Ist Metformin ein „Schutzengel“ für Diabetiker bei COVID-19? Mortalität nach Beobachtungsdaten unter Biguanid geringer

Miriam E. Tucker

7. September 2020

Gesammelte Beobachtungsdaten weisen darauf hin, dass die Einnahme von Metformin bei Patienten mit Typ-2-Diabetes eventuell deren COVID-19-Mortalität reduziert. Jedoch besteht nach Ansicht von Experten wohl kaum eine Chance, dass die für einen endgültigen Beweis dieser Hypothese erforderlichen randomisierten Studien jemals durchgeführt werden.

Jüngste Ergebnisse dazu haben Dr. Andrew B. Crouse und seinem Team vom Hugh Kaul Precision Medicine Institute der University of Alabama in Birmingham, USA, veröffentlicht – allerdings ohne Peer Review [1]. Sie fanden heraus, dass bei über 600 Diabetikern die COVID-19-Mortalität nach Bereinigung um diverse Störvariablen um fast 70% niedriger war, wenn sie Metformin erhalten hatten – im Vergleich zu anderen Antidiabetika.

Die Daten aus 4 früheren Studien, die ebenfalls eine geringere Corona-Mortalität unter Metformin-Anwendern im Vergleich zu Nicht-Nutzern auswiesen, wurden von Prof. Dr. André J. Scheen in einem Mini-Review zusammengefasst, der in Diabetes and Metabolism veröffentlicht worden ist [2].

Scheen arbeitet an der Universität Lüttich in der Abteilung für Diabetes, Ernährung und Stoffwechselstörungen sowie in der Klinischen Pharmakologie. Er diskutiert in seinem Review die möglichen Mechanismen hinter dieser Beobachtung.

„Da Metformin über seine glukosesenkende Wirkung hinaus verschiedene Effekte hat, wie etwa auch eine entzündungshemmende Wirkung, kann man spekulieren, dass das Biguanid darüber die Prognose von Typ-2-Diabetikern, die wegen COVID-19 stationär behandelt werden müssen, günstig beeinflusst“, schreibt er.

„Angesichts der potenziellen Störvariablen, die Beobachtungsstudien innewohnen, ist jedoch Vorsicht angebracht, um keine übereilten Schlussfolgerungen zu ziehen, denn es mangelt hier an randomisierten kontrollierten Studien“, schreibt er weiter.

 
Ich glaube nicht, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt über ausreichend Daten verfügen, um die Einnahme von Metformin zur Milderung des COVID-19-Verlaufes zu empfehlen. Dr. Andrew B. Crouse und Kollegen
 

Die Endokrinologin Dr. Kasia Lipska von der Yale School of Medicine in New Haven, USA, kommentiert die Studie gegenüber Medscape so: „Patienten unter Metformin schneiden in vielen verschiedenen Settings tendenziell besser ab. Für mich ist immer noch unklar, ob Metformin wirklich ein Wundermittel ist, oder ob Menschen, die keine Kontraindikationen für dieses Medikament haben und bei denen es bevorzugt eingesetzt wird, einfach gesünder sind.“ Und sie fügt hinzu: „Ich glaube nicht, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt über ausreichend Daten verfügen, um die Einnahme von Metformin zur Milderung des COVID-19-Verlaufes zu empfehlen.“

Ohne Metformin starben deutlich mehr Diabetiker

Crouse und Mitarbeiter haben retrospektiv in den elektronischen Krankenakten ihrer Institution die Daten von 604 Patienten analysiert, die zwischen dem 25. Februar und dem 22. Juni 2020 positiv auf COVID-19 getestet worden waren. Von diesen Personen litten 40% unter einem Diabetes.

11% der Patienten starben (n = 67). Das Risikoverhältnis oder die Odds Ratio für den Tod von Personen mit und ohne Diabetes betrug 3,62 (p < 0,0001). Über 60% der Verstorbenen waren Diabetiker.

In einer multiplen logistischen Regression erwiesen sich ein Alter zwischen 50 und 70 Jahren gegenüber einem Alter unter 50, das männliche Geschlecht und ein Diabetes als unabhängige Prädiktoren für das Ableben.

Von den 42 gestorbenen Diabetikern hatten 34 (81%) Metformin genommen, 8 nicht (19%), was einen signifikanten Unterschied bedeutet (Odds Ratio: 0,38; p = 0,0221). Eine Insulinpflicht hatte dagegen keinen Einfluss auf die Mortalität (p = 0,5728).

„Tatsächlich war die Mortalität unter den Personen, die Metformin nahmen, mit 11% vergleichbar mit derjenigen der allgemeinen COVID-19-positiven Population, jedoch erheblich niedriger als die 23%ige Mortalität, die bei Patienten mit Diabetes ohne Metformin-Medikation beobachtet wurde“, schreiben die Autoren.

Der beobachtete Überlebensvorteil unter Metformin blieb auch nach Ausschluss von Patienten mit klassischen Metformin-Kontraindikationen, wie chronischer Nierenerkrankung und Herzinsuffizienz, bestehen (Odds Ratio: 0,17; p = 0,0231).

„Ohne diese Komorbiditäten erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass es noch verzerrende Störvariablen hin zu einer gesünderen Metformin-Gruppe gibt“, schreiben Crouse und sein Team.

Nach weiteren Analysen, die andere Ko-Faktoren (Alter, Geschlecht, BMI und Bluthochdruck) berücksichtigten, blieben Alter, Geschlecht und eine Metformin-Medikation unabhängige Prädiktoren der Mortalität. Für Metformin lag die Odds Ratio bei 0,33 (p = 0,0210).

Lipska betont jedoch: „Beobachtungsstudien können gemessene Störvariablen berücksichtigen. Nicht gemessene Störvariablen können jedoch immer noch die Folgerungen aus einer Studie beeinflussen … Ein Propensity-score-Matching zur Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit, Metformin zu erhalten, könnte genutzt werden, um die Unterschiede zwischen Metformin-Nutzern und Nichtnutzern besser herauszuarbeiten.“

Multiple Wirkmechanismen für niedrigere COVID-19-Mortalität wahrscheinlich

In seinem Artikel stellt Scheen fest, dass mehrere Mechanismen als Ursache für die mögliche vorteilhafte Wirkung von Metformin auf einen COVID-19-Verlauf infrage kommen: eine direkte Verbesserung der Glukosekontrolle, des Körpergewichts und der Insulinresistenz, reduzierte Entzündungsprozesse, Hemmung der Viruspenetration durch ACE2-Phosphorylierung, Hemmung einer Immun-Hyperaktivierung (Zytokinsturm) und Senkung der Neutrophilenzahl.

Doch all dies seien bislang rein theoretische Überlegungen, betont er. Einige Autoren hätten Bedenken wegen möglicher Schädigungen durch Metformin bei Typ-2-Diabetikern, die mit COVID-19 ins Krankenhaus eingeliefert werden, zum Ausdruck gebracht. Dies sei vor allem wegen des potenziellen Risikos einer Laktatazidose bei Multiorganversagen kritisch.

4 Studien zeigen eine 25% geringere Sterblichkeit unter Metformin

Insgesamt zeigten die 4 von Scheen begutachteten Beobachtungsstudien, dass die Metformin-Therapie mit einer rund 25% geringeren Sterblichkeitsrate (p < 0,00001) positiv assoziiert war, wenn auch bei einer relativ hohen Heterogenität (I² = 61%).

Die größte dieser Studien aus den USA umfasste 6.256 Patienten, die wegen einer COVID-19-Erkrankung stationär aufgenommen werden mussten und bei denen ein Propensity-score-Matching durchgeführt wurde. Eine signifikant niedrigere Mortalität unter Metformin wurde dabei bei Frauen beobachtet, jedoch nicht bei Männern (Odds Ratio: 0,759).

Die französische CORONADO-Studie (Coronavirus-SARS-CoV-2 and Diabetes Outcomes) an 1.317 Diabetes-Patienten mit einer bestätigten COVID-19-Erkankung, die in 53 französischen Kliniken behandelt worden waren, zeigte ebenfalls einen signifikanten Überlebensvorteil bei einer bestehenden Metformin-Medikation, obwohl die Studie gar nicht auf diese Fragestellung hin ausgelegt war.

In dieser Studie betrug die Odds Ratio für den Tod am 7. Tag bei früheren Metformin-Anwendern im Vergleich zu Nichtanwendern 0,59. Dieser Befund verlor bei Korrektur für Störfaktoren seine Signifikanz, blieb aber nach der kompletten Adjustierung als Trend erhalten (0,80).

2 kleinere Beobachtungsstudien wiesen einen ähnlichen Trend bezüglich des Überlebensvorteils unter Metformin auf.

Dennoch warnt Scheen: „Definitive Schlussfolgerungen zur Wirkung einer Metformin-Therapie lassen sich nur aus doppelblinden randomisierten kontrollierten Studien ableiten, die jedoch im Zusammenhang mit COVID-19 nahezu unmöglich sind.“

Er fügt hinzu: „Da Metformin nicht mehr patentgeschützt und sehr kostengünstig ist, wird wahrscheinlich kein Pharmaunternehmen ein Interesse daran haben, eine Studie zu planen, um die Vorteile von Metformin im Zusammenhang mit COVID-19 zu analysieren.“

 
Definitive Schlussfolgerungen zur Wirkung einer Metformin-Therapie lassen sich nur aus doppelblinden randomisierten kontrollierten Studien ableiten. Prof. Dr. André J. Scheen
 

Lipska stimmt zu: „Es ist unwahrscheinlich, dass RCTs durchgeführt werden, um diese Fragen zu klären. Die Anwendung von Metformin sollte daher auf seinem Sicherheits- und Wirkprofil gründen.“

Scheen schließt mit den Worten: „Es gibt zumindest keine negativen Sicherheitsindikationen, sodass auch kein Grund dazu besteht, eine Metformin-Therapie während einer COVID-19-Erkrankung abzubrechen, außer in Fällen von schweren gastrointestinalen Symptomen, Hypoxie und/oder Multiorganversagen.“

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.