Erblast im Visier: Keimbahn-Analyse könnte bei fortgeschrittenen Tumoren zielgerichtete Therapie ermöglichen

Roxanne Nelson

Interessenkonflikte

24. Juli 2020

Zwischen 7 und 9% der Patienten mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung weisen genetische Varianten in einem Krebs-Prädispositionsgen auf, die sich potenziell für eine zielgerichtete Therapie eignen. Das ist das Ergebnis der ersten Studie, die sich einer solchen Fragestellung widmet. Sie wurde auf dem virtuell stattfindenden Kongresses 2020 der American Society of Clinical Oncology (ASCO) vorgestellt [1].

An der Untersuchung nahmen 11.974 Patienten mit verschiedenen Tumorerkrankungen teil. Alle Patienten waren zwischen 2015 und 2019 im Memorial Sloan Kettering Cancer Center (MSKCC) in New York einer genetischen Keimbahntestung mit dem Next-Generation-Sequenzierungstest (NSG) MSK-IMPACT unterzogen worden.

 
Unsere Studie ist die erste umfassende Bewertung des klinischen Nutzens von Keimbahnveränderungen als therapeutische Angriffspunkte bei Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen. Dr. Zsofia K. Stadler
 

Dadurch wurden 2.043 Patienten (17,1%) mit Varianten in Krebs-Prädispositionsgenen identifiziert. 849 der Patienten (7,1%) wiesen bei Anlage strenger Kriterien gezielt ansteuerbare Gene auf. Bei weniger strengen Kriterien waren es 1.003 Patienten (8,6%).

„Natürlich sind diese Werte nicht in Stein gemeißelt“, kommentierte die Erstautorin der Studie und Onkologin am MSKCC Dr. Zsofia K. Stadler. „Und mit dem Aufkommen neuartiger zielgerichteter Therapien mit neuen FDA-Indikationen werden diese Gen-Varianten mit der Zeit wahrscheinlich zunehmend ins therapeutische Visier geraten.“

„Unsere Studie ist die erste umfassende Bewertung des klinischen Nutzens von Keimbahn-Veränderungen als therapeutische Angriffspunkte bei Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen“, fügte sie hinzu.

Die Testung auf somatische Mutationen gehört bei vielen Krebsarten zum Standardmanagement und wird immer mehr zum integralen Bestandteil der Therapie bei fortgeschrittenen Krebserkrankungen. Nach Studien weisen 9 bis 11% der Patienten anvisierbare genetische Veränderungen auf, die auf der Basis von Tumorprofilen ermittelt wurden.

„Die Folge daraus ist, dass auch Keimbahntests heute mehr denn je indiziert sind, wenn es um die Auswahl der bestmöglichen Krebstherapie geht“, sagte Dr. Erin Wysong Hofstatter von der Yale School of Medicine in New Haven, Connecticut, in einer virtuellen Sitzung zu den Höhepunkten des Kongresstages.

Eine sich abzeichnende Indikation für Keimbahntests sei die Therapieauswahl im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung, bemerkte sie. „Dabei ist es wichtig, seinen Test zu kennen. Eine Tumorsequenzierung ist kein Ersatz für umfassende Keimbahntests.“

Suche nach pathogenen Keimbahn-Veränderungen

Für ihre Studie überprüften Stadler und ihr Team die Daten von Patienten mit wahrscheinlich pathogenen/pathogenen Keimbahn-Veränderungen (LP/P) in Genen, die als therapeutische Ziele bekannt sind, um eine auf die Keimbahn gerichtete Therapie in einem entweder klinischen oder in einem Forschungssetting zu bestimmen.

„Seit 2015 können Patienten, die eine MSK-IMPACT-Sequenztestung machen lassen, auch die Einwilligung für eine sekundäre genetische Keimbahn-Analyse geben, bei der bis zu 88 Gene analysiert werden, die bekanntermaßen mit einer Krebsdisposition verbunden sind“, sagte sie. „Die identifizierten pathogenen und wahrscheinlich pathogenen Keimbahn-Veränderungen werden dem Patienten und dem behandelnden Arzt über den Clinical Genetic Service mitgeteilt.“

 
Eine Tumorsequenzierung ist kein Ersatz für umfassende Keimbahntests. Dr. Erin Wysong Hofstatter
 

Insgesamt wurden 2.043 (17,1%) Patienten identifiziert, die LP/P-Varianten in einem Krebs-Prädispositionsgen aufwiesen. Davon zeigten 11% pathogene Veränderungen in Krebs-Prädispositionsgenen mit hoher oder mittlerer Penetranz. Beschränkte sich die Analyse auf Gene mit gezielt adressierbarer Variante oder auf das, was die Autoren als Stufe-1- und Stufe-2-Gene definierten, so wiesen 7,1% der Patienten eine angreifbare pathogene Keimbahn-Veränderung auf.

Veränderungen des BRCA-Gens betrafen die Hälfte der Befunde (52%), und 20% waren mit dem Lynch-Syndrom assoziiert (hereditäres nichtpolypöses kolorektales Karzinom).

Die Gene der Stufe 2, zu denen PALB2, ATM, RAD51C und RAD51D gehören, machten etwa ein Viertel der Befunde aus. Hofstatter bemerkte, dass bei Anlage strenger Kriterien bei 7,1% der Patienten eine pathogene Veränderung und ein angreifbares Gen festgestellt wurden. Bei Anwendung weniger strenger Kriterien, zusätzlicher Stufe-3-Gene und weiterer Gene, die mit der DNA-Reparatur durch homologe Rekombination assoziiert sind, stieg der Wert auf 8,6%.

Gezielte Therapien

Zur Bestimmung der therapeutischen Angreifbarkeit wurden strengere Kriterien herangezogen. Man identifizierte 593 Patienten (4,95%) mit einer rezidivierenden oder metastasierenden Tumorerkrankung. Für diese Patienten war die Möglichkeit einer zielgerichteten Therapie als Teil der Standardtherapie oder im Rahmen eines Forschungsprotokolls wichtig.

Von dieser Gruppe erhielten 44% eine Therapie, die auf die Keimbahnveränderungen abzielte. Im Hinblick auf spezifische Gene erhielten 50% der BRCA1/2-Träger und 58% der Patienten mit Lynch-Syndrom eine zielgerichtete Therapie. Was die Gene der Stufe 2 betrifft, bekamen 40% der Patienten mit PALB2, 19% der Patienten mit ATM und 37% der Patienten mit RAD51C oder 51D einen PARP-Inhibitor.

Von den Patientinnen mit BRCA1/2-Mutation, die einen PARP-Hemmer erhalten hatten, waren 55,1% an einem Mamma- oder Ovarialkarzinom erkrankt während 44,8% unter Tumoren wie Pankreas-, Prostata-, Gallengangs- oder Magenkarzinom litten. Diese Patienten erhielten das Medikament im Rahmen einer Studie.

Bei Patienten mit PALB2-Veränderungen, denen PARP-Inhibitoren verabreicht wurden, hatten 53,3% ein Mamma- oder ein Pankreaskarzinom und 46,7% ein Prostata- oder Ovarialkarzinom oder einen unbekannten Primärtumor.

Ausblick

Unter den Diskutanten der Studie war auch Dr. Funda Meric-Bernstam, Leiterin der Abteilung zur Krebsmittelerforschung am MD Anderson Cancer Center der Universität von Texas in Houston, USA. Sie wies darauf hin, dass die meisten BRCA-positiven Patientinnen eine Krebserkrankung haben, die üblicherweise mit der Mutation in Verbindung gebracht wird. „Es wurden keine Patientinnen mit PTEN-Mutationen behandelt und interessanterweise auch keine mit NF1“, sagte sie. „Aber das vorhandene Arsenal vergrößert sich weiter – erst vor Kurzem wurde der MEK-Inhibitor Selumitinib für NF1 zugelassen.“

Allerdings blieben für sie einige Fragen unbeantwortet, etwa: „Welcher Prozentsatz von Patienten, die ein normales Tumor-Testing unterliefen, schrieb sich auch für die Keimbahn-Testung ein? Und gab es in den Populationen systematische Verzerrugen, sprich einen Bias, hin zu z.B. jungen Patienten oder solchen mit positiver Familienanamnese und so weiter?“

Zudem sei relevant, dass die Keimbahn-Testung in dieser Studie in einem universitären Setting gemacht wurde. „Was wäre, wenn die Tests woanders durchgeführt würden? Wie würde es sich auswirken, wenn diese Veränderungen in einem weniger akademischen Umfeld identifiziert würden – mit weniger Behandlungsoptionen?“

„Aber um fair zu bleiben: Es ist nicht einfach, Keimbahn-Mutationen aufzuspüren“, fuhr Meric-Bernstam fort. „Derartige Studien laufen im Rahmen von Protokollen institutioneller Prüfungskommissionen ab, und es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Profiling hier als Standard erfolgt ist, ohne dass im Einzelfall dafür die Zustimmung der Patienten eingeholt wurde und ohne dass deren Wünsche bezüglich der Offenlegung der Keimbahn-Ergebnisse berücksichtigt wurden.“

Es bedürfe eines standardisierten Vorgehens, in dem festgelegt werde, wie solche Tests in der klinischen Praxis angeboten, offengelegt und besprochen würden, und „die Analysen müssten vereinfacht werden, damit gewährleistet ist, dass auf die Resultate auch rechtzeitig reagiert werden kann“, fügte sie abschließend hinzu.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
 

Kommentar

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