Die EU-Gesetzgebung (141/2000) hat dazu beigetragen, dass Pharmahersteller Orphan-Arzneimittel als lukratives Geschäftsmodell entdeckt haben. Das legt eine Untersuchung nahe, die jetzt im BMJ erschienen ist [1]. Die Journalisten Daan Marselis und Lucien Hordijk von ‚The Investigative Desk‘ zeigen darin, dass der durchschnittliche Jahresumsatz aller Orphan-Arzneimittel seit 2001 von 133 Millionen Euro auf 723 Millionen Euro im Jahr 2019 gestiegen ist.
Marselis und Hordijk haben in ihrer Arbeit die weltweiten Verkaufsdaten von 120 Orphan-Arzneimitteln (von insgesamt 174 in der EU registrierten Orphan-Medikamenten) analysiert. Sie stellten fest, dass es allein 2019 in der EU 20 solcher Nischenprodukte gab, die zu Blockbustern avancierten, d.h. mit denen überdurchschnittlich viel Geld verdient wurde – 2009 waren es noch 3 gewesen.
Besonders lukrativ seien Medikamente für seltene Krebsarten mit einem durchschnittlichen Umsatz von 1,1 Milliarden Euro: Das ist doppelt so viel wie der Umsatz mit Medikamenten für andere seltene Krankheiten.
Die im Jahr 2000 in Kraft getretene EU-Verordnung wollte eigentlich die Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen verbessern – doch 20 Jahre nach ihrer Einführung stehen nur für 1 bis 2% der seltenen Erkrankungen Orphan-Arzneimittel zur Verfügung.
Marselis und Hordijk schreiben, dass die hohen Preise für diese Medikamente selbst in den wohlhabendsten EU-Mitgliedsstaaten zunehmend zu Kontroversen führen; gleichzeitig zeigten Studien, dass der Zugang zu Orphan-Arzneimitteln innerhalb der EU ungleich verteilt ist.
„Hochspannend und eindrucksvoll durch Zahlen belegt“, wertet Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, im Gespräch mit Medscape die Arbeit von Marselis und Hordijk. „Die Studie“, so Ludwig, scheine sorgfältig recherchiert zu sein und „bestätigt, was ich seit Jahren kritisiere.“
Sicherheit und Wirksamkeit mitunter unzureichend belegt
Wegen hoher Kosten für Forschung und Entwicklung und geringer Umsatzerwartungen war die Entwicklung von Orphan-Arzneimitteln lange Zeit vernachlässigt worden. Studien zeigen, dass sich ursprünglich nur wenige Pharmahersteller im Bereich Forschung und Entwicklung von Orphan-Arzneimitteln engagiert hatten.
Die EU-Regelung 141/2000 sollte das ändern. Unternehmen, die solche Mittel herstellten, erhielten dazu eine ‚Marktexklusivität‘, die ihnen praktisch ein Verkaufsmonopol über die Dauer von 10 Jahren einräumt.
Prof. Dr. Sven Bostyn, außerordentlicher Professor für biomedizinisches Innovationsrecht an der Universität Kopenhagen, meint, dass die Marktexklusivität „Unternehmen ein beispielloses Instrument zur Abschottung der Märkte an die Hand“ gibt.

Prof. Dr. Wolf Dieter Ludwig
Im Jahr 2000 sei die EU-Regelung (141/2000) sicherlich berechtigt gewesen, sagt Ludwig. Die USA hatten schon eine entsprechende Regelung. Man musste etwas tun, um den Herstellern Anreize für den europäischen Markt zu bieten und es ihnen zu erleichtern, Medikamente für seltene Erkrankungen zu entwickeln und auf den europäischen Markt zu bringen.
„Doch heute – 20 Jahre später – müssen die Regelungen von damals überdacht und aufgrund der Erfahrungen der letzten 20 Jahre geändert werden. Heute sieht man, dass Arzneimittelhersteller die Regelungen ausnutzen und darüber enorme Umsätze – wir reden hier von Milliarden – erzielen. Und dass dann sogar noch überlegt wird, den Status der Marktexklusivität – der eigentlich nach 10 Jahren endet – noch zu verlängern“, so Ludwig.
Dass das von Marselis und Hordijk erwähnte Beispiel – das Krebsmedikament Revlimid® (Wirkstoff: Lenalidomid, Hersteller Celgene) – ein regelrechter Gold Rush für die Firma war, sei seit Jahren bekannt und werde durch Analysen, in denen die Umsätze von Medikamenten untersucht werden, bestätigt. „Dass ein solches Mittel jetzt möglicherweise auch noch eine Verlängerung der Marktexklusivität bekommt, halte ich für inakzeptabel“, sagt Ludwig.
Im Arzneiverordnungs-Report 2019 hatten Ludwig und Prof. Dr. Ulrich Schwabe im Kapitel ‚Orphan-Arzneimittel‘ dargestellt, dass die mit der Gesetzgebung in den USA, in Europa und Japan eingeräumten finanziellen Anreize wie auch die durch Biomarker mögliche Unterscheidung kleiner Patienten-Untergruppen inzwischen dazu geführt haben, dass auch große pharmazeutische Unternehmer Orphan-Arzneimittel als lukratives Geschäftsfeld erkannten.
„Mitunter unzureichend belegt“ sei zudem die Wirksamkeit und Sicherheit von Orphan-Arzneimitteln. Darauf weist Ludwig im Beitrag „Orphan Drugs aus Sicht der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft“ hin. So zeigten beispielsweise Untersuchungen zu 63 Orphan-Arzneimitteln, dass randomisierte, kontrollierte Studien (RCT) nur für gut die Hälfte der Mittel durchgeführt und Placebo als Vergleichsarm nur bei etwa der Hälfte der zugelassenen Orphan-Arzneimittel verwendet wurde. Ein Drittel der Orphan-Arzneimittel in klinischen Studien wurde an weniger als 100 Patienten untersucht.
EU-Evaluierung: War das Marktmonopol teilweise überflüssig?
Laut Marselis und Hordijk kommt eine offizielle, noch unveröffentlichte, von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Evaluierung, die 146 Orphan-Arzneimittel untersucht hatte, zu dem Schluss, dass nur 18 bis 24% der Mittel allein aufgrund der EU-Verordnung eingeführt wurden. Die Mehrheit, so die Schätzung, hätte wohl ohnehin den Markt erreicht. Das wiederum bedeute, dass mehr als 120 Orphan-Arzneimittel überflüssigerweise ein Marktmonopol erhalten hätten.
Die Evaluation habe auch ergeben, dass nur 28% der registrierten Orphan-Arzneimittel für Krankheiten eingesetzt werden, für die es keine alternativen Behandlungsmöglichkeiten gebe. Gleichzeitig blieben 95% der seltenen Krankheiten ohne Therapie.
Marselis und Hordijk schreiben außerdem, dass die EMA gebeten wurde, die Ergebnisse zu kommentieren, diese aber erklärt habe, „dass es nicht angebracht wäre, die Studie der [Europäischen] Kommission vor ihrer Veröffentlichung zu kommentieren“. Die Europäische Kommission wiederum, so Marselis und Hordijk, wolle die Ergebnisse bis zur Veröffentlichung ebenfalls nicht kommentieren, obwohl die Ergebnisse dem Pharmazeutischen Komitee, einer Expertengruppe von EU-Beratern, auf der Sitzung am 12. März mitgeteilt worden seien.
Ob die EMA den Missbrauch wirksam bekämpfen könne, ohne dass die Gesetzgebung selbst geändert werde, bleibe abzuwarten, schreiben Marselis und Hordijk. Ihrer Einschätzung nach aber „hadert die EMA hinter verschlossenen Türen mit den Ergebnissen der EU-Gesetzgebung zu Orphan-Arzneimitteln“.
Kriterien der EU-Verordnung müssen überarbeitet werden
Ludwig betont, dass es jetzt notwendig sei, beide Kriterien der EU-Regelung – das Prävalenzkriterium und das Wirtschaftlichkeitskriterium – zu überarbeiten, um Missbrauch zu verhindern.
Für rasche Reformen der Verordnung hatten Schwabe und Ludwig auch im Arzneiverordnungsreport 2019 plädiert und unter anderem eine größere Kostentransparenz der erzielten Gewinne vorgeschlagen, die genaue Definition von Begriffen wie „unmet medical need“ bzw. „significant benefit“ und die Rückzahlung von ökonomischen Anreizen, wenn eine gewisse Einnahmenhöhe überschritten wird.
Auch müssten die häufig zu hohen Kosten für die Medikamente besser reguliert werden, um allen Patienten mit seltenen Krankheiten in Europa den Zugang zu Orphan Drugs zu ermöglichen.
Die EMA sehe die Notwendigkeit, ihr seien aber die Hände gebunden, denn die Europäische Kommission muss die entsprechenden Änderungen beschließen – „und in Brüssel sind viele Lobbyisten der Pharmaindustrie sehr aktiv und auch erfolgreich tätig. Ich bin mir trotzdem ziemlich sicher, dass etwas passieren wird“, sagt Ludwig. Denn die Europäische Kommission habe im Prinzip erkannt, dass Handlungsbedarf bestehe und die Regeln überarbeitet werden müssen.
So ist in der „Roadmap Pharmaceutical Strategy“ der Europäischen Kommission auch schon vermerkt, dass die EU den Bedarf an Maßnahmen im Zusammenhang mit der Überarbeitung der Rechtsvorschriften zu Orphan-Arzneimitteln (EU-Verordnung 2018/781) prüfen will.
„Aber die Mühlen mahlen sehr langsam, und im Augenblick mahlen sie gar nicht“, sagt Ludwig. „Da Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft innehat, war ich zunächst optimistisch gestimmt und hoffte, dass Herr Spahn nicht nur das Problem Lieferengpässe, sondern auch die regulatorischen Vorgaben für Orphan Drugs anpackt. Im Augenblick habe ich allerdings eher den Eindruck – auch aufgrund der Gefahr durch COVID-19 – dass der Bekämpfung der Pandemie alles andere untergeordnet wird. Selbst um das Thema Lieferengpässe – weiterhin ein Riesenproblem – ist es still geworden.“
Medscape Nachrichten © 2020 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Mit Nischenprodukten Milliarden verdienen – dank EU-Recht wurden Orphan Drugs zum lukrativen Geschäftsmodell - Medscape - 7. Aug 2020.
Kommentar