„Wir wissen immer noch sehr wenig über COVID-19, aber wir wissen, dass wir das, was wir nicht messen, nicht bekämpfen können“, schreibt Prof. Dr. Nisreen A. Alwan im Blog BMJ Opinion [1]. Sie ist Professorin für Public Health an der University of Southampton und ehrenamtliche Beraterin für Public Health am University Hospital Southampton, Großbritannien, NHS Foundation Trust. Ihre Forderung: Auch leichte Formen der Erkrankung müssen klar definiert und systematisch erfasst werden – mit Parametern wie der stationären Behandlung und der Mortalität ist es nicht getan – es geht auch um langwierige gesundheitliche Folgen. Sie fordert dies auch aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen. Hier ihr Statement:
„Es ist der Morgen danach. Gestern Abend machte ich mit meiner kleinen Tochter, die draußen unbedingt Blumen sehen wollte, einen 20-minütigen langsamen Spaziergang. Meine körperliche Belastbarkeit ist immer noch furchtbar gering, und ich wusste, dass ich den Preis dafür am nächsten Tag bezahlen würde. Tatsächlich wachte ich mit der bekannten Brustschwere und mit völliger Erschöpfung auf, was noch schlimmer wird, wenn ich am Schreibtisch sitze, um zu arbeiten.
‚Mildes‘ COVID-19: Es gibt keine Falldefinition
Dieses Muster beobachte ich seit Beginn meiner COVID-19-Symptome in der 2. Märzhälfte. Man hat mich nie getestet, weil Untersuchungen der Bürger Großbritanniens am 12. März ganz eingestellt wurden, so dass ich keinen Beweis für meine Infektion habe – außer den Berichten tausender Menschen, die ähnliche Erfahrungen mit Symptomen beschreiben, welche monatelang anhalten. Von uns gibt es keine [medizinischen] Aufzeichnungen.
Die Pandemie wurde anhand von Todesfällen und Krankenhaus-Einweisungen gemessen. Es fällt mir schwer, eine genaue Falldefinition für „mildes“ COVID-19 zu finden, das ich angeblich hatte und von dem ich mich immer noch nicht vollständig erholt habe.
In vielen Ländern scheint es üblich zu sein, dass jeder mit Symptomen, aber ohne Krankenhausaufenthalt, als „leichter“ Fall bewertet wird, aber der Schweregrad von COVID-19 muss durch die Dauer der Erkrankung und nicht nur durch die Notwendigkeit einer Krankenhaus-Einweisung definiert werden. Wenn alle Symptome länger als einen Monat andauern und zu einer Beeinträchtigung der üblichen Aktivitäten führen, ist es unvernünftig, von einem „milden“ Fall zu sprechen. Dieses falsche Verständnis von ‚mild‘ ist nicht ideal für Strategien zur Prävention während der Pandemie.
Die Infektion wird in der Bevölkerung nach wie vor so dargestellt, als seien nur ältere Menschen und chronisch Kranke betroffen, während ‚gesunde‘ Menschen keine oder nur kurze Symptome hätten, wenn sie sie bekämen. Aber es gibt Anzeichen dafür, dass dies für einen erheblichen Teil der Infizierten nicht zutrifft.
Eine niederländische Befragung unter mehr als 1.600 Covid-19-Patienten, von denen 91% nicht ins Krankenhaus eingeliefert worden waren und 85% ihren Gesundheitszustand vor der Infektion als ‚gut‘ bezeichnet hatten, ergab, dass Symptome wie Müdigkeit (88%), Kurzatmigkeit (75%), ein Druckgefühl auf der Brust (45%), Kopfschmerzen (40%), Muskelschmerzen (36%) und Herzklopfen (32%) noch Monate nach der Erstinfektion andauerten.
Fast die Hälfte der Befragten gab an, dass sie immer noch nicht wieder in der Lage seien, Sport zu treiben. Und Daten der UK COVID Symptom Study App zeigen, dass 10% aller Personen, die über Symptome berichten, länger als 3 Wochen krank sind.
Viele Patienten mit ‚mildem‘ COVID-19 sind wochenlang arbeitsunfähig
Es gibt enorme Auswirkungen auf die Produktivität bei längerer Krankheitsdauer nach der Erstinfektion mit SARS-CoV-2. So waren z.B. viele Ärzte mehrere Wochen lang nicht in der Lage, zu arbeiten. Dabei handelt es sich größtenteils um junge und gesunde Menschen, von denen erwartet wurde, dass sie die Infektion wie eine gewöhnliche Erkältung überstehen und innerhalb weniger Tage wieder zur Arbeit zurückkehren.
Es gibt 12.900 Mitglieder der Facebook-Gruppe Long COVID und über 14.000 Mitglieder der Selbsthilfegruppe The Body Politic Slack-channel COVID-19. Länder, die eine ‚Laissez-faire‘-Mentalität gegenüber der Pandemie hatten, indem sie das Virus akzeptierten oder Bürger sogar dazu ermutigten, sich in der Öffentlichkeit aufzuhalten, während sie nur die Schwachen schützten, haben diese Möglichkeit nicht in Betracht gezogen. Herdenimmunität durch natürliche Infektion hätte meines Erachtens niemals als praktikable Strategie gelten dürfen, um ein neues Virus zu erforschen, über dessen gesundheitliche Folgen auf Bevölkerungsebene wir bislang keinerlei Erkenntnisse haben.
Wir wissen immer noch nicht einmal genau, wer ‚die Schwachen‘ sind, die wir schützen müssen – dies nicht nur in Bezug auf die Mortalität, sondern auch in Bezug auf mittelfristige bis langfristige Folgen für die Gesundheit.
Als Ärztin für Public Health und Epidemiologie bin ich der festen Überzeugung, dass wir jetzt die ‚Genesung‘ von COVID-19 klar definieren und messen müssen. Nur auf diese Weise können wir die nicht-tödlichen Folgen für die Gesundheit quantifizieren und die langfristigen Auswirkungen des Virus monitoren. Diese Definition muss differenzierter sein als nur die Entlassung aus dem Krankenhaus oder ein negativer Test auf das Virus. Sie muss Symptomdauer, Änderungen, die Gesamtfunktionalität und die Lebensqualität im Vergleich zum Zeitpunkt vor der Infektion berücksichtigen.
Wenn wir momentan nicht über ausreichende Informationen verfügen, um ‚mild‘ zu definieren, dann sollten wir den Begriff nicht zu locker verwenden, da er sonst der Pandemie-Bekämpfung schadet.
Nicht nur die Mortalität bei COVID-19 betrachten
Was jetzt klar wird, ist, dass die Mortalität nicht die einzige negative Folge dieser Infektion ist, und unsere Monitoring-Systeme müssen dem Rechnung tragen. Ich plädiere für präzise Falldefinitionen für die COVID-19-Morbidität, die den Schweregrad der Infektion widerspiegeln und die es uns ermöglichen, mittel- bis langfristige Ergebnisse in Bezug auf die Gesundheit zu quantifizieren.
In diesem Stadium der Pandemie ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir alle Infektionsgrade genau messen und zählen – nicht nur in wissenschaftlichen Kohorten, sondern als Teil bevölkerungsbezogener Routineüberwachung. Dazu gehören auch Menschen wie ich, die zum Zeitpunkt ihrer Erstinfektion nicht getestet wurden.
Der Tod ist nicht das einzige, was bei dieser Pandemie zu zählen ist. Wir müssen auch Veränderungen im Leben erfassen. Wir wissen immer noch sehr wenig über COVID-19, aber wir wissen, dass wir nicht bekämpfen können, was wir nicht messen.“
Der Beitrag ist im Original bei BMJ Opinion erschienen und wurde von Michael van den Heuvel übersetzt.
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Diesen Artikel so zitieren: Falsches Verständnis von „mildem“ COVID-19 hemmt dessen Bekämpfung: Warum wir eine präzisere Symptomerfassung benötigen - Medscape - 5. Aug 2020.
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