Umstrittenes ASS in der Primärprävention: Menschen mit Risikogen könnte es nutzen, sie machen 2 Drittel der Bevölkerung aus

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

2. Juli 2020

Patienten, die nach einem Herzinfarkt oder Schlaganfall niedrig dosierte Acetylsalicylsäure (ASS) nehmen, beugen damit nachweislich weiteren Ereignissen vor. Jedoch versuchen auch Millionen noch gesunder Menschen sich so zu schützen. Dabei haben große Studien zur Primärprävention mit ASS aber keinen überzeugenden Nutzen gefunden, zumindest nicht für die Allgemeinbevölkerung.

Eine retrospektive Analyse im European Heart Journal, die jetzt mit dem DGIM-Präventionspreis ausgezeichnet worden ist, hat allerdings einen Vorteil entdeckt: für Träger einer genetischen Risikovariante [1].

„Diese Risikovariante kommt in Westeuropa sehr häufig vor, nämlich bei fast zwei Drittel der Bevölkerung. Daher zeigt unsere Forschungsarbeit einmal mehr, wie wichtig es ist, individualisiert vorzugehen, auch in der Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, sagt der Preisträger PD Dr. Thorsten Kessler vom Deutschen Herzzentrum der Technischen Universität München im Gespräch mit Medscape.

 
Diese Risikovariante kommt in Westeuropa sehr häufig vor, nämlich bei fast zwei Drittel der Bevölkerung. PD Dr. Thorsten Kessler
 

ASS hemmt bekanntlich die Thrombozytenaggregation. Die Schattenseite der pharmakologischen Reaktionen: Es erhöht zugleich das Risiko für Blutungen, etwa im Gehirn oder im Magen-Darm-Trakt.

Bisher ließ sich für keine Gruppe ein Nutzen ausmachen

Hat bereits ein kardiovaskuläres Ereignis stattgefunden, ist mit täglich 75 bis 100 mg ASS der Nutzen – die Abnahme von Ischämien – deutlich größer als die Blutungsgefahr.

Hat sich dagegen noch keine Gefäßerkrankung manifestiert, rechtfertigt das Nutzen-Risiko-Verhältnis eine Verordnung in der Regel nicht. Das ergab eine Metaanalyse von Studien mit gesunden Probanden, darunter vor allem die Women´s Health Study und die Physicians‘ Health Study. Auch in 3 neuen Studien mit ausgewählten Personengruppen erwies sich ASS – wie von Medscape berichtet – primärpräventiv als wertlos:

  • bei älteren Menschen (ASPREE),

  • bei Diabetes-Patienten (ASCEND) und

  • bei Menschen mit mehreren kardiovaskulären Risikofaktoren (ARRIVE).

Daran erinnern in einem Editorial 2 Spezialisten für die Epidemiologie kardiovaskulärer Erkrankungen, Prof. Dr. Colin Baigent und Prof. Dr. Michael V. Holmes von der Universität Oxford [2].

„Obwohl Leitlinien in Europa und den USA die Verwendung einschränken, bleibt ASS eines der häufigsten Medikamente in der Primärprävention“, schreiben Kessler und seine Kollegen in ihrer Publikation im European Heart Journal. „US-Umfragen zufolge nehmen rund 40% der Männer über 40 Jahre ASS in dieser Indikation.“ In Europa sei dies ebenfalls weit verbreitet.

Ist eine bestimmte Gensequenz entscheidend?

Könnte nicht ein Teil tatsächlich profitieren? So die Frage, die sich für Kessler und seine Kollegen stellte. Im Blick hatten sie jene 63% der Bevölkerung, in deren Guanylatzyklase-Gen ein Abschnitt als Risikovariante G vorliegt.

Die Guanylatzyklase ist ein Enzym, das die Plättchenaggregation hemmt. Das aus der Risikovariante resultierende Enzym allerdings ist darin wenig effektiv. So kommt es, dass die Blutgerinnung und damit die Zusammenlagerung von Thrombozyten vergleichsweise begünstigt wird. Folglich haben diese Menschen nachweislich ein erhöhtes Risiko für Atherosklerose und Herzinfarkt.

Um zu prüfen, ob dieses erhöhte Risiko durch ASS gemildert wird, analysierte das Team eine große Teilmenge der Women´s Health Study (WHS) erneut. In WHS war bei rund 23.300 Teilnehmerinnen – Fachkräften des Gesundheitswesens, anfänglich gesund und über 45 Jahre alt – ein Jahrzehnt lang der Einfluss von täglich 100 mg ASS auf kardiovaskuläre Ereignisse randomisiert und Placebo-kontrolliert untersucht worden.

Die Genotypisierung von DNA aus Blutproben erlaubte es, 3 Gruppen zu vergleichen: die Homozygoten für die Risikovariante GG einerseits und die Nicht-Risikovariante AA andererseits sowie die Heterozygoten GA.

Zur Validierung diente ein Fall-Kontrollsatz aus der Physicians‘ Health Study (PHS), in der insgesamt rund 22.000 gesunde männliche Ärzte im Alter von 40 bis 84 Jahren randomisiert eine Tagesdosis von 50 mg ASS eingenommen hatten.

ASS könnte manchen Menschen sogar schaden

In Übereinstimmung mit bisherigen Daten ergab sich für WHS-Teilnehmerinnen, die lediglich Placebo erhalten hatten: Mit der Risiko-Konstellation GG waren kardiovaskuläre Ereignisse um fast 40% häufiger als mit der Nichtrisiko-Kombination AA (Hazard Ratio 1,38).

Ganz anders, wenn die eigentlich gefährdeten GG-Frauen ASS nahmen: Damit hatten sie ein um 21% geringeres kardiovaskuläres Risiko als GG-Frauen mit Placebo. „Unbehandelt treten bei GG mehr atherosklerotische Ereignisse auf. Diesem Nachteil wirkt ASS offensichtlich signifikant entgegen. Damit wäre unsere Hypothese bestätigt“, stellt Kessler fest.

Unerwartet aber kam für die Wissenschaftler das Ergebnis bei Teilnehmerinnen mit der Nichtrisikovariante, ob heterozygot als GA oder homozygot als AA: Bei ihnen stieg mit ASS das Risiko schwerer Herz-Kreislauf-Erkrankungen sogar an, um zwar um 39%.

Die Häufigkeit von Blutungen nahm mit ASS allgemein signifikant zu, allerdings stärker bei Frauen mit der Nichtrisikovariante.

Plättchenhemmung fällt mit ASS eventuell zu stark aus

Warum aber begünstigt das Medikament kardiovaskuläre Erkrankungen bei ursprünglich wenig gefährdeten Menschen? Welche biologischen Prozesse könnten diesen statistischen Resultaten zugrunde liegen, die sich in PHS ganz ähnlich wiederholten?

Ein Erklärungsversuch der Autoren: Bei dieser Gruppe ist die Blutgerinnung schon von vornherein optimal. Mit ASS fällt die Plättchenhemmung relativ stärker aus, so dass der Vorteil ins Gegenteil umschlagen und zu vermehrten Blutungen führen könnte, was wiederum häufiger mit kardiovaskulären Ereignissen einhergeht.

Baigent und Holmes hingegen halten dies für wenig plausibel, zumal das Medikament die Blutungsrate ja durchgehend erhöhte. Nach ihrer Ansicht müsste das Muster dem der kardiovaskulären Ereignisse entgegengesetzt sein. Denn Positiv- und Negativ-Effekte – Gefäßschutz einerseits und Hämorrhagien andererseits – gehen ja auf denselben Mechanismus zurück, nämlich die Hemmung der Prostaglandin-Synthese sowohl in den Thrombozyten als auch im Magen-Darm-Trakt. „Dass für die eine genetische Gruppe ein Nutzen resultiert, für die andere ein Schaden, ist äußerst ungewöhnlich“, so das Argument der ASS-Experten.

Statistische Artefakte sind nicht ausgeschlossen

Zwar habe sich herausgestellt, dass manche Menschen resistent gegen das Medikament seien, also keinen Gefäßschutz aufbauen. Mit den Genformen GA und AA jedoch bleibe es nicht bloß bei Unwirksamkeit, sondern durch ASS werde die Blutgerinnung sogar begünstigt. Dass gleichzeitig die Anfälligkeit für Blutungen zunimmt, scheine mit dem derzeitigen Verständnis des Wirkprinzips unvereinbar.

Fazit der Kommentatoren: „Es ist nach wie vor möglich, dass die Befunde dem Zufall zuzuschreiben sind. Deshalb müssen sie in anderen Datensätzen repliziert werden.“ Bis dahin sei Vorsicht angebracht.

 
Es ist nach wie vor möglich, dass die Befunde dem Zufall zuzuschreiben sind. Deshalb müssen sie in anderen Datensätzen repliziert werden. Prof. Dr. Colin Baigent und Prof. Dr. Michael V. Holmes
 

Auch wenn die Daten aus 2 großen unabhängigen Studien gleichlautend waren, sind Kessler und seine Kollegen ebenfalls der Ansicht, dass zur Verifizierung der Post-hoc-Ergebnisse prospektive Untersuchungen unerlässlich sind. Sie seien dabei, die Möglichkeiten auszuloten, berichtet der Kardiologe im Gespräch.

Valide Daten zu erhalten kostet beträchtlichen Aufwand, denn einige tausend Teilnehmer müssten über mehrere Jahre beobachtet werden. Außerdem wäre die Finanzierung zu klären, zumal der Patentschutz für ASS längst abgelaufen ist.

Würde Primärprävention ein Drittel der Bevölkerung gefährden?

Kessler verweist auf die Tragweite einer solchen Studie, denn die WHS-Analyse würde ja bedeuten: Jene Millionen von Menschen mit der Nichtrisikovariante, die ASS zur Primärprävention atherosklerotischer Erkrankungen einnehmen, setzen sich möglicherweise einer unnötigen Gefahr aus.

„Die Ergebnisse illustrieren, welches Potenzial genetische Methoden in der Präzisionsmedizin besitzen. Dass sie es erlauben, zwischen Nutzen und Schaden zu unterscheiden. Und dass die Behauptung, ASS bringe in der Primärprävention keinen Gewinn, nicht pauschal gilt“, resümiert er und schließt den Rat an: Wer in Erwägung zieht, ASS abzusetzen, solle vorher seinen Arzt konsultieren.

 
Die Ergebnisse illustrieren, welches Potenzial genetische Methoden in der Präzisionsmedizin besitzen. Und dass die Behauptung, ASS bringe in der Primärprävention keinen Gewinn, nicht pauschal gilt. PD Dr. Thorsten Kessler
 

 

Kommentar

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