Keine „Magie“ des Magenbypasses: Experten schreiben besseren Blutdruck und Stoffwechsel vor allem Gewichtsreduktion zu

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

3. September 2020

Hilft die bariatrische Chirurgie Patienten mit Adipositas, verschiedene Vitalparameter zu normalisieren? Diese Frage beschäftigt Forscher seit geraumer Zeit. Jetzt wurden neue Studienergebnisse veröffentlicht: Dr. Carlos A. Schiavon vom Heart Hospital im brasilianischen São Paulo und Kollegen berichten, dass 3 Jahre nach einem Roux-en-Y-Magenbypass Patienten mit Adipositas und Hypertonie deutlich weniger blutdrucksenkende Medikamente benötigten als Patienten in einer reinen Pharmakotherapie-Gruppe [1].

In der OP-Gruppe kam es (wie erwartet) zu einer signifikanten Gewichtsabnahme. Dr. Mihoko Yoshino von der Washington University School of Medicine, St. Louis, USA, und Kollegen verglichen wiederum den Effekt der bariatrischen Chirurgie und der Gewichtsabnahme durch Diäten auf verschiedene Stoffwechselparameter [2]. Metabolische Vorteile der OP suchten sie vergebens.

 
Die Erkenntnisse sind nicht wirklich neu, sind aber eine Enttäuschung für Kollegen, die glauben, mit der bariatrischen Chirurgie etwas Besonderes zu machen. Prof. Dr. Stephan Martin
 

„Die Erkenntnisse sind nicht wirklich neu, sind aber eine Enttäuschung für Kollegen, die glauben, mit der bariatrischen Chirurgie etwas Besonderes zu machen“, sagt Prof. Dr. Stephan Martin im Gespräch mit Medscape. Er ist Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums Düsseldorf und Diabetes-Blogger bei Medscape.

„Leiden Patienten mit Adipositas an einem Typ-2-Diabetes und verlieren deutlich an Gewicht, kommen sie in eine klinische Remission.“ Dies habe die DIRECT-Studie bewiesen. Zum Thema Hypertonie berichtet der Experte: „Ab einer Gewichtsverringerung von 5 kg sehen wir Effekte auf den Blutdruck – auch bei Reduktionsdiäten.“

„Letztlich zeigen die Untersuchungen von Schiavon und Yoshino mit einer guten Methodik, dass die Effekte allein auf die Gewichtsabnahme zurückzuführen sind.“ Und das gelinge auch mit Reduktionsdiäten. Den Kritikpunkt, es seien zu wenige Patienten eingeschlossen worden, relativiert der Experte, denn es handele sich um Proof-of-Principle-Studien.

Seine Forderung: „Hat ein Patient beispielsweise Typ-2-Diabetes, muss man sich intensiver mit dem Gewicht auseinandersetzen, was häufig leider nicht passiert.“ Oft würden alte Ernährungsschemata genutzt, etwa Low-Fat-Diäten. Hier wären Low-Carb-Diäten deutlich besser geeignet, wie es in den Leitlinien der amerikanischen und der kanadischen Diabetesgesellschaft auch empfohlen werde.

 
Hat ein Patient beispielsweise Typ-2-Diabetes, muss man sich intensiver mit dem Gewicht auseinandersetzen, was häufig leider nicht passiert. Prof. Dr. Stephan Martin
 

„Übergewicht ist ein ernstzunehmender Faktor – und kein kosmetisches Problem“, betont Martin. „Das muss man allen Ärzten deutlich sagen – der Faktor Gewicht wird in der Praxis oft ignoriert.“ Eine Reduktionskost sei die beste, rezeptfreie Option; Effekte solcher Lebensstil-Änderungen sehe man oft schon nach 1 bis 2 Tagen.

Bariatrische Chirurgie und antihypertensive Therapie im Vergleich

Mittelfristige Effekte der bariatrischen Chirurgie auf eine Hypertonie seien bislang unklar gewesen, berichten Schiavon und Kollegen. Deshalb starteten sie eine randomisierte klinische Studie. Ihr Ziel war, herauszufinden, welche Blutdruckwerte sich 3 Jahre nach Anlage eines Roux-en-Y-Magenbypass einstellen, verglichen mit einer leitliniengerechten Pharmakotherapie.

Rekrutiert wurden 100 Patienten mit Bluthochdruck, die mindestens 2 antihypertensive Medikamente in maximaler Dosis oder mehr als 2 in niedrigerer Dosis einnahmen. Ihr Body-Mass-Index (BMI) lag zwischen 30,0 und 39,9 kg/m2. Alle Teilnehmer wurden nach dem Zufallsprinzip im Verhältnis 1:1 einer Operations- oder einer Pharmakotherapie-Gruppe zugeordnet.

Als primären Endpunkt definierten die Forscher eine mindestens 30-prozentige Verringerung der Dosis blutdrucksenkender Medikamente unter Beibehaltung eines Blutdrucks von weniger als 140/90 mmHg. Die wichtigsten sekundären Endpunkte waren die Anzahl der blutdrucksenkenden Medikamente, die Remission der Hypertonie und die Kontrolle des Blutdrucks nach den aktuellen Leitlinien (< 130/80 mm Hg).

Magenbypass: Weniger Blutdrucksenker erforderlich

Von 100 Patienten (76% weiblich; mittlerer BMI 36,9 kg/m2) schlossen 88% aus der OP-Gruppe und 80% aus der Pharmakotherapie-Gruppe die Studie ab. Nach 3 Jahren wurde der der primäre Endpunkt bei 73% in der OP-Gruppe versus 11% in der Pharmakotherapie-Gruppe erreicht (relatives Risiko: 6,52; 95%-Konfidenzintervall: 2,50-17,03; p < 0,001).

In der OP-Gruppe erreichten 35% Zielwerte unter 140/90 mmHg und 31% unter 130/80 mmHg ohne Medikamente. In der Pharmakotherapie-Gruppe waren es ohne Pharmakotherapie nur 2% bzw. 0%. Die mediane Anzahl der Pharmaka in der Chirurgie- und Pharmakotherapie-Gruppe betrug nach 3 Jahren 1 (0-2) bzw. 3 (2,8-4); p < 0,001. Der Gesamtgewichtsverlust lag bei 27,8% bzw. bei -0,1%. In der Magenbypass-Gruppe entwickelten 13 Patienten eine Vitamin-B12-Hypovitaminose, und 2 Patienten mussten reoperiert werden.

„Der Roux-en-Y-Magenbypass ist eine wirksame Strategie zur mittelfristigen Kontrolle des Blutdrucks und zur Remission einer Hypertonie, wobei Patienten mit Bluthochdruck und Adipositas weniger Medikamente benötigen“, fassen die Autoren zusammen.

Bariatrische Chirurgie versus Diät: Wie reagiert der Stoffwechsel?

Die nächste Frage betrifft metabolische Parameter. „Einige Studien deuten darauf hin, dass bei Menschen mit Typ-2-Diabetes ein Roux-en-Y-Magenbypass therapeutische Effekte auf die Stoffwechselfunktion hat – und zwar unabhängig vom Gewichtsverlust“, schreiben Yoshino und seine Koautoren.

Sie untersuchten die Regulation der Glukosehomöostase vor und nach einer Gewichtsabnahme von zirka 18% durch einen Magenbypass (Operationsgruppe; n = 15) oder durch Ernährungsumstellungen (Diätgruppe; n = 18). Ausgewertet wurden Daten von 11 Teilnehmern (4 Männer und 7 Frauen) in der Diätgruppe (mittleres Alter, 54±9 Jahre; mittlere Zeit seit Diagnose des Diabetes, 9,1±5,6 Jahre) und 11 Teilnehmern (3 Männer und 8 Frauen) in der Operationsgruppe (mittleres Alter, 49±12 Jahre; mittlere Zeit seit Diagnose des Diabetes, 9,6±9,6 Jahre) vor und nach der Gewichtsabnahme.

Als primären Endpunkt definierten die Wissenschaftler Veränderungen der hepatischen Insulinsensitivität anhand des hyperinsulinämischen euglykämischen Glukose-Clamp-Tests. Die Technik gilt als Goldstandard zur Quantifizierung einer Insulinsensitivität in vivo. Dabei wird die Konzentration von Insulin im Plasma durch eine kontinuierliche Infusion erhöht und konstant gehalten. Gleichzeitig verabreicht man variable Glukose-Mengen, bis ein „Steady State“ entsteht. Wenn der stationäre Zustand erreicht ist, entspricht die Glukoseinfusionsrate der Glukoseaufnahme durch alle Gewebe im Körper und ist daher ein Maß für die Insulinsensitivität des Gewebes.

Die Plasmainsulinkonzentration wurde durch kontinuierliche Infusion von Insulin rasch erhöht und auf 100 μU/ml gehalten. Währenddessen wurde die Plasmaglucosekonzentration durch eine variable Glucoseinfusion auf Grundniveau konstant gehalten.

Yoshinos Team hat die Clamp-Technik 3-stufig angelegt (15, 25, 50 mU/m2 Körperoberflächenfläche/min), wobei nur Stufe 1 und 2 weiter ausgewertet wurden. Sekundäre Endpunkte waren Veränderungen der Muskelinsulinsensitivität, der Betazell-Funktion, der 24-Stunden-Plasmaglukose- und Insulinprofile.

Magenbypass und Diät verbessern die Stoffwechsellage in ähnlichem Maß

Die Autoren berichten von folgenden Ergebnissen ihres Glukose-Clamp-Tests:

  • Clamp-Stufe 1:

    • 7,04 μmol pro Kilogramm fettfreier Masse pro Minute (95%-KI: 4,74-9,33) in der Diätgruppe

    • 7,02 μmol pro Kilogramm fettfreier Masse pro Minute (95%-KI: 3,21-10,84) in der Operationsgruppe

  • Clamp-Stufe 2:

    • 5,39 (95%-KI: 2,44-8,34) μmol pro Kilogramm fettfreier Masse pro Minute (95%-KI: 4,74-9,33) in der Diätgruppe

    • 5,37 (95%-KI: 2,41-8,33) μmol pro Kilogramm fettfreier Masse pro Minute in der Operationsgruppe

Es gab keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen.

Der Gewichtsverlust war mit einer erhöhten insulinstimulierten Glukosesekretion verbunden. Der Wert stieg von 30,5±15,9 auf 61,6±13,0 μmol pro Kilogramm fettfreier Masse pro Minute in der Diätgruppe und von 29,4±12,6 auf 54,5±10,4 μmol pro Kilogramm fettfreier Masse pro Minute in der Operationsgruppe an. Auch hier gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen.

Die Gewichtsabnahme erhöhte die Betazell-Funktion (die Insulinsekretion im Verhältnis zur Insulinsensitivität) um 1,83 Einheiten (95%-KI: 1,22-2,44) in der Diätgruppe und um 1,11 Einheiten (95%-KI: 0,08-2,15) in der Operationsgruppe, ohne signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen. Zu schwerwiegenden Komplikationen kam es nicht.

 
In dieser Studie, an der Patienten mit Adipositas und Typ-2-Diabetes teilnahmen, waren metabolischen Vorteile der Magenbypass-Operation und der Ernährung ähnlich Dr. Mihoko Yoshino und Kollegen
 

„In dieser Studie, an der Patienten mit Adipositas und Typ-2-Diabetes teilnahmen, waren metabolischen Vorteile der Magenbypass-Operation und der Ernährung ähnlich und standen offenbar in einem Zusammenhang mit der Gewichtsabnahme, wobei (…) keine offensichtlichen klinisch relevanten Unterschiede festzustellen waren“, resümieren Yoshino und Kollegen.

 

Kommentar

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