„Die Medikamentenbranche zielt nur noch auf Gewinn ab“, „Die Pharmaindustrie beeinflusst die Köpfe der Ärzte“, sie sei „reich und mächtig wie nie zuvor“: Der Arte-Film „Big Pharma – Die Allmacht der Konzerne“ zeichnet ein düsteres Bild der Branche. Und auch die Ärzteschaft kommt nicht immer gut weg. Allerdings sagen auch viele: Ohne die Industrie geht es nicht [1].
Hauptvorwurf: zu hohe Preise
Die Autoren haben für den Film über 1 Jahr recherchiert und mit vielen Forschern und Ärzten gesprochen. Die meisten Pharmaunternehmen lehnten hingegen ein Interview ab und äußerten sich nur schriftlich. Der Film erhebt 3 Vorwürfe gegen Unternehmen: Sie verschwiegen Nebenwirkungen, verlangten zu hohe Preise und beeinflussten Ärzte.
Der Hauptvorwurf sind zu hohe Preise. Erläutert wird dies unter anderem anhand von Avastin® (Bevacizumab) von Roche und Lucentis® (Ranibizumab) von Novartis. Beide seien gleich wirksam gegen altersbedingte Makuladegeneration (AMD). Doch Avastin® kostet pro Dosis nur 50 Euro (bzw. US-Dollar), Lucentis® dagegen 1.000 Euro (Frankreich) bzw. 2.000 US-Dollar (Amerika).
Avastin® war bekanntlich eigentlich ein Mittel zur Behandlung von Darmkrebs, dessen Wirkung gegen AMD eher zufällig entdeckt wurde. Lucentis® kam später auf den Markt. Heute wird aber fast nur noch das teure Mittel verordnet.
Der Grund: Roche bietet Avastin® nicht in den für die Behandlung notwendigen Spritzen an. Die beiden Unternehmen haben sich laut Film darüber abgesprochen und sind dafür in Italien auch verurteilt worden. Roche lehnte eine Stellungnahme ab und nahm nur schriftlich Stellung zu der Frage, warum es Avastin® nicht in den Spritzen gibt: „Roche entwickelt nur Medikamente für Krankheitsbilder, für die es noch keine Medikamente gibt. Für Fälle ohne alternative Therapie.“ (Alle Zitate, sofern nicht anders gekennzeichnet, stammen aus dem Film.)
Für Dr. Daniel Martin, Präsident des Cole Eye Institute an der Ophthalmology Cleveland Clinic, ist das kein Argument: „Für die Entwicklung guter Medikamente und Behandlungsmöglichkeiten brauchen wir Partner in der Pharmaindustrie. Wenn es jedoch ein anderes, genauso wirksames Medikament für 50 Dollar gibt, ist die aktuelle Preisgestaltung nicht akzeptabel.“
320.000 Euro für ein Medikament
Die neuen Gentherapien verschärfen die Dynamik noch, warnen die Autoren des Films und erläutern dies am Beispiel des neuen Leukämie-Medikamentes Kymriah® von Novartis. Kosten pro Behandlung nach ihren Recherchen: 320.000 Euro.
Auch Novartis lehnte ein Interview für den Film ab und schickte nur Schriftliches: „Der Preis unserer neuen Medikamente basiert auf dem Wert, den sie für den Patienten, das Gesundheitssystem und die Gesellschaft haben.“ Bei Kymriah® sei ja eine einmalige Behandlung genau so wirksam wie eine sonstige lebenslange. Immerhin wurde der Preis mittlerweile auf 297.666 Euro gesenkt.
Aus dem Statement von Novartis wird deutlich: Die hohen Preise erklären sich nicht durch die Entwicklungskosten. Diese trage zunehmend ohnehin die Allgemeinheit, sagt Dr. Marcia Angell, ehemalige Chefredakteurin des New England Journal of Medicine, im Film. „Die Pharmakonzerne bringen heute kaum mehr eigene Innovationen hervor. Alles Innovative kommt seit einiger Zeit aus der staatlich geförderten Forschung.“
Konzerne zahlten den staatlichen Instituten zwar Tantiemen. „Doch die sind nicht annähernd so hoch wie die Gewinne“, so Angell. Hier lässt der Film allerdings die Frage offen, warum die Universitäten oder deren ausgegliederte Start-Ups den Konzernen ihre Innovationen dann überhaupt überlassen.
VFA: Viele teure Studien enden ergebnislos
Der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) betont dazu gegenüber Medscape, dass Institute „fast immer nur die Anfänge der langjährigen Arzneimittel-Entwicklung abdecken“. Damit aus pharmazeutischen Erfindungen anwendbare Medikamente werden, brauche es Industriepartner, u.a. für die Erprobung in klinischen Studien. „Diese Erprobung ist mit Abstand die teuerste Etappe der Entwicklung. Und oft muss sie vorzeitig beendet werden, so dass sie nur Geld verbraucht hat, ohne zu einer neuen Einnahmequelle zu führen.“
Die innovative Rolle sehe man auch am deutschen Zukunftspreis des Bundespräsidenten, mit dem in den letzten Jahren mehrfach die Entwickler von Medikamenten geehrt wurden: „Fast alle arbeiteten in Unternehmen.“
Thema „verschwiegene Nebenwirkungen“
Das Thema Nebenwirkungen wird im Film unter anderem am Beispiel von Depakin®/Depakine® (Valproat) erläutert. Das Mittel gegen Epilepsie wurde über Jahrzehnte auch Schwangeren verordnet, obwohl Hinweise vorlagen, dass es zu schweren neurologischen Schäden beim Kind führen kann. Der Hersteller Sanofi – der sich den Journalisten stellte – behauptet, alle Erkenntnisse „gewissenhaft“ an die Behörden gemeldet zu haben. Leider lässt der Film auch hier offen, warum auch diese offenbar erst spät reagierten.
Jeder 5. Arzt erhält Zuwendungen der Industrie
Der Film beleuchtet aber auch die Rolle der Ärzteschaft. Nach wie vor legten nur wenige Mediziner offen, wie viel sie von Pharmaunternehmen erhalten. In Deutschland etwa sei es nur jeder fünfte. Eine verpflichtende Veröffentlichung werde durch Lobbyarbeit der Industrie verhindert.
„Pharmaunternehmen versuchen immer wieder, Ärzte mit Geld dazu zu bringen, ihre Medikamente zu verordnen“, sagt der Journalist Markus Grill. Nach seinen Recherchen bekommen rund 65.000 Ärzte in Deutschland Zuwendungen von der Industrie. Grill hat mit Kollegen die Datenbank „Euros für Ärzte“ eingerichtet, in der Patienten dies speziell zu ihrem Arzt recherchieren können. Über 100 Ärzte sind juristisch dagegen vorgegangen.
Spitzenempfänger war 2015 und 2016 Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, heute beim Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (IMIBE) der Universität Duisburg-Essen tätig. Er stellte sich einem Gespräch mit den Filmemachern – und erklärte, dass er das gesamte Geld damals an das Drittmittel-Konto seiner Universität weitergeleitet habe.
Das sei aber nicht berichtet worden, obwohl er dem Journalisten den Überweisungsträger gezeigt habe: „Das hat mich sehr gekränkt, weil ich glaube, wenn man so mit seinen Einnahmen umgeht aus der Industrie, dass sie in die Forschung reinvestiert werden, sehe ich damit kein ethisches Problem.“ Grill kontert, dass Diener dennoch einen Vorteil bekommen habe, weil er etwa Mitarbeiter einstellen konnte.
Der vfa kritisiert die Nutzung der Daten, um Ärzte „öffentlich an den Pranger zu stellen“. Die bezahlte Zusammenarbeit von Ärzten und Industrie sei sinnvoll und „an sich nicht zu kritisieren“. Zudem hätten die Medien ihre Kritik ausgerechnet auf die Ärzte fokussiert, die umfassende Transparenz gewährten, „und bestätigten damit die Haltung der Ärzte, die dazu nicht bereit waren“.
Wären Kongresse ohne Industriesponsoring bezahlbar?
Auch die Initiative „Mein Essen zahl ich selbst“ (MEZIS) kommt in dem Film zu Wort. Die Pharmaindustrie beeinflusse die „Köpfe der Ärzte“, warnt Prof. Dr. Thomas Lempert, Chefarzt in der Schlosspark-Klinik Berlin-Charlottenburg. Er sieht auch Industriesymposien auf Kongressen kritisch. Diese kämen zwar im wissenschaftlichen Gewand und böten sicherlich auch viele nützliche Informationen. „Aber am Ende geht es darum, dass das Produkt empfohlen wird und gut abschneidet.“
Diener wendet ein: Nur durch das Sponsoring der Industrie könne die Teilnehmergebühr für Kongresse so angesetzt werden, dass auch junge Ärzte teilnehmen könnten. „Wir überwachen aber die Industriesymposien sehr stark, was Redner und Inhalte anbelangt.“
Man dürfe nicht vergessen, dass die Industrie der Partner sei: „Wir können ja den Löwenanteil neuer Therapien nur zusammen mit der Industrie entwickeln.“ Aber man beiße eben nicht in die Hand, die einen füttert, kontert Lempert. „Es ist eine Illusion, dass man nicht anfällig wäre für Beeinflussungsversuche. Jeder von uns ist es.“ Kongresse würden auch ohne die Industrie nicht exorbitant teuer werden.
Pandemiemedikament als Orphan Drug
Am Ende geht der Film auch kurz auf COVID-19 ein. Berichtet wird, dass der Konzern Gilead sich gleich zu Beginn der Pandemie Remdesivir, damals noch ohne Zulassung, in 70 Ländern patentieren ließ. Entwickelt worden sei das Mittel aber mit Hilfe öffentlicher Gelder. In den USA bekam Remdesivir sogar eine Zulassung als „Orphan Drug“, mit allen Vorteilen, die eigentlich nur bei seltenen Krankheiten gelten sollen.
Der Trick: Damals gab es in den USA noch wenige COVID-19-Fälle. Nach öffentlichem Protest wurde diese Genehmigung widerrufen. „Man kann einem Medikament gegen eine globale Epidemie keinen Orphan Drug-Status geben“, sagt Olivier Maguet, Leiter einer Kampagne zu Medikamentenpreisen bei „Ärzte der Welt“.
Der vfa wirft dem Film vor, insgesamt ein verzerrtes Bild der Pharmabranche zu zeichnen. Die Autoren versammelten eine Reihe von Extrembeispielen seit 2005. „Im gleichen Zeitraum haben forschende Pharmaunternehmen mehr als 400 andere Medikamente ohne Kontroversen auf den Markt gebracht“, erklärt der Verband. Die Position der Branche sei „weit entfernt von dem, was der Titel des ARTE-Beitrags suggeriert.“
Sendetermin: 15.9.2020 20:15 Uhr auf Arte, noch bis 13.12.2020 in der Arte-Mediathek
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Diesen Artikel so zitieren: Arte-Film geht mit Ärzten und pharmazeutischen Herstellern hart ins Gericht – was ist dran an den Vorwürfen? - Medscape - 14. Sep 2020.
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