Dass Diabetes das Risiko eines schweren Verlaufs von COVID-19 erhöht, ist inzwischen hinlänglich bekannt. Seit einiger Zeit mehren sich allerdings Berichte von Patienten, bei denen eine schwer verlaufene Infektion mit SARS-CoV-2 offenbar umgekehrt erst einen Diabetes ausgelöst hat.
Wie ein Team um Prof. Dr. Francesco Rubino und Prof. Dr. Stephanie Amiel vom King's College London und Prof. Dr. Paul Zimmet von der Monash University im australischen Melbourne in New England Journal of Medicine (NEJM) berichtet, haben die Mediziner diese Fallberichte zum Anlass genommen, ein Patientenregister namens CoviDIAB einzurichten [1].
Das Register soll klären, wie häufig das beobachtete Phänomen ist, ob es sich dabei um einen klassischen Typ-1- oder Typ-2-Diabetes handelt oder gar um eine ganz neue Form der Erkrankung, wie es womöglich dazu kommen kann – und inwieweit die betroffenen Patienten wieder genesen. Mitinitiiert wurde CoviDIAB von Prof. Dr. Stefan Bornstein, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik III am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden, im Rahmen des Transcampus-Projekts.
Weltweit wurden bereits mehr als 60 Fälle registriert
Insgesamt gehören dem internationalen Team 17 Diabetes-Spezialisten aus 9 Ländern an. „Seit der Veröffentlichung unseres Artikels im NEJM haben wir weltweit schon mehr als 60 Berichte von Patienten erhalten, bei denen der Zuckerstoffwechsel in Verbindung mit COVID-19 entgleist ist“, sagt Bornstein, der Ko-Autor des Beitrags ist, im Gespräch mit Medscape.
Der Dresdener Diabetologe war einer der ersten Mediziner hierzulande, der auf die mögliche Manifestierung eines Diabetes im Zusammenhang mit COVID-19 aufmerksam gemacht hat. „Wir haben bereits in unseren online im April in Lancet Diabetes Endocrinology veröffentlichten Handlungsempfehlungen für Diabetes-Patienten während der Corona-Pandemie über die Vermutung berichtet, dass es im Zuge einer SARS-CoV-2-Infektion zu einer Entgleisung des Zuckerstoffwechsels und zu Hyperglykämie kommen könnte“, sagt Bornstein.
Im Einklang mit dieser Veröffentlichung hat auch die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) praktische Empfehlungen zum Diabetes-Management bei Patientinnen und Patienten mit einer COVID-19-Erkrankung veröffentlicht.
Ziel müsse es nun sein, das Patientenregister CoviDIAB noch bekannter zu machen, um weltweit möglichst viele der aufgetretenen Fälle zu erfassen, sagt Bornstein. Nur so könne man ein besseres Verständnis für die Zusammenhänge zwischen der Virusinfektion und der Zuckerkrankheit erlangen. Denn bisher tappen die Mediziner bei der Suche nach den möglichen Ursachen für die Entstehung von Diabetes durch COVID-19 weitgehend im Dunklen.
Große Studien sehen keine generell erhöhte Gefahr
Prof. Dr. Baptist Gallwitz, stellvertretender Direktor der Medizinischen Klinik IV am Universitätsklinikum Tübingen und Sprecher der DDG, geht davon aus, dass es sich bei den bislang bekannt gewordenen Patienten allerdings wirklich um Einzelfälle handelt. „Die bisherigen Studien deuten nicht daraufhin, dass es durch COVID-19 generell vermehrt zu Diabetes kommt“, sagt Gallwitz gegenüber Medscape.
Der DDG-Sprecher betont jedoch einmal mehr das große Risiko, dem Diabetes-Patienten durch das Coronavirus ausgesetzt sind. Er verweist dabei unter anderem auf die kürzlich publizierte CORONADO-Studie (COVID-19 and Diabetes Outcomes), in der die Daten von 1.317 Diabetikern aus 53 Krankenhäusern in Frankreich retrospektiv ausgewertet wurden.
Der Analyse zufolge starb nach der Aufnahme in eine Klinik jeder 10. Diabetes-Patient innerhalb von einer Woche. „Die CORONADO-Studie hat jedoch keine Hinweise geliefert, dass sich der Zuckerstoffwechsel der Probanden durch die Infektion mit SARS-CoV-2 explizit verschlechtert hätte“, sagt Gallwitz.
2 Hypothesen, wie Diabetes entstehen könnte
Dass dies in Einzelfällen dennoch passieren kann, will Gallwitz aber keinesfalls ausschließen. Denkbar, sowohl für ihn als auch für seinen Dresdener Kollegen Bornstein, sind derzeit vor allem 2 Wege, wie sich ein Diabetes infolge der Infektion manifestieren könnte.
Zum einen ist bekannt, dass schwere, insbesondere entzündliche Erkrankungen eine schon vorhandene Insulin-Resistenz verstärken können und so einen entstehenden Typ-2-Diabetes mitunter erstmals sichtbar werden lassen. „Dies geschieht infolge der erhöhten Inflammationsparameter, durch die vermehrte Freisetzung von Stresshormonen wie Steroiden und Katecholaminen sowie durch die verminderte körperliche Immunität“, erläutert Gallwitz. „Und gerade übergewichtige Menschen, die ja besonders anfällig für eine schwere COVID-19-Erkrankung sind, haben oft schon eine noch unbemerkte Insulin-Resistenz entwickelt“, sagt der Tübinger Diabetologe.
Denkbar ist für die beiden Mediziner jedoch auch, dass durch eine Bindung von SARS-CoV-2 an den ACE2-Rezeptor von Beta-Zellen – den diese ebenfalls exprimieren – die Insulin-produzierenden Zellen zugrunde gehen, wodurch ein Typ-1-Diabetes entstünde. In diesem Fall würde das Virus die Zellen der Bauchspeicheldrüse als Wirtszelle nutzen, um sich darin zu vermehren – mit fatalen Folgen für die körpereigene Insulinproduktion.
Die Verläufe der Zuckerkrankheit nach COVID-19 sind oft untypisch
Laut Bornstein gibt es für diese zweite Hypothese zumindest einige Hinweise. „Manche der Patienten hatten 3 bis 4 Wochen nach der Infektion einen Diabetes entwickelt, der wie ein Typ-1-Diabetes aussah – allerdings ohne die entsprechenden Auto-Antikörper, die wir in solchen Fällen normalerweise im Blut nachweisen können“, sagt er. Auch habe es in der Familie der Patienten keine bekannten Fälle von Typ-1-Diabetes gegeben. Beides deute darauf hin, dass das Virus und nicht das Immunsystem die Beta-Zellen zerstört habe.
„Bei anderen Patienten sind wir zwar auf Antikörper gestoßen, doch bei ihnen fehlte die typische Honeymoon-Phase, bei der die körpereigene Insulinproduktion noch nicht vollständig gestoppt ist“, berichtet Bornstein. Auch das sei ein Hinweis auf eine Zerstörung der Beta-Zellen durch das Virus. „Zudem gibt es auch von der SARS-Epidemie 2002/2003 Berichte, denen zufolge bei Patienten im Zuge der Infektion erstmals ein Diabetes sichtbar geworden war“, ergänzt der Mediziner.
Vielleicht allerdings, so Bornstein, habe COVID-19 bei manchen Patienten mit einem neu entstandenen Typ-1-Diabetes auch nur eine Entwicklung angestoßen, die sich ansonsten noch ein paar Jahre hinausgezögert hätte. „Wir wissen einfach noch viel zu wenig über die möglichen Zusammenhänge“, sagt der Diabetologe. „In ein paar Jahren wird sich das – auch dank unseres neuen Registers – hoffentlich geändert haben.“
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Diesen Artikel so zitieren: Erst COVID-19, dann Diabetes? Patientenregister soll helfen, die Zusammenhänge zu klären - Medscape - 26. Jun 2020.
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