Zu wenige Ärzte in Justizvollzugsanstalten? Baden-Württemberg zeigt, wie die Telemedizin hier helfen kann

Christian Beneker

Interessenkonflikte

1. Juli 2020

Welche Lösung gegen den Ärztemangel in Haftanstalten gibt es? Anfang Juni hat die Ärztekammer Baden-Württemberg ihre Berufsordnung geändert. Ärzte im Kammerbezirk können Fernbehandlungen seit 1. Juni 2020 auch bei neuen Patienten nutzen. Wer vorher noch nicht persönlich in der Arztpraxis oder Klinik war, kann sich seither auch am Telefon, per Videogespräch oder per Chat vom Arzt behandeln lassen [1]. Zuvor gab es diese Möglichkeit nur im Rahmen von Projekten.

Hoffnung auf bessere Versorgung in Justizvollzugsanstalten

Die Änderung könnte auch ein Türöffner zur dauerhaft verbesserten Versorgung in Justizvollzugsanstalten werden. Denn seit 2018 läuft in Baden-Württemberg ein Telemedizin-Projekt für Personen mit Freiheitsstrafen – offenbar so überzeugend, dass es weitergeführt werden soll. Das berichtet Robin Schray, Sprecher des Baden-Württembergischen Justizministeriums. Inzwischen unterstützen mehr als 70 Fachärzte ihre 43 Kollegen, die hinter Gittern praktizieren.

Die telemedizinisch Zugeschalteten sind vor allem Allgemeinmediziner und Psychiater. Sie stehen auch in dienstfreien Zeiten der Amtsärzte bereit und versorgen Patienten per Video-Konferenz. Dazu hat das Justizministerium einen Dienstleister engagiert: die A+ Videoclinic aus Hamburg. Das Unternehmen rekrutiert Tele-Ärzte und stellt den Service zur Verfügung.

Der Dienstleister garantiert an allen Wochentagen eine 24-Stunden-Rufbereitschaft von Allgemeinmedizinern und Psychiatern sowie nach Bedarf Sprechstunden für Patienten, die einen Arzt der beiden Fachrichtungen benötigen.

Hilfe in „arztloser“ Zeit

Gerade abends und nachts sowie an Wochenenden ist der Bedarf an telemedizinischer Unterstützung sehr hoch, denn Anstaltsärzte haben keinen Dienst. In diesen Zeiten mussten bisher Krankenpfleger auf Krankenstationen die Beschwerden beurteilen – oder gar die Justizbeamten. Dies sei bei den vielen multimorbiden Insassen eine belastende Aufgabe, so Schray.

Teleärzte arbeiten nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) und werden kontinuierlich durch einen ärztlichen Leiter fortgebildet. Zur Videokonferenztechnik kommt der Einsatz telemedizinischer Geräte wie Dermatoskope oder Stethoskope noch hinzu.

„Geholfen hat bei diesem Projekt, dass wir auf die positiven Erfahrungen mit dem Projekt „Videodolmetschen im Justizvollzug“ aufbauen konnten und können“, sagt Guido Wolf, Justizminister in Baden-Württemberg. Schließlich seien in den Gefängnissen Dutzende von Nationalitäten unter einem Dach versammelt. „Die Telemedizin im baden-württembergischen Justizvollzug wird nach den Rückmeldungen, die wir erhalten, als große Hilfe empfunden. Die Justizvollzugsanstalten nehmen das Projekt als echte Verbesserung der medizinischen Versorgung der Gefangenen wahr“, so Wolf weiter.

Insgesamt hält das Land rund 7.500 Haftplätze inklusive Justizvollzugs-Krankenhaus und sozialtherapeutischer Anstalt vor. Nach Angaben des Ministeriums fanden 2019 im Rahmen des Projekts insgesamt 2.276 Behandlungen statt, und zwar 656 Bereitschaftseinsätze (632 der Allgemeinmedizin und 24 der Psychiatrie) und 1.620 Behandlungen im Rahmen von Sprechstunden, davon 674 Behandlungsanlässe der Allgemeinmedizin, 932 psychiatrische Anlässe und 14 Derma-Konsile.

Auch hilft die Telemedizin, Ausführungen der Insassen zu externen Ärzten oder in Krankenhäuer zu reduzieren. Dadurch werde deutlich Personal und damit Geld gespart, denn die Gefangenen müssen wegen der Fluchtgefahr von Justizbeamten bewacht werden, erklärt Schray.

Gefängnisärzte sind Mangelware

In der Tat können Anstaltsärzte Hilfe gebrauchen. Nicht nur, weil die Zahl an multimorbiden und psychisch auffälligen Gefangenen steigt. Anstaltsärzte fehlen an allen Ecken und Kanten; viele Stellen bleiben unbesetzt.

Zur Versorgung der Gefangenen im Justizvollzug stünden im Südwesten 43 Stellen für hauptamtliche Ärzte zur Verfügung, teilt das Justizministerium Baden-Württemberg auf Anfrage von Medscape mit. In diesem Juni seien davon gerademal 34,75 besetzt, sagt Schray.

Das Telemedizin-Projekt kostet das Justizministerium im laufenden Jahr 1,2 Millionen Euro. Eingesparte Mittel durch unbesetzte Stellen bei Anstaltsärzten flössen laut Ministerium in diese Versorgungsform.

Weichenstellung für die Telemedizin im Kammerbezirk

Damit Teleärzte überhaupt bei dem Projekt mitmachen durften, hat die Ärztekammer Baden-Württemberg schon 2016 in ihrer Berufsordnung die ausschließliche Fernbehandlung – zunächst nur im Rahmen von Projekten – erlaubt.  

„Zum 1. Juni 2020 haben wir das bisherige Modellprojekt in die Regelversorgung aufgenommen“, sagt Dr. Oliver Erens, Sprecher der Ärztekammer Baden-Württemberg. „Es ist nicht an uns, die Projekte zu erlauben, aber wir können es den Ärzten jetzt gestatten, mitzumachen. Das haben wir getan.“

Bis dahin hatte die ärztliche Berufsordnung die ausschließliche Behandlung über Kommunikationsnetze untersagt; (Video-) Telefonie sei nur bei Bestandspatienten, also bei Patienten, die ein Arzt bereits gekannt habe, möglich gewesen, so Erens. Die Besonderheit bei ausschließlicher ärztlicher Fernbehandlung ist nun, dass sich Arzt und Patient nicht schon kennen.

Über die Vergütung der Teleärzte schweigt sich das Ministerium aus. „Es wurden bei den medizinischen Dienstleistungen Fallpauschalten bzw. Stundenpauschalen vereinbart, die sich im Rahmen des Üblichen bewegen“, teilt das Ministerium mit.

 

Kommentar

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