Nach einer neuen Studie führt der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) Venlafaxin zu häufigeren Fehlbildungen als jedes andere Antidepressivum, das in den ersten Schwangerschaftsmonaten eingenommen wird. Die Studie wurde in JAMA Psychiatry online veröffentlicht [1].
„Nach unserer Untersuchung kann die Einnahme des Antidepressivums Venlafaxin während der Frühschwangerschaft mit mehreren Geburtsfehlern in Verbindung gebracht werden, wie etwa Herzfehler, Defekte des Gehirns und der Wirbelsäule, Lippen- und Gaumenspalte, Hypospadie und Gastroschisis“, sagte die Leiterin der Studie Dr. Jennita Reefhuis, Direktorin der CDC-Abteilung für Fehlbildungen und Kinderkrankheiten in Atlanta, Georgia, gegenüber Medscape. Dieses Ergebnis bedarf jedoch „angesichts der wenigen Literatur über Venlafaxin während der Schwangerschaft und des Fehlbildungsrisikos einer Bestätigung“, so die Untersucher.
Die Studie zeigte, dass mehrere selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) wie Sertralin, Fluoxetin, Paroxetin und Citalopram jeweils mit einer leichten Erhöhung verschiedener Fehlbildungen assoziiert waren. Ein SSRI, Escitalopram, war dabei mit der geringsten Zahl an Fehlbildungen verbunden.
In vielen Fällen sank das Fehlbildungsrisiko etwas, nachdem die Untersucher die zugrunde liegende Erkrankung, gegen die das Antidepressivum verschrieben worden war, mit berücksichtigt hatten.
„Eine sorgfältig begründete Therapieentscheidung erfordert ein Abwägen zwischen den Vor- und Nachteilen der Intervention und denen einer unbehandelten Depression oder Angststörung“, so die Untersucher.
Nationale Studie zur Prävention von Fehlbildungen
Die Studie liefert abschließende Daten aus der populationsbasierten National Birth Defects Prevention Study (NBDPS), die an mehreren Zentren in den USA durchgeführt wurde. Im Vergleich zu vorab veröffentlichten vorläufigen Daten liegen jetzt die kompletten Daten aus einer größeren Stichprobe vor, wobei die Autoren auch mehr Antidepressiva und Fehlbildungen untersucht haben.
Die NBDPS gehört zu den weltweit größten Studien, in der Risikofaktoren für Fehlbildungen durch systematische Fallverfolgung untersucht werden. Dies ermöglichte es den Untersuchern, die Zusammenhänge bei bestimmten Defekten „genauer zu ergründen, als dies mit administrativen Daten möglich ist“, so die Autoren.
Die Analyse umfasste 30.630 Fälle von Fehlbildungen und 11.478 Säuglinge, die ohne Fehlbildungen geboren wurden. Die Mütter, deren Alter zwischen 12 und 53 Jahren lag, entbanden zwischen 1997 und 2011.
Alle Frauen hatten 6 Wochen bis 24 Monate nach ihrem voraussichtlichen Geburtstermin an einer computergestützten telefonischen Befragung teilgenommen. Sie wurden über die Einnahme von Antidepressiva in den Monaten vor der Empfängnis oder während der Schwangerschaft befragt.
„Die Studie ist einzigartig, weil die Frauen gefragt wurden, welche Medikamente sie wie lange eingenommen hatten“, sagte Reefhuis. „Wir wissen, dass viele Frauen die Einnahme der verschriebenen Medikamente abbrechen, sobald sie schwanger sind. Das gilt besonders für Antidepressiva. Das lässt sich jedoch nur herausfinden, wenn man mit ihnen spricht.“
Exposition in der Frühschwangerschaft
Die Exposition in der Frühschwangerschaft wurde definiert als Anwendung eines oder mehrerer Antidepressiva in beliebiger Dosis, Dauer oder Häufigkeit von dem Monat vor der Empfängnis an bis zum 3. Schwangerschaftsmonat, also im 1. Trimenon, wenn die meisten Fehlbildungen ausgelöst werden. Die Untersucher schlossen den Monat vor der Empfängnis ein, um ungenauen Schätzungen der Empfängnis- und Medikationsexpositionsdaten entgegenzuwirken.
Als nicht exponiert galten Frauen, wenn sie in den 3 Monaten vor der Empfängnis bis zum Ende der Schwangerschaft keine Antidepressiva eingenommen hatten.
Die Forscher untersuchten auch die Exposition gegenüber Antidepressiva außerhalb der Frühschwangerschaft (während der 2 bis 3 Monate vor der Empfängnis und/oder während der Monate 4 bis 9 der Schwangerschaft). Dies geschah, um Störvariablen bei der Indikation Rechnung zu tragen, was ein wichtiges Thema bei Beobachtungsstudien ist.
Die Studie trug daher „zumindest teilweise den Störvariablen durch die zugrunde liegende Erkrankung Rechnung, was nach unserem Wissen in bisherigen Untersuchungen nicht üblich war“, so die Autoren.
Sie untersuchten Zusammenhänge zwischen einer Reihe von Fehlbildungen und der Einnahme einzelner Antidepressiva aus verschiedenen Wirkstoffklassen: SSRI (Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin), SNRI (Desvenlafaxin, Duloxetin, Venlafaxin) sowie trizyklische Antidepressiva und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Amitriptylin, Clomipramin, Desipramin, Doxepin, Imipramin und Nortriptylin).
Zudem untersuchten sie Bupropion als atypisches Antidepressivum, das als Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahmehemmer und Nikotinrezeptorantagonist wirkt, sowie Mirtazapin, Nefazodon und Trazodon.
Dieser analytische Ansatz ermöglichte es, die Verbindungen zwischen einzelnen Antidepressiva und spezifischen Fehlbildungen genauer zu untersuchen und weitere Assoziationen mit Fehlbildungen zu erforschen, so die Autoren. Dies sei ein Unterschied zu den vielen anderen Studien, welche die Verträglichkeit und Sicherheit von Antidepressiva in der Schwangerschaft untersucht haben und Medikamente in breite Wirkstoffklassen eingeteilt haben, was ihre klinische Aussagekraft beeinträchtigte.
In dieser neuen Studie ging es um die Einnahme von Antidepressiva in der Frühschwangerschaft in 1.562 Fällen (5,1%) mit 467 Frauen als Kontrollgruppe (4,1%).
Beim Vergleich von Frauen, die verschiedene Antidepressiva einnahmen, mit Frauen, die nichts dergleichen nahmen, adjustierten die Untersucher die Gruppen nach Ethnie, Body-Mass-Index (BMI), Bildungsniveau, Nikotin- und Alkoholkonsum. Die Autoren bezogen Kovariaten mit in das Modell ein, wenn sie zu einer mindestens 10%igen Veränderung der Schätzwerte für einen Zusammenhang zwischen der Exposition und irgendeiner Fehlbildung führten.
SSRI und Fehlbildungen
Die Analyse zeigte, dass verschiedene SSRI mit unterschiedlichen Fehlbildungen assoziiert waren. Paroxetin oder Fluoxetin, die in der Frühschwangerschaft eingesetzt wurden, wiesen den größten Anteil an erhöhten adjustierten Odds Ratios (aOR) für spezifische Fehlbildungen auf. Für Fluoxetin betraf dies den abnormen Pulmonalvenenrückstrom (anomalous pulmonary venous return, APVR; aOR: 2,56; 95% Konfidenzintervall/KI: 1,10–5,93), die Aortenstenose und die Dandy-Walker-Fehlbildung.
Defekte mit signifikant erhöhter Assoziation mit Paroxetin waren ebenfalls die APVR sowie ihre Untergruppe „totaler abnormer Pulmonalvenenrückstrom“ (total anomalous pulmonary venous return, TAPVR), die Pulmonalklappenstenose, Anenzephalie und Kraniorachischisis.
Nach der Häufigkeit der Fehlbildungen kamen danach die SSRI Citalopram und Sertralin.
Partielle Verzerrungen
Beim Vergleich zwischen Frauen mit einer Exposition in der Frühschwangerschaft und anderen, die Antidepressiva nur außerhalb dieses Zeitraums einnahmen, schwächten sich die Assoziationen zwischen den SSRI und Fehlbildungen deutlich ab, vor allem, was die kardialen Defekte betraf. Dies deutet darauf hin, dass die erhöhten Assoziationswerte „durch die zugrunde liegende Erkrankung verzerrt werden könnten“, so die Autoren. So sank nach teilweiser Berücksichtigung der Grunderkrankung etwa die aOR für Fluoxetin und APVR auf 1,89 (95% KI: 0,56–6,42).
„Obwohl weitere Evidenzen erforderlich sind, um Gewissheit zu erlangen, deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass das erhöhte Risiko für kardiale Fehlbildungen bei Frauen, die SSRI eingenommen haben, auf die zugrunde liegende Erkrankung zurückzuführen sein könnte, also z.B. Depressionen, Angstzustände oder andere psychische Erkrankungen oder Faktoren, die mit den zugrunde liegenden Erkrankungen der Mutter und nicht mit den SSRI selbst zusammenhängen“, sagte Reefhuis.
Dies sei „bemerkenswert“, so Reefhuis weiter, weil die meisten bisherigen Untersuchungen nicht in der Lage gewesen wären, die Wirkung der Medikamenteneinnahme von jener der zugrunde liegenden Erkrankung zu trennen.
Nicht kardiale Defekte
Ein Zusammenhang zwischen SSRI und nicht kongenitalen Herzfehlern blieb oft bestehen, auch nachdem die zugrunde liegende Erkrankung teilweise berücksichtigt wurde. Dies war etwa bei Sertralin und der Zwerchfellhernie der Fall sowie bei Fluoxetin und Ösophagusatresien oder Citalopram und Zwerchfellhernien.
Ergebnisse, nach denen ein spezifischer SSRI der Grund für ein erhöhtes Risiko sein könnte, seien etwas Neues, sagte Reefhuis, wies jedoch darauf hin, dass „mehr Evidenzen erforderlich sind, um einen solchen Zusammenhang sicher zu benennen“.
Für einen Zusammenhang zwischen Escitalopram und spezifischen Fehlbildungen fanden sich keine erhöhten aOR. Reefhuis merkte jedoch an, dass dieser SSRI am seltensten eingesetzt wurde und für die Untersucher daher weniger Defekte zu beurteilen waren.
Bei der Untersuchung anderer Antidepressiva stellten die Autoren für das Bupropion signifikant erhöhte aOR-Werte hinsichtlich dreier Fehlbildungen fest: hypoplastisches Linksherz-Syndrom, Darmatresie/-stenose und Zwerchfellhernie.
Neues zu Venlafaxin
Bei Venlafaxin wurde ein signifikanter Zusammenhang mit verschiedenen Herzvitien festgestellt: Obstruktion der linksventrikulären Ausflussbahn (hypoplastisches Linksherzsyndrom und Koarktation der Aorta), Obstruktion der rechtsventrikulären Ausflussbahn (Pulmonalstenose) sowie ventrikuläre und atriale Septumdefekte. Weitere Defekte betrafen das Gehirn und die Wirbelsäule, Lippen- und Gaumenspalte, Hypospadie und Gastroschisis. Einige der erhöhten Assoziationen mit Venlafaxin waren relativ hoch: z.B. eine aOR von 3,34 (95% KI: 1,69–6,60) bis eine aOR von 5,26 (95% KI: 1,96–14,12).
„Es gibt noch nicht viele Untersuchungen zu Venlafaxin, da es sich um ein relativ junges Medikament handelt, sodass unsere Ergebnisse neu sind“, sagte Reefhuis. Nach teilweiser Berücksichtigung der zugrunde liegenden Erkrankungen blieben die erhöhten Venlafaxin-aOR bei den meisten Defekten bestehen.
Mögliche Bias-Ursachen
In den NBDPS-Interviews wurden die Diagnosen im Zusammenhang mit der medikamentösen Behandlung nicht systematisch ermittelt, sodass die psychischen Gesundheitszustände in den Analysen nur eingeschränkt berücksichtigt werden können.
Auch kann es Unterschiede beim Schweregrad der Erkrankung, beim Rückfallrisiko oder auf anderen klinischen Gebieten zwischen den Frauen geben, die bei den einen zur Entscheidung für bestimmte Antidepressiva führen bzw. dazu, sie während der Schwangerschaft weiterhin einzunehmen, und bei anderen bewirken, dass sie die Behandlung vor der Schwangerschaft abbrechen oder erst nach dem ersten Trimenon einsetzen. Dies alles sind mögliche Ursachen für einen Bias, so die Autoren.
Die Studie berücksichtigte auch nicht die unterschiedlichen Halbwertszeiten der Antidepressiva, was zu einer Exposition während der als nicht exponiert eingestuften Zeiträume hätte führen können. Und eine Erinnerungsverzerrung (recall bias) könnte zu einer fehlerhaften Einordnung bei der Frage der Exposition geführt haben.
Für die Untersucher dient die Analyse der Hypothesengenerierung und erlaube es nicht, Kausalzusammenhänge zu bestimmen.
Krankheit oder Therapie?
In einem begleitenden Editorial erkannten Dr. Katherine L. Wisner von den Abteilungen für Psychiatrie und Geburtshilfe/ Gynäkologie an der Northwestern University School of Medicine in Chicago und ihr Team die Schwierigkeit an, die Auswirkungen psychiatrischer Erkrankungen von den Folgen der medikamentösen Therapie für das Fehlbildungsrisiko zu unterscheiden [2].
Die Autoren berücksichtigten die zugrunde liegende Erkrankung „teilweise“, „sodass man sich fragt, ob der Zusammenhang zwischen der psychischen Erkrankung und der Schwere der Symptome, der maßgeblich für die Entscheidung zur Einnahme von Antidepressiva während der Schwangerschaft ist, ausreichend berücksichtigt wurde“, hieß es im Editorial.
Geht es um die SSRI, so „erschweren fehlende Angaben zu Faktoren wie sozioökonomischer Status, Toxinbelastung und Substanzkonsum, die häufig mit einer schlechten psychischen Gesundheit einhergehen, angesichts des Residual Confoundings die Interpretation der Ergebnisse“.
Beim Vergleich von Frauen, die während des ersten Trimenons Antidepressiva erhielten, mit anderen, die außerhalb dieses Zeitraums exponiert waren, adjustierten die Autoren nur nach der erfolgten Aufklärung der Frauen, so die Autoren des Editorials. Die Angaben zu den spezifischen Merkmale dieser Frauen seien „nicht ausreichend, um eine Vergleichbarkeit“ in Bezug auf die psychiatrische Störung, Komorbiditäten oder begleitende Medikamenten- oder Substanzeinnahmen (z.B. Antikonvulsiva und/oder Neuroleptika) herzustellen, die mit einem erhöhten Risiko für fetale Missbildungen verbunden sein könnten.
Wisner und ihre Kollegen weisen darauf hin, dass nur wenige Frauen Venlafaxin einnahmen, da es hauptsächlich bei SSRI-Non-Respondern eingesetzt werde. Personen unter Venlafaxin haben neben den psychiatrischen Erkrankungen noch Komorbiditäten, wie etwa ein metabolisches Syndrom, welche den Schwangerschaftsverlauf beeinträchtigen können, sagten sie.
Das computergestützte Telefoninterview, bei dem die Frauen gebeten wurden, sich an den pränatalen Einsatz psychotroper Substanzen zu erinnern, führt zu der Frage, ob es dabei nicht auch zu Fehlklassifizierungen über die Frage der Exposition gekommen sein könnte, so die Autoren des Editorials: „Die Erinnerung von Frauen, die ein Kind mit einer angeborenen Fehlbildung zur Welt gebracht haben, ist wahrscheinlich eine andere als von Frauen, die einen gesunden Säugling geboren haben.“
Die Autoren betonten weiter, dass viele Fehlbildungen mit Inzidenzen von 1 zu 1.000 bis 1 zu 16.000 Geburten für bestimmte Herzvitien extrem selten seien und dass selbst große relative Zunahmen einer nur geringfügigen Zunahme des absoluten Risikos entsprechen.
Die Evidenzen deuteten insgesamt darauf hin, dass das mit Antidepressiva verbundene Fehlbildungsrisiko im Vergleich zu den Gefahren bei einer unbehandelten oder unterbehandelten maternalen Depression „akzeptabel“ sei. So stellen die Autoren in dem Editorial die Frage, ob es nicht an der Zeit sei, „sich mehr auf den maternalen-fetalen Benefit einer Pharmakotherapie zu konzentrieren als auf die Identifizierung der Risiken“.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Wie gefährlich sind Antidepressiva in der Frühschwangerschaft? Ein SNRI fällt in großer Studie besonders auf - Medscape - 10. Sep 2020.
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