso eher lehnen sie § 217 ab“, sagte Thöns. „Wenn ein Arzt die Suizidhilfe nicht bietet, werden es andere tun.“
Ganz anders argumentierte Heiner Melching, Geschäftsführer der DGP. Er verwies darauf, dass 2015 das Hospiz- und Palliativgesetz beschlossen worden sei. Im Zuge der Diskussion über dieses Gesetz „wurde immer betont, dass bei guter Palliativmedizin keine Sterbehilfe nötig sei“, so Melching. „Ich erlebe mit Bedauern, dass um dieses Thema eine Lagerbildung auch in der DGP eingesetzt hat, die die Kommunikation erschwert.“
Offenbar fürchtet Melching auch, dass die Palliativmedizin marginalisiert werden könnte, wenn der Suizid als schnellerer und womöglich kostengünstigerer Weg angeboten wird.
Mittlerweile kämen 1 bis 2 Anfragen pro Woche wegen eines tödlichen Medikaments, berichtet der DGP-Geschäftsführer. „Die meisten wollen die Pille aber nicht für gleich, sondern für irgendwann. Sie wollen die Pille für den Nachttisch“, sagte Melching. Er warnte davor, eine potentiell tödliche Waffe abzugeben. „Da werde ich unruhig.“ Wenn die tödlichen Mittel zudem relativ frei verfügbar werden, bestehe die Gefahr, dass der assistierte Suizid zur Selbstverständlichkeit werde.
Besorgt äußerte sich Melching auch zur fehlenden Reichweitenbeschränkung des BVG-Urteils. Es könne zu Kollateralschäden kommen, wenn etwa Eltern ein Kind verloren hätten und ihm dann ohne weiteres mit Hilfe eines entsprechenden Mittels folgen wollten.
Assistierte Suizid bei Liebeskummer?
In der Tat werde der Umgang mit Sterbewünschen nirgends gelehrt, warf Moderator Prof. Dr. Raymond Volz aus Köln ein. „Auch nicht in der Palliativversorgung. Das muss man nachholen!“
Auch DGP-Präsident Prof. Dr. Lukas Radbruch sieht den Wegfall des § 217 StGB kritisch. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte der DGP geschrieben, seiner Ansicht nach müsse im Falle des assistierten Suizids Freiwilligkeit, Dauerhaftigkeit und Ernsthaftigkeit des Suizidwunsches gewährleistet werden. Aber wie?
„Da gibt es keine einfache Lösung“, so Radbruch, etwa bei der Dauerhaftigkeit des Suizidwunsches. Patienten mit plötzlichen Querschnittslähmungen könnten sich rasch den Tod wünschen, aber nach einiger Zeit der Gewöhnung an die Behinderung doch wieder Lebensmut fassen.
Darum empfahl Radbruch, mindestens 1 Jahr zwischen der Begutachtung von Patienten und die Ausführung eines assistierten Suizids verstreichen zu lassen. Bei schweren, lebensbegrenzenden Erkrankungen sollten laut Radbruch 30 Tage zwischen Begutachtung und Ausführung liegen.
Anders lägen die Dinge bei der Ernsthaftigkeit des Suizidwunsches. Denn das BVG habe klar gesagt, die Motivation des Suizidwilligen sei nicht zu überprüfen. „Die Motivation müsste man dann so hinnehmen, Punkt, aus, fertig!“ so Radbruch.
Das gelte im Zweifel auch für Menschen mit Liebeskummer. „Lauf Verfassungsgericht darf ich diese Motivation nicht anzweifeln.“ Die DGP schlägt deshalb spezielle Ethikgremien vor, welche die Ernsthaftigkeit eines Suizidwunsches prüfen könnten.
Schließlich müsse klargestellt werden, ob die Suizidassistenz überhaupt eine ärztliche Aufgabe sei, so Radbruch weiter. „Das müsste in der zu ändernden Berufsordnung klargestellt werden.“ Er selbst hat eine deutliche Meinung: „Der ärztlich assistierte Suizid gehört nicht zu den ärztlichen Aufgaben. Aber zu ihnen gehört, sich respektvoll mit den Todeswünschen von Patienten auseinanderzusetzen.“
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: „Wenn ein Arzt Suizidhilfe nicht bietet, werden es andere tun“ – Palliativmediziner debattieren Folgen des BVG-Urteils - Medscape - 15. Sep 2020.
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