Amsterdam – In mehreren Sessions wurde beim ESC-Kongress 2020 diskutiert, mit welcher Ernährung man kardiovaskuläre Erkrankungen vermeiden oder – bei bereits manifest erkrankten Patienten – den gesunden Lebensstil unterstützen könnte. Eine einheitliche Linie gab es dabei nicht; 2 Ernährungsformen wurden in einer Pro & Contra-Session gegenübergestellt [1].
PRO Pflanzenkost: Keine Nahrung aus tierischen Quellen!
So vertrat Prof. Dr. Kim Allan Williams, Kardiologe und Präventionsmediziner am Rush University Medical Center in Chicago, Illinois, USA, vehement die These, dass nur eine „pflanzenbasierte“ – letztlich eine vegane – Ernährung vernünftig sei. Er postulierte eine „ernährungsbedingte Pandemie“, die er in ihren Auswirkungen mit der COVID-19-Pandemie verglich: Durch Fehlernährung kommt es zu Adipositas, Diabetes, Bluthochdruck, Hyperlipidämie und chronischer Entzündung, so sein Credo.
Und Fehlernährung, das heißt für Williams vor allem: Ernährung mit tierischen Produkten, aber auch mit stark verarbeitetem Getreide und Süßgetränken. Besonders ungünstig ist nach seinen Worten verarbeitetes rotes Fleisch. Aber auch Geflügel, Fisch, Eier und Milchprodukte empfiehlt er zu meiden.
Wird mit veganer Nahrung alles besser?
Williams zog zahlreiche Studien heran, um seine Aussagen zu untermauern. Darin wurde jeweils ein besonders vorteilhafter Effekt für vegetarische Ernährungsformen, vor allem für die vegane Ernährung, gezeigt.
Die Endpunkte der Studien umfassten das Körpergewicht, den Blutdruck, Typ-2-Diabetes (Prävention, Therapie, Lebensqualität), den Lipidstoffwechsel (LDL-Cholesterol, Gesamtcholesterin usw.), Entzündung (C-reaktives Protein, CRP), kardiovaskuläre Ereignisse (unter anderem im Zusammenhang mit dem Konsum von Eiern und Cholesterin), die Gesamtmortalität in der Allgemeinbevölkerung oder bei Herzpatienten (etwa nach einem Myokardinfarkt) sowie den Schlaganfall, um nur einige zu nennen.
Vergleich vegetarischer und veganer Ernährung mit vielen anderen Diäten
In einer der Studien wurde eine pflanzenbasierte Ernährung verglichen mit der „Southern Diet“. Diese ist charakterisiert durch viel Fett, frittierte Lebensmittel, Eier, verarbeitetes Fleisch und mit Zucker gesüßte Getränke (etwa Eistee). Von den aufgenommenen Erwachsenen ab 45 Jahre lebten nach 5 Jahren noch etwa 98% der Teilnehmer mit pflanzenbasierter Ernährung vs. 96% mit dem typischen „ungesunden“ Ernährungsmuster der US-Südstaaten, ohne an koronarer Herzkrankheit (KHK) zu leiden.
In einer anderen Studie war die vegane Diät gegen die von der American Heart Association empfohlene Ernährung (AHA-Diät; fett- und cholesterinarm) bei Patienten mit KHK angetreten. Hier wurde aber nicht die Mortalität, sondern der CRP-Spiegel ermittelt; er war im veganen Studienarm schon nach 8 Wochen um 32% niedriger.
Kohlenhydrate sollten laut einer Metaanalyse etwa die Hälfte (50% bis 55%) der Kalorien liefern, um die Mortalität günstig zu beeinflussen – nicht wesentlich mehr oder weniger. In derselben Studie wurde untersucht, wie sich der Austausch von Kohlenhydraten gegen andere Makronährstoffe bei Menschen, die Gewicht verlieren wollten, auswirkte.
Das Ergebnis unterschied sich je nach Quelle der Proteine und Fette: Wurden die Kohlenhydrate durch tierische Proteine und Fette (etwa von Lamm, Rind, Schwein, Huhn) ersetzt, stieg die Mortalität um 18%. Beim Austausch der Kohlenhydrate gegen pflanzliche Proteine und Fette (Gemüse, Nüsse, Erdnussbutter, auch Vollkornbrot) sank sie dagegen um 18%. Der Unterschied war jeweils signifikant.
Warum nicht einfach mediterrane Ernährung?
In den von Williams gezeigten Studien kamen die mediterrane Diät (etwa in der PREDIMED-Studie, mit viel Olivenöl oder Nüssen) und die DASH-Diät (Obst, Gemüse, Vollkorn, fettarme Milchprodukte, wenig Fett, vor allem wenig gesättigte Fettsäuren) einigermaßen gut weg.
Mit Einschränkungen: So bringe die mediterrane Diät (die auch Fisch, etwas Fleisch und Milchprodukte erlaubt) zwar im Vergleich zur „omnivoren Ernährung“ eine Verringerung der Schlaganfälle, aber keine konsistente Reduktion von Myokardinfarkt und Mortalität. Die Mittelmeerdiät sei deshalb hinsichtlich der kardiovaskulären Primärprävention „mit Vorsicht zu genießen“, meinte er.
Von vornherein schlecht bewertet wird die ketogene Diät mit wenig Kohlenhydraten, einer begrenzten Menge an Eiweiß und Gesamtkalorien und somit viel (oftmals tierischem) Fett.
Einen Link zwischen Ernährung, Darmmikrobiota und Prognose sieht Williams bei den Tri-Methyl-Amin-Oxiden (TMAO): Die Darmbakterien produzieren sie aus Cholin und Carnitin, die wiederum vor allem in Fleisch, Eiern und Milchprodukten vorkommen. TMAO gelten als ein neuer Risiko- und Prognosemarker bei Patienten mit atherosklerotischen Gefäßkrankheiten.
Williams’ Fazit: „Es gibt keine grundsätzlich sicheren tierischen Produkte für Menschen mit kardialen Risikofaktoren. Verarbeitetes rotes Fleisch – und letztlich alle tierischen Produkte in unterschiedlichem Grad – sowie Trans- und gesättigte Fette, Zucker und andere raffinierte Kohlenhydrate bringen kardiale Risiken.“
CONTRA reine Pflanzenkost: Fisch und Milchprodukte in PURE-Diät vorteilhaft!
Für eine „vernünftige“ Ernährung sprach sich auch der Referent der CONTRA-Pflanzenkost-Position, Prof. Dr. Andrew Mente, Epidemiologe an der McMaster-Universität in Hamilton, Kanada, und Leiter der PURE-Studie, aus. Mente sprach sich gegen eine Schwarz-Weiß-Sichtweise aus. So bestritt er nicht den hohen Wert einer Ernährung, die reich an Obst, Gemüse und Nüssen ist – das allein sei aber nicht genug, gab er zu bedenken. Besser sei eine ausgewogene Ernährung mit ein wenig Fleisch, die genügend Mineralien und Spurenelemente enthalte.
Passend dazu hatte Mente einen Cochrane-Review mitgebracht, der keinen eindeutigen Beleg für den Nutzen des Austauschs gesättigter (oftmals tierischer) gegen mehrfach ungesättigte (oftmals pflanzliche) Fette zeigte. „Die Befunde waren neutral“, so Mente.
Ein systematischer Review mehrerer prospektiver Kohortenstudien zeigte ebenfalls keinen Einfluss gesättigter Fette auf Endpunkte wie Gesamtmortalität, kardiovaskuläre Erkrankungen oder Typ-2-Diabetes.
Auch Mente zitierte die PREDIMED-Studie; er betonte: „Das ist eine der besten Studien, die wir zur Frage von Ernährungsmustern und kardiovaskulärer Mortalität haben.“ Dass hier beide Studienarme mit mediterranem Ernährungsmuster hinsichtlich kardiovaskulärer Erkrankungen besser abschnitten als die Vergleichsdiät in der Kontrollgruppe, sei jedoch kein Argument für eine rein vegane Ernährung.
Denn in den beiden Studienarmen mit Mittelmeerdiät (einer mit viel Olivenöl, einer mit vielen Nüssen) sei auch rotes Fleisch erlaubt gewesen, und tatsächlich hätten die Teilnehmer mit Mittelmeerdiät sogar etwas mehr gesättigte Fette zu sich genommen als die Personen in der Kontrollgruppe. „Ein wenig Fleisch kann die Ernährung enthalten, und es ist immer noch eine gesunde Ernährung mit vorteilhaftem Outcome“, so Mente.
PURE – weltweite Ernährungsstudie
Mente leitet die PURE-Studie – die weltweit wohl größte Ernährungsstudie mit inzwischen mehr als 200.000 Teilnehmern auf allen 5 Kontinenten, die helfen soll, Ernährungsempfehlungen zu finden, die überall auf der Welt umsetzbar sind. Es sind bereits mehrere Auswertungen zu bestimmten Aspekten erschienen, welche die ersten knapp 150.000 aufgenommenen Personen umfassten.
So hat eine Analyse der PURE-Studie gezeigt, dass ein höherer Anteil an Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten in der Nahrung das Sterberisiko senkt – je mehr Pflanzenkost, desto geringer die Mortalität. Verarbeitete Weizenprodukte dagegen wurden als schädlich identifiziert.
Interessant ist auch eine andere Analyse der PURE-Studie, die zeigt, dass der Konsum von Milchprodukten – vor allem Vollfettmilchprodukte – kardiovaskuläre Erkrankungen und Tod reduzierte. „Wir fanden in dieser globalen Population einen schützenden Effekt von Vollfettmilch“, so Mente. Das würde gegen eine rein vegane Ernährung sprechen.
PURE-Ernährungsscore umfasst 0 bis 6 Punkte
Der Score reicht von 0 bis 6. Personen, die von allen 6 Elementen der PURE-Diät – Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte, Nüsse, Fisch, Milchprodukte (überwiegend Vollfett) – mehr als der Median der Menschen zu sich nehmen, erreichen 6 Punkte. Das heißt zwangsläufig, dass sie weniger der anderen Nahrungsbestandteile (unter anderem Fleisch) konsumieren, „verboten“ ist jedoch nichts. Ein hoher Score war übrigens in den bisherigen Analysen fast durchgehend mit einem höheren Fettanteil assoziiert, einschließlich gesättigter Fette; das beeinflusste die Ergebnisse nicht.
Personen mit hohem Score zeigten reduzierte Raten an schweren kardiovaskulären Ereignissen und eine verringerte Gesamtmortalität, berichtete Mente. Fleischkonsum spielte dabei keine Rolle: „Fleisch war in unserer Analyse neutral“, stellte Mente klar. Ob man Fleisch esse oder nicht, spiele für das kardiovaskuläre Outcome keine Rolle.
Gruppenempfehlung, persönliche Empfehlung oder Präzisionsernährung?
Die Frage, ob eine Empfehlung für ganze Personengruppen (Jüngere, Ältere, Männer, Frauen, Herzpatienten, Diabetiker u.a.) überhaupt sinnvoll und ausreichend ist oder nicht, stellte Prof. Dr. Nita G. Forouhi in den Raum. Sie ist Epidemiologin und Ernährungsmedizinerin an der Universität von Cambridge, Großbritannien.
Die Bedürfnisse der Menschen seien unterschiedlich, so Forouhi: „Für manche Menschen sind 2 Stück Obst am Tag okay, andere brauchen noch mehr, wieder andere brauchen nicht irgendein Obst, sondern 2 Zitrusfrüchte.“
In einem Ernährungssymposium beim ESC-Kongress 2020 stellte Forouhi 3 Formen der Ernährungsberatung einander gegenüber:
die stratifizierte oder maßgeschneiderte Ernährung für ganze Menschengruppen, basierend auf allgemeinen Charakteristika dieser Gruppen,
einen Schritt weiter: die personalisierte oder individuell-maßgeschneiderte Ernährung für den einzelnen Menschen, basierend auf dessen individuellem, in Fragebögen oder Gesprächen ermitteltem Ernährungsmuster sowie
als ein ehrgeiziges Ziel: die Präzisionsernährung für den einzelnen Menschen unter Berücksichtigung zahlreicher Aspekte wie Alter, Geschlecht, Ethnie, Körpergewicht, Körperfettanteil und -verteilung, Zusammensetzung der Mahlzeiten, Aktivität, Schlaf und sonstige Lebensgewohnheiten, Biochemie, Zeichen inflammatorischer Erkrankungen, Genetik, Darmmikrobiota und vieles mehr.
Low-fat ist nicht für jeden gut – Low-carb auch nicht
Eine möglichst individuelle Empfehlung kann viele Vorteile bringen, meint Forouhi. Denn auch bei völlig gleicher Ernährung reagieren Menschen sehr unterschiedlich auf eine Mahlzeit, etwa in Bezug auf ihre Blutglukose und Blutfette, den Blutdruck oder die Aktivitäten der Mikrobiota. Dies zeigen aktuelle Forschungsergebnisse.
Auch bei einfachen Fragen wie der Auswirkung einer Low-Fat- oder Low-Carb-Diät auf das Körpergewicht finden sich enorme Differenzen zwischen einzelnen Personen: Mit jeder der beiden Ernährungsformen können Menschen bis zu ca. 30 kg abnehmen oder bis zu ca. 10 kg zunehmen. Die Verteilung der Personen, die von der jeweiligen Diät profitieren oder nicht, ist jeweils sehr ähnlich, wie die DIETFITS-Studie gezeigt hat.
Offene Fragen zur Präzisionsmedizin
Ein Problem bei detaillierten und konkreten Informationen – wie in der Präzisionsernährung – ist der Umgang der Patienten mit diesem Wissen. Einige sind etwa nach Kenntnis ihres Genotyps hochmotiviert und wollen ein prognostiziertes Outcome durch veränderten Lebensstil abwenden. Andere sind eher fatalistisch; sie empfinden die Prognose als bereits vorbestimmtes, unabwendbares Schicksal.
Aber selbst interessierte und engagierte Patienten dürften derzeit noch Probleme haben, eine Empfehlung für „ihre“ Präzisionsernährung zu erhalten und umzusetzen: Sie ist noch weitgehend Zukunftsmusik. „Wir geben derzeit in der Regel stratifizierte Empfehlungen für Personengruppen“, konstatierte Forouhi. „Ein wenig arbeiten wir schon mit personalisierten Ernährungsempfehlungen für den einzelnen Menschen. Von der Präzisionsernährung sind wir aber noch mehrere Schritte entfernt.“
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Diesen Artikel so zitieren: Kardiologische Vor- und Nachteile verschiedener Ernährungsformen: Ist fleischlos das Geheimnis? Oder besser mediterran? - Medscape - 10. Sep 2020.
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