Hoffnungsschimmer: Bei der ALS-Therapie ein Schlüsselgen ausknipsen? Das funktioniert – doch der Weg ist steinig

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

9. Juli 2020

Bislang ist die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) nicht heilbar; Patienten sterben oft wenige Jahre nach Einsetzen der Symptome. Speziell bei Mutationen im SOD1-Gen könnte sich ein Gen-Silencing (ein „Stummschalten“ von Genen) mit Antisense-Oligonukleotiden oder mit viralen Vektoren zur Therapie eignen, berichten Forscher jetzt im NEJM  [1,2].

„Diese beiden Studien haben gezeigt, dass ein präziser medizinischer Ansatz für die Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen, die mit einzelnen mutierten Genen einhergehen, in Reichweite sein könnte“, kommentieren Dr. Orla Hardiman und Dr. Leonard H. van den Berg in einem begleitenden Editorial des NEJM  [3]. Sie arbeiten am Trinity College and Beaumont Hospital, Dublin, beziehungsweise am University Medical Center, Utrecht.

 
Diese beiden Studien haben gezeigt, dass ein präziser medizinischer Ansatz für die Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen ... in Reichweite sein könnte. Dr. Orla Hardiman und Dr. Leonard H. van den Berg
 

Aber sie schränken in ihrem Kommentar auch allzu hohe Erwartungen ein: „Die Studien waren nicht geeignet, einen Wirksamkeitsnachweis zu erbringen, und die Vorhersage von Progressionsraten auf Grundlage einer der Funktionszustandsskala, einer in ALS-Studien weit verbreiteten Metrik, ist möglicherweise ungenau.“

 
Die Studien waren nicht geeignet, einen Wirksamkeitsnachweis zu erbringen... Dr. Orla Hardiman und Dr. Leonard H. van den Berg
 

Hardiman und van den Berg weiter. „Es stellt sich auch die Frage nach der Pathogenität aller SOD1-Mutationen.“ Obwohl mehr als 200 SOD1-Genvarianten mit ALS assoziiert seien, habe man deren Relevanz nur in wenigen Fällen kausal bewiesen. Perspektivisch müsse man Patienten, die von einer solchen Therapie profitieren könnten, gezielt auswählen.

Bislang schlechte Prognosen für ALS-Patienten

Momentan weiß man nur, dass bei ALS Motoneurone irreversibel geschädigt werden, was zu Muskelschwäche beziehungsweise Muskelschwund führt. Beim Fortschreiten der Erkrankung werden auch die Schluck- und später die Atemmuskulatur in Mitleidenschaft gezogen. Patienten sterben oft 3 bis 5 Jahre nach der Diagnose aufgrund von Pneumonien.

Heilen lässt sich die ALS derzeit nicht. Neurologen setzen auf symptomatische Therapien. Sie verordnen Physiotherapien und arbeiten mit PEG-Sonden. In Japan und in den USA ist 3-Methyl-1-phenyl-5-pyrazolon (Edaravon) als neuroprotektive Substanz zugelassen. Es verlangsamt den Krankheitsverlauf aber nur.

Auf der Suche nach kausalen Therapien rücken Gensignaturen seit einigen Jahren in den Fokus. Einige Mutationen treten sporadisch auf, andere häufen sich familiär. Besonders häufig fanden Wissenschaftler Mutationen in den Genen TARDBP, C9ORF72, VAPB, FUS und SOD1. Sie codieren für unterschiedliche Proteine, die sich aufgrund ihrer geänderten Proteinsequenz in Nervenzellen akkumulieren. Das könnte deren Untergang erklären, lautet eine zentrale Hypothese.

Seit 2015 rückt das Gen SOD1 stärker in den Fokus der Forschung. Es codiert für eine Superoxid-Dismutase (SOD), die sich falsch gefaltet im Interstitium von Gehirn und Rückenmark akkumuliert. Familiäre Häufungen solcher Mutationen sind jedoch nur bei 10% aller Patienten nachweisbar. Hier setzen Forscher mit neuen Behandlungsstrategien an.

Strategie 1: Silencing mit Antisense-RNAs als intrathekale Applikation

Dr. Timothy Miller von der Washington University School of Medicine, St. Louis, und Kollegen berichten von der Möglichkeit, mit Antisense-RNAs die Translation von SOD1 zu verringern. Die Technologie ist als Gen-Silencing bekannt geworden.

Die Forscher arbeiten mit Tofersen, einem Antisense-Oligonukleotid, das zur Inaktivierung der SOD1-Messenger-RNA führt. Erwachsene ALS-Patienten erhielten nach dem Zufallsprinzip im Verhältnis 3:1 jeweils 5 Dosen Tofersen (Einzeldosis 20, 40, 60 oder 100 mg) oder Placebo intrathekal verabreicht.

Als primäre Endpunkte wurden die Sicherheit und die Pharmakokinetik definiert. Sekundärer Endpunkt war die Veränderung der SOD1-Konzentration im Liquor am Tag 85 gegenüber dem Ausgangswert. Die klinische Funktion und die Vitalkapazität wurden ebenfalls gemessen.

Insgesamt wurden 50 Teilnehmer randomisiert und in die Analysen einbezogen; 48 Teilnehmer erhielten alle 5 geplanten Dosen. Bei den meisten Personen wurden unerwünschte Ereignisse im Zusammenhang mit der Lumbalpunktion beobachtet. Erhöhungen der Leukozytenzahl im Liquor und der Proteine im Liquor wurden bei 4 bzw. 5 Personen unter Verum beobachtet.

Ein Patient in der Tofersen-Gruppe starb am Tag 137 an einer Lungenembolie und ein weiterer am Tag 152 an Atemversagen; ein Teilnehmer der Placebogruppe starb am Tag 52 an Atemversagen.

Der Unterschied am Tag 85 in der Veränderung der Liquor-SOD1-Konzentration zwischen Tofersen und Placebo gegenüber dem Ausgangswert betrug für die:

  • 20-mg-Dosis: 2 Prozentpunkte (95% Konfidenzintervall [KI], -18 bis 27)

  • 40-mg-Dosis: -18 bis 27, -25 Prozentpunkte (95% KI, -40 bis -5),

  • 60-mg-Dosis: -19 Prozentpunkte (95% KI, -35 bis 2)

  • 100-mg-Dosis: -33 Prozentpunkte (95% KI, -47 bis -16)

„Bei Erwachsenen mit ALS aufgrund von SOD1-Mutationen sanken die SOD1-Konzentrationen im Liquor bei der höchsten Toferen-Konzentration, die über einen Zeitraum von 12 Wochen intrathekal verabreicht wurde“, fassen die Autoren zusammen. „Diese Studie war nicht darauf ausgerichtet, eine Wirkung auf klinische oder biologische Maßnahmen zu testen, die über die Verringerung der SOD1-Konzentration im Liquor hinausgehen“, schränken sie ein.

Sie fanden Hinweise auf eine langsamere Abnahme des Punktewerts bei der ALS Functional Rating Scale, der Vitalkapazität und der Abnahme bei Handkraftmessungen unter 100 mg Tofersen. Aus diesen deskriptiven Ergebnissen könne man aber keine Schlussfolgerungen ziehen, schreiben sie weiter.

Strategie 2: Silencing mit Gentherapie-Vektoren

Auch Dr. Christian Mueller von der University of Massachusetts Medical School, Worcester und Kollegen sehen in SOD1 eine mögliche Zielstruktur. Sie arbeiten mit Adeno-assoziierten Viren (AAV), die man von Gentherapien kennt. Die Viren tragen den Bauplan einer microRNA, um die SOD1-Expression im Körper zu verringern. Bekanntlich sollten transgene virale Vektoren Gene langfristig exprimieren, was bei reinen Antisense-Oligonukleotiden nicht der Fall ist.

Jetzt erhielten 2 Patienten (22 bzw. 56 Jahre alt) mit familiärer ALS und mit Mutation im SOD1-Gen die experimentelle Therapie als Einzelgabe.

Beim Patienten 1 führte dies zu SOD1-Konzentrationen im Rückenmark, die niedriger waren als in Proben, die von anderen Patienten mit SOD1-Mutationen und von Kontrollen stammten. Dies wurde im pathologischen Labor gemessen; der Patient starb 15,6 Monate nach Behandlungsbeginn, sprich 20,5 Monate nach Beginn seiner Beschwerden. Die Behandlung hatte zu seinen Lebzeiten jedoch keinen Einfluss auf SOD1-Werte im Liquor.

Ob es Änderungen muskulärer Funktionen gab, bleibt unklar. „Bei diesem Patienten konnten wir nicht feststellen, ob seine Kraft in seinem rechten Bein nach der Behandlung stabil blieb oder sich leicht verbesserte, da diese Extremität zu Beginn der Studie eine normale Kraft hatte“, schreiben die Autoren. Während der Therapie kam es zu unerwünschten Entzündungsreaktionen in Form einer Radikulitis.

Beim Patienten 2 schwächte Muellers Team diesen Effekt durch eine Immunsuppression ab. Sein funktioneller Status und seine Vitalkapazität waren über einen Zeitraum von 60 Wochen relativ stabil: ein Verlauf, der typisch für das langsame Fortschreiten der Krankheit bei Patienten mit SOD1-Genotyp sein könnte. Klinische Schlussfolgerungen über die Behandlungseffekte waren auch hier nicht möglich. Am 18. Mai war der Patient weiterhin stabil ohne ALS-Progression.

Bleibt als Fazit: „Es sind zusätzliche Studien erforderlich, um die Ergebnisse dieser Methode bei einer größeren Zahl von Patienten mit ALS mit SOD1-Mutationen zu ermitteln“, so Mueller und Kollegen.

 

Kommentar

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