Es sterben vor allem pflegebedürftige Menschen an einer Corona-Infektion, das ist klar. Allerdings fehlen valide genaue Daten zur Situation der bundesweit 3,4 Millionen Pflegebedürftigen und der 1,2 Millionen Pflegekräfte in der Corona-Krise. Abhilfe will hier eine Online-Befragung von Pflegeheimen, Pflegediensten und teilstationären Einrichtungen durch eine Forschergruppe der Universität Bremen schaffen. Ein Ergebnis: Rund 60% der Corona-Toten wurden in Pflegeheimen oder durch Pflegedienste versorgt.
Die Befragung fand vom 28. April bis zum 12. Mai 2020 statt. Knapp 18.000 Einrichtungen erhielten Fragen etwa zum Vorkommen von Infektionen in der Einrichtung, zu den Auswirkungen auf die Bewohner bzw. ambulant Betreute und Pflegende oder zu den veränderten Arbeitsbedingungen durch die Pandemie.
In die Analyse gingen schließlich Befragungsdaten von 824 Pflegeheimen, 701 Pflegediensten und 96 teilstationären Einrichtungen ein, berichtet der Gesundheitsökonom Prof. Dr. Heinz Rothgang vom SOCIUM Forschungszentrum der Universität Bremen gegenüber Medscape. Rothgang hat die Studie zusammen mit Pflegeprofessorin Prof. Dr. Karin Wolf-Ostermann vom Institut für Public Health und Pflegeforschung an der Uni Bremen erstellt. Die Ergebnisse liegen Medscape vor.
Die Hälfte aller Corona-Toten lebte in Pflegeheimen
Werden die Ergebnisse der Online-Befragung auf ganz Deutschland hochgerechnet, so zeige sich, dass 60% aller Corona-Toten in Pflegeheimen (49%) oder von ambulanten Diensten (12%) versorgt wurden. Und dies, obwohl der Anteil an Infizierten dort nur bei 8,5% liegt (jeweils 7 bzw. 1,5%).
Die Hälfte aller Todesfälle durch das SARS-CoV2-Virus treten also in Pflegeheimen auf, obwohl nur knapp 1% der Bevölkerung in Pflegeheimen lebe, so die Forscher. Diesem Umstand müsse viel mehr Beachtung geschenkt werden. Pflegeheime seien der wichtigste Ort in Bezug auf COVID-19 Verstorbene. Die Sterblichkeit unter Pflegebedürftigen sei damit mehr als 50-mal so hoch wie im Rest der Bevölkerung, folgert Rothgang.
Aber auch die Pflegenden sind betroffen. Jedes 5. Pflegeheim und jeder 10. Pflegedienst verzeichnet Erkrankungsfälle bei Mitarbeitenden. Der Anteil der erkrankten Mitarbeiter ist in Pflegeheimen mit 18,9% sechsmal so hoch wie in der Normalbevölkerung und bei ambulanten Pflegediensten mit 9% doppelt so hoch, so die Autoren der Studie.
Rund die Hälfte aller Pflegedienste und mehr als 2 Drittel aller Pflegeinrichtungen berichten von einem Personalausfall von bis zu 10% in den Einrichtungen. Rund die Hälfte aller Heime und Dienste klagten über Mangel an persönlicher Schutzausrüstung.
Allerdings verzeichneten 3 Fünftel der Pflegedienste und 3 Viertel der Pflegeheime gar keinen Erkrankungsfall. Knapp 80% der Pflegeheime verzeichneten keine bestätigten Corona-Infektionen. „Ein Ergebnis, das uns überrascht hat“, sagt Rothgang.
Es zeige, dass die Schutzmaßnahmen trotz aller Widernisse zwar erfolgreich sind. Aber wenn der Erreger bei den übrigen 20% der Heime eingeschleppt wurde, versagte der Schutz innerhalb des Pflegedienstes oder des betroffenen Heimes, und das Virus infizierte viele Pflegebedürftige und Pflegekräfte.
Testergebnisse brauchen zu lange
Schlüssel zu Eindämmung der Pandemie in der Pflege sei die rasche Testung von Pflegebedürftigen und Personal. Das Problem: Die Testergebnisse liegen erst nach durchschnittlich 3 bis 4 Tagen vor. „Zu spät, um ihr Potenzial als Teil eines wirkungsvollen Schutzkonzeptes voll zu entfalten“, so Wolf-Ostermann. Erforderlich seien daher Reihentests, deren Ergebnisse schneller zur Verfügung stehen.
Schließlich schlittern immer mehr Pflegedienste in finanzielle Schwierigkeiten aufgrund der Corona-Krise, weil ihre Klienten die Pflegeleistungen aus Angst vor Infektionen nicht mehr abrufen. 4 von 10 Pflegediensten haben unter wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu leiden, so die Bremer Forscher.
Das Fazit: Erstinfektionen in Heimen oder bei Pflegediensten müssten konsequent vermieden werden und Schutzkonzepte müssen die Ausbreitung unter Bewohnern und Personal verhindern, so die Forscher. Dazu fordern sie regelmäßige Reihentests, deren Ergebnisse schneller vorliegen sollen und eine bessere Versorgung der Pflegerinnen mit Schutzmaterialien.
Nur so könne über die akute Pandemiesituation hinaus die Versorgungssicherheit in der Pflege gewährleistet werden, folgert die Studie. Wenn sich aber die Aufmerksamkeit vor allem auf die klinische und intensivmedizinische Versorgung von Infizierten richte, werde die dauerhafte Versorgung der am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppe immer prekärer, warnen die Bremer Forscher.
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Diesen Artikel so zitieren: „Die Hälfte aller Corona-Toten lebte in Pflegeheimen“ – Online-Umfrage in Pflege-Einrichtungen - Medscape - 24. Jun 2020.
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