Immer mehr Menschen in Deutschland leiden unter chronischen Schmerzen – aktuell sind es 3,4 Millionen. „Diesen Patienten stehen aber nur rund 1.200 ambulant tätige Schmerzmediziner gegenüber“, erklärte Dr. Johannes Horlemann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) auf der Pressekonferenz zum Auftakt des Deutschen Schmerz- und Palliativtages [1].
Die Zahlen zeigten, wie angespannt die Versorgung von Schmerzpatienten in Deutschland sei. Für eine flächendeckende Versorgung wären mindestens 10.000 ausgebildete Schmerzmediziner nötig, so Horlemann. Er machte deutlich: „Wir müssen in den nächsten Jahren dafür sorgen, dass mehr Ärzte und Therapeuten für die Behandlung von Schmerzpatienten ausgebildet werden.“
Rechtssichere Bedarfsplanung fehlt
Ein Baustein in dieser Ausbildung ist der Deutsche Schmerz- und Palliativtag. Angesichts der Zunahme chronischer Schmerzpatienten fordern Horlemann und Tagungspräsident Dr. Thomas Cegla, Chefarzt am Helios Universitätsklinikum Wuppertal, die Sicherung der schmerzmedizinischen Versorgung durch eine rechtssichere Bedarfsplanung. Weil es aktuell weder eine geregelte Ausbildung noch eine Facharzt-Qualifikation für Schmerzmediziner gibt, wird das Fachgebiet Schmerzmedizin bisher nicht in der Bedarfsplanung berücksichtigt.
Ein vom G-BA 2019 in Auftrag gegebenes Gutachten hätte den Anstoß dazu geben können, dass sich das ändert. Geprüft wurde, wie groß der Bedarf einer schmerzmedizinisch spezialisierten Versorgung ist. „Das LMU-Gutachten hat nachweislich einen fachärztlichen Versorgungsbedarf in der Fläche festgestellt“, stellte Horlemann klar. Doch obwohl das Gutachten veröffentlicht und vom G-BA angenommen wurde, seien die Erkenntnisse in den Empfehlungen der Kassenärztlichen Vereinigungen nicht umgesetzt worden, kritisierte er.
„So besteht 2020 noch immer noch keine Rechtssicherheit in der Nachbesetzung von Kassensitzen in der schmerztherapeutischen Versorgung.“ Das sei besonders schlimm, weil damit natürlich auch der Nachwuchs belastet werde, der eine rechtssichere Planung brauche.
Horlemann hält deshalb einen „Nationalen Aktionsplan Schmerz“ für notwendig: „Das würde die verschiedene Berufs- und Interessensgruppen an einen Tisch zwingen um gemeinsam zu überlegen wie man die Interdisziplinarität und die Multimodalität, die die Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen voraussetzt, auch tatsächlich in die Tat umsetzt.“
Horlemann erinnerte auch daran, dass die „Fehler im System bei der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen sehr viel Geld kosten“. Bei Begründungen von Rentenanträgen etwa sei der chronische Rückenschmerz ein erstrangiger Grund: „Von diesen Fällen wären wohl viele vermeidbar. Ich glaube auch, dass viele Patienten operiert werden, obwohl ambulante und stationäre konservative Möglichkeiten der Schmerzbehandlung noch nicht ausgeschöpft sind.“
DGS-Praxisleitlinien weichen von evidenzbasierten Leitlinien ab
Bereits in ihrem Thesenpapier 2019 hatte die DGS deutlich gemacht, dass in der Schmerztherapie das individuelle Vorgehen Vorrang vor dem standardisierten Vorgehen haben sollte. Chronische Schmerzen würden von vielen Faktoren beeinflusst – etwa der Vulnerabilität des Patienten, dessen Lebensumfeld und Beziehungsgeflecht, seinen Ressourcen – sie seien deshalb nicht standardisierbar, sondern hoch individuell, erklärt Horlemann.
Evidenzbasierte Leitlinien, die auf Standardisierung setzten, würden der Einzigartigkeit eines Patienten mit chronischen Schmerzen nicht wirklich gerecht. Konkrete Hilfestellung bieten die von der DGS entwickelten Praxisleitlinien. Sie weichen von den evidenzbasierten Leitlinien ab, weil sie nicht nur die externe Evidenz berücksichtigen, die sich aus der Literaturrecherche ergibt, sondern auch die interne Evidenz durch die Erfahrungen der Anwender und die Erfahrungen, Werte und Haltungen der Patienten.
Umgang mit älteren Schmerzpatienten
Zum Umgang mit älteren Schmerzpatienten hat die DGS jetzt ein weiteres Thesenpapier herausgegeben. Ein wichtiger Aspekt dabei: Schon die Diagnostik sollte altersadaptiert erfolgen. „Wir müssen uns Zeit nehmen für diese Patienten, denn ältere Menschen sind vergleichsweise langsamer in ihren Bewegungen, in der Sprache und der Auffassung von Informationen“, erklärte Horlemann.
Während die Schmerzbehandlung bei jüngeren Patienten darauf abziele, dass sie wieder arbeiten können, sei das Therapieziel bei chronischen Schmerzen im Alter nicht vorrangig die Schmerzreduktion, erinnerte Thomas Cegla. Faktoren wie besserer Schlaf, der Erhalt von Mobilität und Eigenständigkeit spielten ebenfalls eine wichtige Rolle. „Dazu sind viele Gespräche nötig, man muss Überzeugungsarbeit leisten. Da kann es auch mal sein, dass man den Patienten ermuntert, Hilfsmittel zu akzeptieren, sich auf einen Rollator einzulassen oder an seiner Wohnsituation etwas zu ändern“, berichtete Cegla.
Grundsätzlich sollten nicht-medikamentöse Maßnahmen immer Vorrang vor einer Pharmakotherapie haben. Ist sie aber notwendig, muss – Stichwort Multimorbidität und Multimedikation – immer auf mögliche Wechselwirkungen mit Begleitmedikamenten geachtet werden. Die regelmäßig aktualisierte FORTA-Liste gibt einen guten Überblick welche Medikamente im Alter unverzichtbar oder vorteilhaft sind, welche fragwürdig sind und welche vermieden werden sollten.
Nicht zu unterschätzen seien auch frei verkäufliche Arzneimittel, die unkritisch eingenommen und von Patienten häufig gar nicht erwähnt würden, erinnert Cegla. Er rät zur Vorsicht bei der Kombination von Schmerzmitteln mit Antidepressiva oder Antiepileptika: „Liegen beispielsweise neuropathische Schmerzen vor und ich kombiniere starke Schmerzmittel mit Antidepressiva oder Antiepileptika, können gerade beim älteren Patienten kognitive Einschränkungen auftreten, der Patient wird müder oder verwirrt. Da muss man sehr sorgsam vorgehen, weniger ist da sicherlich mehr.“
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: 3,4 Millionen Schmerz-Patienten – 1.200 Schmerz-Mediziner: Ärzte fordern bessere Bedarfsplanung und individuellere Therapien - Medscape - 27. Jul 2020.
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