Warum nimmt COVID-19 bei Diabetespatienten so oft einen ungünstigen Verlauf? Diabetes-Experten haben in einem Übersichtsartikel die Risikofaktoren systematisch bewertet, darunter Alter und Komorbidität, aber auch den Einfluss der Medikamente. Ihre Schlussfolgerung: Entscheidend ist die Höhe des Blutzuckers.
„COVID-19 bei Menschen mit Diabetes – diesen Titel haben die Autoren ihrem Review völlig zu Recht gegeben. Denn das unterstreicht, dass der Diabetes im Vordergrund steht“, erklärt Prof. Dr. Andreas Fritsche, Diabetologe an der Universität Tübingen, im Gespräch mit Medscape.
Tatsächlich sei Diabetes die viel gravierendere Pandemie, was allerdings in der öffentlichen Diskussion ebenso wie bei der Verteilung der Ressourcen meist vernachlässigt werde, kritisiert der Inhaber des Lehrstuhls für Ernährungsmedizin und Prävention: „Sicher, man kann nicht die eine Krankheit gegen die andere aufrechnen, jede ist auf ihre Art schlimm. Und doch lässt sich kaum abstreiten, dass COVID-19 von der Häufigkeit her im Vergleich zu Diabetes eher unter ,ferner liefen‘ rangiert.“
Denn an Diabetes sind allein in Deutschland rund 7 Millionen Menschen erkrankt, 170.000 sterben jährlich – eine ganz andere Dimension als die bisher etwa 220.000 SARS-CoV2-Infizierten und knapp 10.000 Todesfälle. „Mit diesem Ungleichgewicht zurechtzukommen, fällt mir als Diabetologen nicht leicht“, sagt Fritsche.
Verdoppelte Mortalitätsrate bei Diabetes plus COVID-19
Erstaunlich sei, dass Diabetespatienten sich offenbar nicht vermehrt mit COVID-19 anstecken, wie das bei früheren Epidemien registriert wurde, etwa dem Severe Acute Respiratory Syndrome SARS, Middle East Respiratory Syndrome MERS und Influenza H1N1. Doch aktuell unterscheidet sich ihr Anteil unter den Infizierten mit rund 10% nicht wesentlich von dem in der Allgemeinbevölkerung, fanden Studien in China und Norditalien.
Umgekehrt aber stellen Diabetespatienten ein gutes Drittel der Infizierten mit schwerem COVID-19-Verlauf. So benötigen sie häufiger eine Behandlung im Krankenhaus und auf der Intensivstation, Herz- und Leberenzyme sind stärker erhöht, die Pneumonie ist ausgeprägter. Auch die Mortalität ist erhöht: In einer großen britischen Studie lag sie im Vergleich zu Infizierten ohne Diabetes etwa 2-fach höher, bei Typ-1-Diabetes sogar 3,5-fach, berichten Dr. Matteo Apicella und seine Kollegen, alle von der Universität Pisa [1].
Mortalitätsrisiko steigt bei erhöhtem HbA1c
Wie ist die schlechte Prognose zu erklären? „Die Gründe sind vielfältig, was den Syndromcharakter des Diabetes widerspiegelt – dass also viele Organfunktionen beeinträchtigt sind“, erläutert Fritsche. „Maßgeblich aber sind die Blutzuckerwerte, und zwar nicht erst bei oder nach der Krankenhausaufnahme, sondern schon vorher. Das bestätigt die Mehrzahl der Studien.“
Liegt der HbA1c bereits vorab über 7,5%, ist das Mortalitätsrisiko mehr als 3-mal höher als bei niedrigeren Werten, ergab eine Studie. Eine Hyperglykämie zum Zeitpunkt der Klinikaufnahme war der sicherste Prädiktor für schlechte Befunde beim Röntgenthorax.
Und ist die Blutglukose während des Klinikaufenthalts erhöht, liegt die Komplikations- und Mortalitätsrate niedriger als bei geringeren Werten. Fritsche merkt dazu an: „Boris Johnson animiert die Briten in einer Kampagne zum Abnehmen, um den Verlauf von COVID-19-Infektionen abzumildern. Dabei ist ein Zuviel an Blutzucker riskanter als ein Zuviel an Gewicht. Oder anders und überspitzt gesagt: Diabetes gut einzustellen, nutzt der Volksgesundheit mehr, als Kitas und Schulen zu schließen.“
Hoher Blutzucker gefährdet auch Infizierte ohne Diabetes
Selbst für Infizierte ohne Diabetes bedeuten erhöhte HbA1c-Werte eine Gefahr: Das Risiko für einen Aufenthalt auf einer Intensivstation, Notwendigkeit einer mechanischen Beatmung oder Tod ist dann höher als für Patienten mit Normwerten. „Diese Ergebnisse sprechen für eine sorgfältige Kontrolle der Hyperglykämie, und zwar unabhängig von einem bekannten Diabetes“, betonen die italienischen Autoren.
Warum wirken sich hohe Glukosespiegel so fatal aus? Das sei nicht ganz klar, sagt Fritsche: „Möglich wäre ein direkter Effekt: Das Immunsystem wird gehemmt. Der Organismus kann aber auch indirekt geschwächt werden, nämlich durch die Folgen für Arterien, Herz oder Blutgerinnung.“
Eine Gefahr bedeutet für Diabetespatienten mit COVID-19 weiterhin die Ketoazidose. Bei ihnen kommt sie einer Studie zufolge fast doppelt so häufig vor wie bei Infizierten ohne Diabetes (6% zu 12%). Ein Drittel überlebt nicht.Mögliche Ursachen der Stoffwechselentgleisung: Weil sie fast nichts mehr essen (können), halten die Patienten ihre Medikamente für unnötig und setzen sie ab.
Zudem trägt SARS-CoV-2 möglicherweise direkt dazu bei, indem es durch Bindung an β-Zellen die Insulinproduktion stoppt. „Die Hypothese, dass Viren die β-Zellen schädigen und damit de novo Diabetes auslösen, gibt es schon lange.
Beobachtet wurde das beispielsweise bei Coxsackie-Viren, aber auch aktuell bei COVID-19. Wie groß die Gefahr tatsächlich ist, wird sich aber erst herausstellen, wenn entsprechende Studien ausgewertet sind“, so Fritsche.
Bei schwerem Verlauf eventuell Umstellung auf Insulin
Welche glukosesenkende Therapie sollten Diabetespatienten mit COVID-19 erhalten? Sofern sie ausreichend essen und trinken und häufig den Blutzucker messen, sei bei mildem Verlauf keine Änderung erforderlich, raten Apicella und Kollegen.
Bei schwerem COVID-19 und Klinikaufenthalt sei eine Umstellung, etwa auf Insulin, zu erwägen. Das habe bei Infizierten mit Hyperglykämie den Blutzucker und damit die Prognose gebessert.
„Die Entscheidung sollte auf mehreren Faktoren basieren: Schweregrad von COVID-19, Nahrungsaufnahme, Blutzuckerwerten, Hypoglykämierisiko, Nierenfunktion und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten“, schreiben die Autoren aus Pisa.
Zwar hätten Studien zu Glukosesenkern keine Unterschiede für die Prognose ergeben, doch bestünden einige Besonderheiten. So ist mit Metformin, GLP-1-Rezeptor-Agonisten, DPP-4- und SGLT2-Inhibitoren keine Hypoglykämie zu befürchten. DPP-4-Inhibitoren, GLP-1-Rezeptor-Agonisten und Pioglitazon hemmen vermutlich die Entzündung.
Dem stehen Nachteile gegenüber: So empfehlen Apicella und Kollegen etwa das Absetzen von Metformin bei Atemnot, Nieren- oder Herzinsuffizienz wegen des Risikos einer Laktatazidose, von GLP-1-Rezeptor-Agonisten bei schwerem COVID-19 wegen Aspirationsgefahr und von Sulfonylharnstoffen wegen möglichen Hypoglykämien.
Effekte von COVID-19-Therapien
Um bei COVID-19 gute Blutzuckerwerte sicherzustellen, sind auch die Effekte antiviraler Medikamente zu beachten. (Hydroxy-)Chloroquin kann durch Einfluss auf Sekretion, Abbau und Wirkung von Insulin eine Hypoglykämie herbeiführen.
Umgekehrt begünstigen Lopinavir und Ritonavir eine Hyperglykämie. Zudem wirken sie toxisch auf Leber und Muskeln, so dass bei Statintherapie und bei Fettleberkrankheit Vorsicht geboten ist.
Glukokortikoide, die bei schwerer Atemnot eingesetzt werden, können durch Glukoneogenese und verschlechterte Insulinresistenz ebenfalls eine ausgeprägte Hyperglykämie verursachen.
Wechselwirkungen zwischen Virustatika und Antidiabetika
Bedenken sollten Ärzte weiterhin, dass Wechselwirkungen zwischen antiviralen und antidiabetischen Medikamenten die Effektivität beider entweder verstärken oder abschwächen können.
Der Blutzucker steht zwar im Zentrum, wenn sich Diabetes und COVID-19 überlagern, doch sind weitere Kriterien relevant. Die italienischen Forscher analysieren sie gemäß der Devise: „Eine sorgfältige Bewertung der vielen Komponenten, die zur schlechten Prognose bei Diabetespatienten mit COVID-19 beitragen, könnte die beste, wenn nicht sogar die einzige Möglichkeit darstellen, um die jetzige Situation in den Griff zu bekommen.“
Alter, Geschlecht, Ethnie
Pauschal betrachtet sterben in der Altersgruppe von 50 bis 59 – der Dekade mit der höchsten COVID-19-Prävalenz – 2,3% der Infizierten, ab 80 Jahren schon 15%. Für alte Menschen mit Diabetes ist die Prognose noch schlechter, zumal Infizierte mit Diabetes mindestens 10 Jahre älter sind als Infizierte ohne Diabetes. Meist dauert die Stoffwechselstörung dann schon länger, so dass mit größerer Wahrscheinlichkeit bereits Komplikationen und Komorbiditäten eingetreten sind.
So hatten in einer retrospektiven Analyse zu COVID-19 fast 2 Drittel der Diabetespatienten Bluthochdruck, ein Fünftel litt an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wogegen es bei Infizierten ohne Diabetes nur jeweils etwa halb so viele waren.
Eine ebenfalls besonders gefährdete Gruppe sind Männer: Obwohl sie sich etwa gleich häufig mit SARS-CoV-2 anstecken wie Frauen, endet die Infektion bei ihnen öfter tödlich, nämlich bei 2,8% im Vergleich zu 1,7% bei Frauen.
In einer US-Analyse machten Afroamerikaner 33% der Klinikpatienten mit COVID-19 aus, aber nur 18% der Stichprobenpopulation. Ebenso wurden aus überwiegend schwarzen Bezirken der USA 3-mal höhere Infektions- und 6-mal höhere Todesraten gemeldet als aus überwiegend weißen Distrikten. Ähnliches gilt für Hispanoamerikaner oder Ureinwohner.
Als Ursachen vermutet das Team um Apicella einen abträglichen Lebensstil und sozioökonomische Nachteile: überfüllte Wohnungen, Arbeitsplätze, wo sich Erreger leicht verbreiten. Zudem tragen sie vermehrt gesundheitliche Risiken. „Diabetes ist ebenso wie Bluthochdruck und Adipositas vor allem ein Problem wenig privilegierter Bevölkerungsschichten, auch in Deutschland“, bestätigt Fitsche.
Kardiovaskuläre Erkrankungen
Hoher Blutdruck ist die bei weitem häufigste Komorbidität sowohl bei COVID-19 als auch bei Diabetes: Er liegt bei 80% der Diabetespatienten vor und mehr als der Hälfte (56%) derer, die mit COVID-19 ins Krankenhaus kommen.
Weil das Virus über ACE2-Rezeptoren in die Zellen eindringt, wurde spekuliert, ob ACE-Hemmer die Infektion begünstigen, indem sie die Rezeptordichte erhöhen. Doch ließ sich das als Ursache für die hohe Prävalenz der Infektion bei Hypertoniepatienten nicht bestätigen, berichten Apicella und Kollegen.
COVID-19 greift das Herz an. So fanden sich bei schweren Verläufen erhöhte Troponinwerte oder in Autopsien Myokarditis und Perikarditis. Als Ursachen kommen in Frage: Sauerstoffmangel infolge der Lungenentzündung, Immun- und Elektrolytstörungen, unerwünschte Effekte etwa von Hydroxychloroquin und Azithromycin oder eine direkte Schädigung durch das Virus. Diabetespatienten haben schon von vornherein ein 2- bis 3-fach erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, so dass eine Infektion sie in dieser Hinsicht ebenfalls stark gefährdet.
Adipositas, Gerinnung, Entzündung
Nahezu alle Diabetespatienten sind zudem stark übergewichtig. Adipositas ist bei COVID-19 von vornherein mit schwerer Erkrankung und Tod assoziiert. Ein Grund: Bauchfett erschwert die Atmung, so dass die Patienten vermehrt invasive Verfahren brauchen. Weiterhin könnte das epikardiale Fettgewebe, das parallel zum BMI zunimmt und pro-inflammatorische Botenstoffe aussendet, eine Myokarditis durch SARS-CoV-2 verschlimmern.
Die Gefahr verstärkt sich, wenn Adipositas und Diabetes zusammentreffen. Beiden gemeinsam ist der prothrombotische Zustand, der bei zusätzlicher Gerinnungsneigung durch COVID-19 Venenthrombosen und Lungenembolien begünstigt.
Weiterhin liegen gehäuft eine Fettleberkrankheit vor, die bei COVID-19 die Mortalität erhöht, sowie eine chronische Entzündung, die das entzündliche Geschehen durch SARS-CoV-2 beschleunigt. Deshalb ist auch die Wahrscheinlichkeit eines Zytokinsturms erhöht.
Auslöser ist die Infektion von T-Zellen, die zu einer überschießenden Bildung von Mediatoren führt und in der Folge zur Hyperpermeabilität der Gefäße, Multiorganversagen und Tod.
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) hat auf ihrer Homepage die Seite „Corona-Update“ eingerichtet. Dort hat sie u.a. eine Stellungnahme „Praktische Empfehlungen zum Diabetes-Management bei Patientinnen und Patienten mit einer COVID-19-Erkrankung“ und ein „Positionspapier des DDG Ausschusses Diabetes und Soziales zur Teilhabe von Menschen mit Diabetes am öffentlichen Leben in Zeiten der COVID-19-Pandemie“ veröffentlicht.
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Review zu Diabetes und COVID-19 analysiert Risikofaktoren: Höherer HbA1c-Wert vermehrt mit schwerem Verlauf assoziiert - Medscape - 14. Aug 2020.
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