Barmer Arzneimittelreport: Fehlversorgung von Polypharmazie-Patienten – und was die Sektorengrenze damit zu tun hat

Christian Beneker

Interessenkonflikte

18. August 2020

Bis heute schaffen es Krankenhausärzte und Niedergelassene nicht, alle ihre Polypharmazie-Patienten mit einem bundesweiten Medikationsplan auszustatten und die Arzneimitteltherapie sektorübergreifend zu harmonisieren. Das ist eines der Ergebnisse des Barmer-Arzneimittelreports 2020, den die Kasse jetzt in Berlin vorgelegt hat [1]. Schuld an der Misere sei die Sektorengrenze, sie müsse digital überbrückt werden, fordert die Barmer.

Tatsächlich hapert es bei praktisch allen Prozessen der Arzneimitteltherapie bei Patienten, die 5 oder mehr Arzneimittel gleichzeitig einnehmen:

  • bei der Information über die einzunehmenden Medikamente,

  • bei der Dokumentation der Therapie oder der Therapieänderung in einem Medikationsplan,

  • bei der Information und Aufklärung der Patienten,

  • bei der Entlassung aus dem Krankenhaus und dem Informationsfluss an die Niedergelassenen, vor allem an die Hausärzte.

Die Barmer hatte 2.900 Polypharmazie-Patienten unter ihren Mitgliedern über 65 befragt.

Hochrisikoprozess Krankenhausaufnahme

Der Umstand ist relevant. Nach Angaben des Arzneimittelreports gehen jährlich 2,8 Millionen Menschen als Polypharmazie-Patienten in ein Krankenhaus. Und nur 29% von ihnen haben einen bundeseinheitlichen Medikationsplan. 17% haben sogar überhaupt keine Aufstellung ihrer Medikamente, die sie den Krankenhausärzten vorlegen hätten können. Von den Befragten haben 78% Arzneimittel von mehr als einem Arzt erhalten, Information wäre also dringend nötig gewesen.

„Es ist unverständlich, dass die Aufnahme in ein Krankenhaus als millionenfacher Prozess so fehleranfällig ist“, sagt Prof. Dr. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer, laut einer Pressemitteilung. „Das kann lebensgefährlich sein.“ Dabei haben die Patienten, die 3 oder mehr Arzneimittel mindestens 28 Tage lang gleichzeitig einnehmen, seit Oktober 2016 ein Recht auf den standardisierten bundeseinheitlichen Medikationsplan.

 
Es ist unverständlich, dass die Aufnahme in ein Krankenhaus als millionenfacher Prozess so fehleranfällig ist. Prof. Dr. Christoph Straub
 

Zugleich bleibt vielen Patienten die eigene Arzneimitteltherapie offenbar ein Buch mit 7 Siegeln. So gaben 85% der Befragten an, nicht vollständig über die Nebenwirkungen aufgeklärt worden zu sein. 36% wurden überhaupt nicht über Nebenwirkungen aufgeklärt und 30% wurden über eine neu begonnene Arzneimitteltherapie nicht informiert.

„Eine Arzneimitteltherapie kann nur erfolgreich sein, wenn der Patient sie versteht und mitträgt“, kommentiert Prof. Dr. Daniel Grandt, Chefarzt am Klinikum Saarbrücken und einer der Autoren der Barmer-Studie. Zudem werden die Medikationsrisiken im Krankenhaus nicht geringer, so der Report: „Laut Arzneimittelreport ist die Anzahl der Patienten, die nach der sogenannten PRISCUS-Liste eine nicht altersgerechte Arzneimitteltherapie erhalten, nach der stationären Behandlung höher als davor.“

 
Eine Arzneimitteltherapie kann nur erfolgreich sein, wenn der Patient sie versteht und mitträgt. Prof. Dr. Daniel Grandt
 

45 Prozent der Medikationsänderungen erfolgen versehentlich

Dass auch die weiterbehandelnden Ärzte mit der Situation unzufrieden sind, zeigt unter anderem eine Umfrage der Barmer unter 150 Hausärzten: 40% von ihnen waren mit der Information durch die Klinikkollegen unzufrieden (28,7%) oder sehr unzufrieden (10,7%). Voll zufrieden hingegen waren nur magere 2% der Hausärzte. Dabei hatten 41% der befragten Patienten im Krankenhaus mindestens ein neues Medikament erhalten.

„Obwohl bei einem Großteil der Patienten die Medikation verändert wird, erhält der weiterbehandelnde Arzt häufig unzureichende und zeitverzögert eintreffende Informationen und häufig keine Begründung der Veränderungen“, sagt Grandt. Dies sei problematisch, da wissenschaftliche Untersuchungen zeigten, „dass 45 Prozent der Medikationsänderungen nach der Krankenhausbehandlung nicht intendiert, sondern versehentlich erfolgen.“

 
45 Prozent der Medikationsänderungen nach der Krankenhausbehandlung erfolgen nicht intendiert, sondern versehentlich. Prof. Dr. Daniel Grandt
 

Allerdings könnten die Ärzte hüben und drüben der Sektorengrenze das Problem nicht einfach abstellen. Nicht die Ärzte seien das Problem, so der Report. Sondern der Mangel an Daten und ihrer digitalen Verarbeitung. Im Barmer-Projekt „Transsektorale Optimierung der Patientensicherheit“ (TOP) stellt die Kasse den Ärzten in Klinik und Praxis die Abrechnungsdaten der Patienten über eine spezielle Software zur Verfügung.

Sobald der Patient eingewilligt hat, stehen dem Arzt die Arzneimittel, die Angaben über die Erkrankung, die Behandlung, die behandelnden Ärzte und die Klinikaufenthalte des Patienten zur Verfügung. So soll der Arzt die Gelegenheit bekommen, die Versorgungsbrüche in der Arzneimitteltherapie zu vermeiden.

 

Kommentar

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