Als Universitätsbibliotheken während des COVID-19-Lockdowns schlossen, betraf das nicht nur Studierende und Hochschullehrer. Auch viele Mediziner, die nur über die Bibliotheken Zugriff auf Fachmagazine haben, saßen plötzlich auf dem Trockenen – denn für Recherchen muss man üblicherweise im Lesesaal anwesend sein. Einen Online-Zugriff von extern erlauben die meisten Verlage nicht. Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (EbM) nimmt das zum Anlass, um grundlegende Reformen bei der Informationsversorgung im Gesundheitswesen zu fordern [1].
„Das Problem bestand schon vor COVID-19“, sagt Dr. Siw Waffenschmidt, Sprecherin der AG Informationsmanagement im Netzwerk, gegenüber Medscape, „wir brauchen eine kurzfristige Lösung, damit alle, die Zugang zu Studienergebnissen brauchen, diesen auch bekommen.“
Für jeden Artikel zur nächsten Bibliothek fahren?
Das Problem betrifft unter anderem niedergelassene Ärzte, Wissenschaftler außerhalb von Universitäten, aber auch Selbsthilfegruppen und Patienten: Sie müssen entweder jedes Mal in den Lesesaal ihrer nächsten Bibliothek fahren oder Fachartikel einzeln bei den Journalen kaufen.
Große Institutionen haben dafür zwar meist ein Budget. „Aber da werden letztlich auch nicht geringe Summen investiert“, sagt Waffenschmidt, die auch den Stabsbereich Informationsmanagement im Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) leitet. Dieses System sei auch ungerecht gegenüber dem normalen Bürger: „Er hat die Forschung ja oft über seine Steuern mitfinanziert, bekommt dann aber keinen Zugang zu den Ergebnissen.“
Bemerkenswert: Bei COVID-19 war den Verlagen das Problem durchaus bewusst. Deshalb waren die meisten Papers zum Thema frei zugänglich. „Aber bei anderen Erkrankungen ist der breite Zugang nicht weniger wichtig“, gibt Waffenschmidt zu bedenken. „Deshalb ist das Verhalten der Verlage hier widersprüchlich.“
Leistung der Verlage sei letztlich nur, eine Plattform zu Verfügung zu stellen und den Review-Prozess zu organisieren: „Die Reviewer sind andere Wissenschaftler, die freiwillig das Peer Review übernehmen und daher auch über Steuergelder finanziert werden, weil viele an Universitäten angestellt sind“, so Waffenschmidt weiter.
Die Lösung: Ein Institut als „Einkaufsgemeinschaft“
Als konkrete Lösung schlägt das Netzwerk EbM eine Art Einkaufsgemeinschaft vor: ein Institut, das Zugänge zu den Journalen zentral erwirbt und diese für Fachkreise zur Verfügung stellt. „Wir sehen das Bundesministerium für Gesundheit, das Bundesministerium für Bildung und Forschung und auch die Hochschulrektorenkonferenz in der Pflicht, sich dafür einzusetzen“, heißt es in einer Pressemitteilung. „Wenn wir als eine Konsequenz aus der Corona-Pandemie über eine stärkere Digitalisierung in der Gesellschaft nachdenken, darf der Zugang zu medizinischem Wissen nicht vergessen werden.“
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung erklärte gegenüber Medscape, es sei „von großer Bedeutung, dass die Ergebnisse öffentlich finanzierter Studien für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Dies ist eine Grundvoraussetzung für den medizinischen Fortschritt und für die evidenzbasierte Versorgung von Patientinnen und Patienten.“
Es sei daher auch ein großes Anliegen, dass Ergebnisse aus geförderten Forschungsprojekten in öffentlich zugänglichen Zeitschriften publiziert werden. Ein eigenes Institut wie vom EbM Netzwerk vorgeschlagen hält man aber nicht für notwendig und verweist stattdessen auf das Online-Angebot „ZB Med – Informationszentrum Lebenswissenschaften“. Allerdings verweist die Suche dort auch oft nur auf kostenpflichtige Lieferdienste.
Das Gesundheitsministerium beruft sich ebenfalls auf die ZB Med. Als weitere Angebote werden die Cochrane Deutschland Stiftung (CDS) und das Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID) genannt. Beide bieten keinen umfassenden Zugriff auf Volltexte von Journalen an. Und auch der Lesesaal der ZB Med war während des Lockdowns geschlossen.
Medscape Nachrichten © 2020 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Bibliotheken im Lockdown – und Ärzten fehlt der Zugriff auf Fachartikel: Welche Lösungen gibt es? - Medscape - 14. Jul 2020.
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