Wenn Vielfalt verwirrt: 24 medizinische Fachgesellschaften fordern einheitliche Corona-Regeln

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

24. Juni 2020

Deutschland ist seit Monaten mit SARS‐CoV‐2 konfrontiert. Durch einschneidende Maßnahmen ist es gelungen, die Fallzahlen zu drücken und das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Die Pandemie ist nicht vorbei, doch viele Menschen sehnen sich nach Normalität – und in vielen Teilen der Gesellschaft kehrt sie auch wieder zurück: Thüringen beendet die Kontaktbegrenzungen, Schleswig-Holstein ermöglicht Urlaube, und andere Bundesländer öffnen in unterschiedlichem Ausmaß Kneipen, Theater, Sportvereine und Schulen.

Doch die Vielfalt an unterschiedlichen regionalen Regeln kann nicht nur Verwirrung stiften („in der Nachbarstadt darf man aber schon“). Nicht nachvollziehbar begründete, wechselnde und sich teilweise widersprechende Botschaften und Regelungen können dazu führen, dass Bürger diese als beliebig und daher unverbindlich wahrnehmen und so womöglich die Bereitschaft abnimmt, das eigene Verhalten an den Infektionsschutz anzupassen (z. B. Abstand zu halten).

 
Die Bürger auf diesem Weg mitzunehmen, die Erfolge der letzten Monate bei der Bekämpfung der Pandemie zu sichern und solidarisches Verhalten zu stärken – das sind die Anforderungen der Stunde. Prof. Dr. Eva Bitzer
 

„Die Bürger auf diesem Weg mitzunehmen, die Erfolge der letzten Monate bei der Bekämpfung der Pandemie zu sichern und solidarisches Verhalten zu stärken – das sind die Anforderungen der Stunde“, betont Prof. Dr. Eva Bitzer vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention und Mitglied des Kompetenznetzes Public Health zu COVID-19 in einer Pressemitteilung.

Wissensbasierte und faire Organisation des Zusammenlebens

Es ist wichtig, dass die Länder sich prinzipiell auf ein gemeinsames, wissenschaftlich begründetes Vorgehen verständigen und davon abweichende Regelungen transparent mit dem regionalen Infektionsgeschehen erklären, hebt das Kompetenznetz Public Health zu COVID-19 – ein Zusammenschluss von 24 wissenschaftlichen und medizinischen Fachgesellschaften – in einer Stellungnahme hervor [1].

Die Wissenschaftler haben jetzt Empfehlungen zusammengestellt, wie das gesellschaftliche Zusammenleben zu Pandemiezeiten wissensbasiert, transparent und fair organisiert werden kann.

Weiterhin gefährde SARS-CoV-2 die Menschen, besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen, und es gebe weder eine wirksame Therapie noch eine Impfung – zu einem erneuten Anstieg der Infektionszahlen kann es jederzeit kommen. Weil eine Rückkehr zur „Normalität“ wie vor der Pandemie nicht möglich sei, müsse das gesellschaftliche Zusammenleben den Erfordernissen so gut wie möglich angepasst werden, heißt es. Den politisch Verantwortlichen empfehlen sie folgendes Vorgehen:

  1. ein gemeinsames, wissenschaftlich begründetes Vorgehen der Bundesländer zu COVID-19, bei dem die Maßnahmen zum Infektionsschutz immer wieder nachvollziehbar gegen deren Folgeschäden abgewogen werden;

  2. eine transparente Begründung von regional unterschiedlichen Vorgehensweisen, um dem Eindruck von Beliebigkeit entgegenzuwirken und die hohe Motivation der Bürgerinnen und Bürgern zu unterstützen und

  3. eine klare, wertschätzende und ermutigende Kommunikation mit den Bürgern und einen klaren Appell an die gemeinsame Verantwortung.

  4. Die Politik muss dafür sorgen, dass der öffentliche Gesundheitsdienst seine Aufgaben im Infektionsschutz wahrnehmen kann und ihn entsprechend personell und digital ausstatten.

  5. In der Pandemie wird besonders deutlich, welche zentrale Rolle soziale Ungleichheit bei der Verbreitung und Bewältigung von COVID-19 zukommt: Viele Menschen leben oder arbeiten unter Bedingungen, die es ihnen nicht möglich machen, sich und andere zu schützen. Appelle richten wenig aus, solange Gesellschaft und Politik solche Rahmenbedingungen nicht ändern.

Die größte Herausforderung: Soziale Ungleichheit

Das Kompetenznetz weist auf einen drängenden Missstand hin, für den es wohl keine schnelle Lösung gibt. Viele Menschen leben oder arbeiten unter Bedingungen, die es ihnen unmöglich machen, sich und andere vor Infektionen zu schützen: Sie müssen auf engem Raum zusammenleben, trotz Krankheit oder unzureichend geschützt arbeiten. Dies betrifft vor allem vulnerable Bevölkerungsgruppen.

 
Das Zusammenleben in der Pandemie funktioniert auch jetzt nur, wenn alle … Verantwortung dafür übernehmen. Prof. Dr. Ansgar Gerhardus
 

„Die Forderungen nach geteilter Verantwortung, Kommunikation und Kompetenzerwerb richten wenig aus, solange unsere Gesellschaft und die politisch Verantwortlichen solche Rahmenbedingungen akzeptieren und nicht grundsätzlich ändern“, betont Corinna Schaefer, Vorsitzende des Deutschen Netzwerk Gesundheitskompetenz und ebenfalls Mitglied im Kompetenznetz Public Health zu COVID-19. 

Prof. Dr. Ansgar Gerhardus, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Public Health und Mitglied der Koordinierungsgruppe im Kompetenznetz Public Health zu COVID-19, appelliert an die Verantwortung aller: „Das Zusammenleben in der Pandemie funktioniert auch jetzt nur, wenn alle – von staatlichen Behörden über die Firmenleiterin und den Vermieter bis zu den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern – Verantwortung dafür übernehmen. Und zwar, indem sie ihren Teil dazu beitragen, die Mitmenschen vor Infektionen zu schützen“.
 

Kommentar

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