ACE2-Rezeptoren werden in den Nieren von Patienten mit diabetischer Nephropathie vermehrt exprimiert, wie ein kanadisches Forscherteam festgestellt hat [1]. Angesichts der Corona-Pandemie ist dies ein wichtiger Befund, könnte es doch erklären, warum solche Patienten ein höheres COVID-19-Risiko und schwerere Verläufe haben, so die Untersucher.
Die Studie stammt von Dr. Richard Gilbert, Canada Research Chair in Diabetes Complications am St. Michael's Hospital in Toronto, und seinem Team und erschien als Vorabdruck im Canadian Journal of Diabetes.
Solche Ergebnisse, nach denen SARS-CoV-2 die Nieren direkt infiziert, stehen jedoch im Widerspruch zu anderen Studien, nach denen eine Nierenschädigung möglicherweise mehr eine Begleiterscheinung einer Corona-Infektion ist, die eigentlich an ganz anderen Stellen im Körper viel mehr Unheil anrichtet.
Dr. Jamie Hirsch, Nephrologe und Dozent an der Barbara Zucker School of Medicine in Hofstra/Northwell, Great Neck, New York, USA, von uns um einen Kommentar gebeten, sagt, es sei zwar allgemein bekannt, dass SARS-CoV-2 den ACE2-Rezeptor nutze, um in die Zellen der Lungen einzudringen, wo es direkte Schädigungen verursache, doch sei nicht klar, ob dies auch in den Nieren so geschehe.
Zunächst ging man davon aus, dass das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS), das vor allem von ACE-Hemmern und AT1-Antagonisten blockiert wird, die COVID-19-Verläufe bei Patienten, welche diese Substanzen einnehmen, verschlimmern können. Beide Wirkstoffklassen blockieren ACE-1 (oder einfach ACE), was zu einer erhöhten Expression von ACE2 führen könnte, erklärte er gegenüber Medscape.
„Es wurde spekuliert, dass eine Zunahme von ACE2-Rezeptoren das Virus womöglich stärker in den Wirt eindringen lässt und so zu einem schlechteren Outcome führt.“ Diese Theorie wurde jedoch nicht bestätigt.
Verdoppelung des ACE2-Spiegels bei Patienten mit diabetischer Nephropathie
Die Hypothese der kanadischen Forscher ist, dass es in der Niere sehr viele ACE2-Rezeptoren gibt, was zumindest quantitativ auf den Einfluss eines Diabetes oder von Medikamenten, die das RAAS blockieren, oder auf beides zurückgehen könnte.
Das mittlere ACE2-mRNA-Niveau in den Biopsien von Patienten mit diabetischer Nephropathie war etwa um das Doppelte erhöht: 13,2 Ablesungen pro einer Million im Vergleich zu sonst bei gesunden Kontrollpersonen durchschnittlichen 7,7 Ablesungen pro einer Million (p = 0,001).
„Die in der vorliegenden Studie nachgewiesene erhöhte ACE2-Expression in der Niere könnte bei Diabetikern für eine größere Neigung zu renalen Komplikationen im Rahmen einer COVID-19-Erkrankung stehen“, sagen sie.
Es fand sich jedoch kein signifikanter Unterschied beim ACE2-mRNA-Niveau zwischen Patienten mit diabetischer Nephropathie, die einen das RAAS blockierenden Wirkstoff eingenommen hatten (12,2 Ablesungen/Million), und denen, die das nicht taten (16,2 Ablesungen/Million).
Tatsächlich seien diese Ergebnisse gar nicht so überraschend, sagt Hirsch. Sie hätten sich bereits in mehreren großen Beobachtungsstudien, die sich mit den Real-World-Folgen einer ACE-Hemmer- und ARB-Medikation für das COVID-19-Outcome befassten, abgezeichnet.
In einer dieser Studien ließ sich kein Zusammenhang zwischen der Art der verabreichten Medikamente und einem erhöhten COVID-19-Erkrankungsrisiko bzw. einem ungünstigeren Verlauf herstellen, weshalb die Leitlinien auch empfehlen, ACE-Hemmer und ARB bei einer Infektion weiter wie gewohnt einzunehmen.
Einige Studien haben sogar getestet, ob ACE-Hemmer oder ARB bei Patienten mit Hypertonie und COVID-19 den Krankheitsverlauf günstig beeinflussen können. Nach vorläufigen Resultaten scheinen Patienten, welche die RAAS-Blocker-Behandlung fortführen, signifikant seltener an der Infektion zu sterben, als gematchte Hypertonie-Patienten, die weder ACE-Hemmer noch ARB einnahmen.
Infiziert das Virus direkt die Nieren?
Es ist noch unklar, ob SARS-CoV-2 direkt in die Niere eindringt und dann die Schäden verursacht, wie es bei den Lungen der Fall zu sein scheint, oder ob die Nierenschädigung eine Auswirkung der Virusinfektion in einer anderen Körperregion ist.
In einer der zahlreichen Pathologie-Studien fanden sich unterschiedlich starke akute tubuläre Nekrosen in den Nierenbiopsaten von Patienten, die an COVID-19 gestorben waren. Ein immunhistochemischer Nachweis des Virus selbst gelang jedoch nicht, nicht einmal von Viruspartikeln.
Ob SARS-CoV-2 die Niere direkt infiziert, sei in der Tat „die Millionen-Dollar-Frage“, sagt Dr. Samira S. Farouk, Nephrologe an der Icahn School of Medicine am Mount Sinai Hospital in New York City, USA.
Farouk hat selbst Arbeiten zu diesem Thema veröffentlicht. In einer Diskussion auf Medscape räumt sie ein, dass es „fast unmöglich ist, herauszufinden, was genau bei einer COVID-19-Infektion die Nierenschädigung verursacht“.
In Hirschs eigener Einrichtung entwickeln etwa 40% der COVID-19-Patienten ein akutes Nierenversagen in unterschiedlichen Ausprägungen. Dies könnte jedoch auch mit den bei COVID-19 gehäuft auftretenden Thrombosierungen zusammenhängen.
Oder es könnte auf eine tief greifende Dysregulation des Immunsystems zurückzuführen sein, die durch das Virus verursacht wird, oder auf eine ausgedehnte Entzündung, die ein Multiorganversagen nach sich zieht, so Hirsch.
„Bei einer Infektion gibt es diese überschießende Entzündungsreaktion. Ich könnte mir vorstellen, dass die Nieren dabei nur ‚Zuschauer‘ sind, so dass also das Virus nicht direkt und selbst die Nieren infiziert, sondern primär die Lungen, wo es dann eine ganze Entzündungskaskade auslöst, welche sekundär die Nieren schädigt“, spekuliert er.
Nieren und COVID-19: Noch keine Klärung
Bei einem anderen wichtigen Aspekt rund um das Thema COVID-19 und Nieren geht es um das Gleichgewicht zwischen ACE- und ACE2-Expression, das der Körper erreichen muss.
„Wenn ACE-Systeme überaktiv sind, führt das am Ende zu Fibrose und Narbenbildung und verschlimmert die Endorganschäden. Das ACE-System verursacht letztlich all diese Schädigungen, weshalb wir dieses Enzym mit Blockern hemmen, um das zu verhindern“, erklärt Hirsch. ACE2 hingegen gleiche das ACE aus, sodass eine übermäßige ACE2-Expression, „die Entzündung tatsächlich reduzieren und somit vorteilhaft sein kann“.
Anders als in der jüngsten kanadischen Studie, in der eine erhöhte ACE2-Expression in der Diabetikerniere nachgewiesen wurde, zeigten andere Untersucher eine verringerte ACE2-Expression bei Patienten mit diabetischer Nephropathie.
Eine Reduktion der ACE2-Expression, durch die den schädlichen Auswirkungen einer unkontrollierten ACE-Aktivität nicht entgegengewirkt wird, könnte der Grund dafür sein, dass Diabetiker im Allgemeinen mehr Entzündungen und bei zusätzlichen Krankheiten ein schlechteres Outcome haben, auch ohne dass es unbedingt in Verbindung mit COVID-19 stehen muss, so Hirsch.
Weiter sagt er über die neue kanadische Studie, dass er nicht recht wisse, was er davon halten solle: „Einerseits sehen wir aktuell in praktisch keiner Studie eine direkte Virenaktivität in der Niere“, sagt er. Aber andererseits hätten frühere Studien eine Verringerung der ACE2-Expression bei Diabetikern gezeigt, sodass sich diese neue kanadische Studie deutlich von einigen anderen unterscheide, so Hirsch weiter.
„Ich sehe nur, dass das letzte Wort zu den Nieren und COVID-19 noch nicht gesprochen ist. Die meisten stellen sich eine Kompromissformel vor. Ich meine, wenn Patienten diese RAAS-Medikamente gegen Bluthochdruck einnehmen, sollten sie sie auch weiterhin einnehmen“, betont Hirsch und verweist dabei auf die geltenden Leitlinien.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Gretchenfrage bei COVID-19: Kann die Niere direkt infiziert werden? Eine Studie sagt ja - Medscape - 25. Aug 2020.
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