Brandbeschleuniger Übergewicht: Experten spekulieren, warum COVID-19 bei Patienten mit Adipositas oft schwerer verläuft

Antje Sieb

Interessenkonflikte

23. Juni 2020

Eine Adipositas erhöht das Risiko, dass eine Infektion mit Sars-CoV-2 schwer verläuft oder zum Tode führt. In einem Editorial des British Medical Journal machen Londoner Präventionsmediziner um Dr. Monique Tan die internationale Ernährungsindustrie mitverantwortlich für die Adipositas-Epidemie und fordern dringend gesetzliche Maßnahmen gegen ungesunde Lebensmittel [1].

Prof. Dr. Norbert Stefan

Der Tübinger Diabetologe   sieht durchaus auch eine Notwendigkeit für weitergehende Maßnahmen: „Jede Werbung für ungesunde Ernährung für Kinder müsste verboten werden.“ So ein Werbeverbot sowie Mehrwertsteuer-Anpassungen für gesunde und ungesunde Produkte fordert z.B. auch die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK), in der mehrere medizinische Gesellschaften vereint sind.

Nicht mehr Infektionen, aber schwerere Verläufe

Menschen mit schwerem Übergewicht seien nach bisherigem Wissensstand allerdings nicht grundsätzlich anfälliger für eine Infektion mit Sars-CoV2, erklärt Stefan. „Ich kenne keine Daten, die je gezeigt hätten, dass aufgrund von Adipositas die Infektanfälligkeit unterschiedlich wäre.“ Das Übergewicht habe allerdings Auswirkungen auf dem Verlauf der Erkrankung.

 
Ich kenne keine Daten, die je gezeigt hätten, dass aufgrund von Adipositas die Infektanfälligkeit unterschiedlich wäre. Prof. Dr. Norbert Stefan
 

2 große Studien aus Großbritannien konnten bereits zeigen, dass übergewichtige Covid-19-Patienten deutlich häufiger einen schweren Verlauf der Krankheit erleiden als normalgewichtige, schreiben die Autoren des BMJ-Editorials.

Auch Stefan sieht das als gut belegt an: „Wenn sie infiziert werden, ist der Verlauf der Erkrankung viel kritischer bei einem BMI über 30, und vor allem bei einem BMI über 40. Das gilt auch für das Risiko zu sterben. Da ist die Datenlage sehr solide.“ Es lasse sich auch ein linearer Zusammenhang erkennen zwischen dem Grad des Übergewichts und dem Mortalitätsrisiko.

 
Wenn sie infiziert werden, ist der Verlauf der Erkrankung viel kritischer bei einem BMI über 30, und vor allem bei einem BMI über 40. Prof. Dr. Norbert Stefan
 

Allerdings mahnt Stefan zur Vorsicht beim Umgang mit den teilweise erst auf Preprint-Servern veröffentlichten und damit bisher nicht peer-reviewten Studien. „In einer großen Studie aus New York war die Adipositas assoziiert mit einem vierfachen Risiko, an COVID-19 zu sterben. Jetzt ist die Arbeit geprüft worden, mit dem Ergebnis, dass das Risiko immer noch erhöht ist, aber nur verdoppelt. Man muss vorsichtig sein bei Daten, die noch nicht geprüft worden sind.“

Unabhängige Effekte des Übergewichts

Zwar ist Adipositas auch Mitverursacher für viele Erkrankungen, die ihrerseits das Risiko für einen schweren Verlauf einer COVID-19 Infektion erhöhen. Das Übergewicht scheint aber unabhängig davon problematisch zu sein. Einer der Gründe könnte sein, dass nicht nur ein manifester Diabetes oder eine diagnostizierte Herzinsuffizienz, sondern auch schon ein Prädiabetes oder der Beginn einer Herzschwäche eine Infektion verschlimmern könnten, erklärt Stefan.

Der Mediziner kann aber auch noch weitere Gründe nennen: „Bei einer Vergrößerung der Fettmasse erhöht sich die ACE-2-Rezeptor-Expression auf den Zellen. Es wird diskutiert, dass ein Pooling entsteht, also dass die Viren mehr und früher eine Eintrittspforte finden in das Fettgewebe.“ Denn der ACE-2-Rezeptor gilt als Schlüsselenzym, das dem Virus das Eindringen in Zellen ermöglicht.

Ein stark erhöhtes Körpergewicht habe häufig auch einen weiteren Effekt, der nicht auf COVID-19 beschränkt ist: ein verringertes Lungenvolumen durch das zusätzliche Gewicht, erklärt Stefan. „Die Lungenexpansion ist geringer, die Lunge wird schlechter belüftet und damit auch schlechter durchblutet. Daher haben die Patienten unabhängig von COVID-19 ein erhöhtes Risiko, eine komplizierte Lungenentzündung zu erleiden. Allein diese mechanische Problematik könnte einen weiteren Mechanismus darstellen.“

Experten fordern mehr Präventionsmaßnahmen

Die Pandemie ist damit ein weiterer Faktor, der die Folgen der Adipositas-Epidemie verdeutlicht. Auch wenn bisher schon klar war, dass schweres Übergewicht das Leben deutlich verkürzen kann. „Man verliert mit Adipositas bis zu zehn Jahre an Lebenszeit“, sagt Stefan.

Die Pandemie könne nun allerdings für erhöhte Aufmerksamkeit sorgen. Auch die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten oder die Deutsche Adipositas-Gesellschaft haben in den vergangenen Wochen darauf hingewiesen, dass in Deutschland nicht genug für die Vorbeugung getan wird.

Adipositas, aber auch Diabetes sind Beispiele für Erkrankungen, die das Risiko für einen schweren Verlauf einer COVID-19-Erkrankung erhöhen. Die Pandemie mache die Notwendigkeit regulatorischer Maßnahmen offensichtlicher und dringlicher denn je, schreiben die britischen Autoren im BMJ.

Dabei hat Großbritannien schon seit Jahren eine Ampel-Kennzeichnung bei Lebensmitteln, und eine Zucker-Steuer für Getränke. In Deutschland wird der Nutri-Score hingegen gerade erst eingeführt und steuerliche Maßnahmen, die von DANK schon lange gefordert werden, sind nicht in Sicht. Die Hersteller sollen auf freiwilliger Basis für weniger Zucker, Kalorien und Salz in Lebensmitteln sorgen.

Eine kürzliche Zwischenauswertung des Max Rubner-Instituts ergab allerdings gemischte Resultate: Während sich tatsächlich in Kinderquarks und Kinderjoghurts im Schnitt weniger Zucker fand, waren die Veränderungen beim Salzgehalt von Tiefkühlpizzen statistisch nicht relevant.

Stefan sieht allerdings durchaus einen Lichtblick am Horizont: „Gottseidank entwickeln sich in den letzten Jahren neue Trends hin zu gesunder Ernährung.“ Während die britischen Experten fürchten, dass die Pandemie den Verzehr von eher ungesunder und lange haltbarer Fertigkost noch erhöht haben könnte, zeichnet eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft für Deutschland zumindest teilweise ein anderes Bild: 30% der Befragten hatten angegeben, dass sie während der Pandemie häufiger selbst kochen. 20% sagten, sie würden mehr frische Zutaten verwenden.

 

Kommentar

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