Droht nach der Corona- die CFS-Pandemie? Experten befürchten, dass die Häufigkeit durch SARS-CoV-2 stark ansteigt

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

22. Juni 2020

Mit der jetzigen Akutphase ist die SARS-CoV-2-Pandemie möglicherweise noch gar nicht ausgestanden. Denn es mehren sich Hinweise, dass die Gesundheit auch längerfristig beeinträchtigt wird. So besteht die Befürchtung, dass die Inzidenz des Chronischen Fatigue Syndroms (CFS), das oft nach einer Infektion beginnt, in den kommenden 6 bis 18 Monaten weltweit ansteigt.

 
Besorgniserregende Daten liefern frühere SARS- und MERS-Epidemien, nach denen CFS gehäuft aufgetreten ist. Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen
 

„Besorgniserregende Daten liefern frühere SARS- und MERS-Epidemien, nach denen CFS gehäuft aufgetreten ist“, sagt Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen von der Charité Berlin im Gespräch mit Medscape. Allerdings sei es wichtig, eine post-infektiöse Fatigue von dem neuro-immunologisch bedingten CFS zu unterscheiden.

„Die post-infektiöse Fatigue ist eine Reaktion auf die Erkrankung und Teil der Genesung, sie dauert bei einigen nur 1 bis 2 Wochen, bei anderen bis zu 4 Monaten“, erläutert die Immunologin und Onkologin. Erst wenn die Symptome länger als 6 Monate anhalten, solle man überprüfen, ob ein CFS, auch Myalgische Enzephalomyelitis genannt, die Ursache sei.

Die Entwicklung von CFS nach neu auftretenden Infektionskrankheiten ist durch kleinere epidemiologische Studien schon länger belegt. Daraus lässt sich schließen, dass mit diesem Problem auch 2020 zu rechnen ist.

Erfahrungen mit SARS und MERS

Als gut dokumentiertes Beispiel nennt Scheibenbogen die Epidemie des Schweren Akuten Respiratorischen Syndroms (SARS) in Toronto. Im Jahr 2003 infizierten sich 273 Menschen mit dem SARS-Virus, das aus der gleichen Familie der Coronaviridae stammt wie SARS-CoV-2.

44 Menschen starben damals. 10 Prozent der Überlebenden (22 Personen), fast alle Mitarbeiter des Gesundheitswesens – wiesen 3 Jahre später CFS-Symptome auf. Wegen diffuser Myalgie, Schwäche, anhaltender Müdigkeit, Depressionen und nicht erholsamem Schlaf waren sie unfähig, in ihren früheren Beruf zurückzukehren.

In einer Fall-Kontroll-Studie verglichen Forscher diese Post-SARS-Patienten mit ebenso vielen Fibromyalgie-Patienten. Sie fanden, dass sich die beiden Störungen in vielen Merkmalen, etwa dem Schlaf-EEG-Muster, überschneiden.

Die langfristigen Krankheitsfolgen erklären sie einerseits mit dem psychologischen Trauma durch die Krankheit, andererseits mit den direkten Auswirkungen des Virus. Studien zufolge könne es sich im gesamten Gehirn ausbreiten und dort eine chronische Entzündung hervorrufen.

Der Ausbruch in Toronto 2003 gehörte zur ersten SARS-CoV-Epidemie. 8.000 Menschen in 29 Ländern erkrankten und 774 starben. „Damit war das Ausmaß zwar wesentlich geringer als das der aktuellen Pandemie, aber die Letalitätsrate mit 10% höher“, erläutert Scheibenbogen. Im Vergleich dazu sterben derzeit im weltweiten Durchschnitt 6,4% der Infizierten, allerdings mit starken Schwankungen von Land zu Land.

Einen weiteren Beleg für den Zusammenhang zwischen SARS und Dauermüdigkeit liefert nach Angaben von Scheibenbogen eine Studie mit 233 Überlebenden eines Krankenhauses in Hongkong: 40% hatten 4 Jahre nach dem Virusausbruch Symptome von chronischer Erschöpfung, bei gut einem Viertel wurde ME/CFS diagnostiziert.

Beim Atemwegssyndrom des Nahen Ostens (Middle East Respiratory Syndrome, MERS) zeigte sich ebenfalls, dass bei den Überlebenden psychiatrische Störungen und chronische Fatigue klinisch signifikant fortbestehen. Mit MERS-CoV hatten sich im Jahr 2015 in Südkorea 186 Menschen infiziert, es gab 36 Todesfälle.

Eine prospektive Studie mit 72 Überlebenden fand ein Jahr später bei 27% und anderthalb Jahre später bei 17% der Teilnehmer depressive Symptome, gemessen mit dem Patient Health Questionnaire-9. Die entsprechenden Zahlen für chronische Fatigue gemäß dem Fatigue Severity Scale betrugen 48% und 33%. Nur geringfügig niedriger lag die Häufigkeit einer durch MERS ausgelösten posttraumatischen Belastungsstörung, ermittelt mit der Impact of Event Scale-Revised.

Die Prognosen sind alarmierend

Aus den Daten der SARS-Studie in Toronto hat das Nachrichtenportal The Canary errechnet, dass in den USA ein Jahr nach der SARS-CoV-2-Pandemie zwischen 408.000 und 3.570.000 Menschen an schweren ME/CFS-ähnlichen Symptomen leiden könnten. 2 Jahre nach der Infektion könnte die Zahl um 43% zurückgegangen sein, wenn man als Vergleich das Drüsenfieber heranzieht. Das bedeutet, dass dann immer noch zwischen 175.000 und 1.500.000 Menschen chronisch ME/CFS-krank wären.

Diese Angaben beruhen auf Schätzungen der Centers for Disease Control, wonach in den USA die Hälfte bis 2 Drittel der knapp 330 Millionen Einwohner an COVID-19 erkranken und 200.000 bis 1,7 Millionen Menschen sterben könnten.

Auch bakterielle Infektionen können CFS auslösen

„Dass sowohl schwere bakterielle als auch virale Infektionen nicht selten eine ME/CFS-ähnliche Erkrankung zurücklassen, wissen wir spätestens seit der Dubbo-Studie von 2006“, sagt Scheibenbogen. An dieser prospektiven Kohortenstudie hatten 253 Einwohner der Gemeinde Dubbo im ländlichen Australien teilgenommen.

Sie waren entweder an Drüsenfieber durch Epstein-Barr-Viren, an Q-Fieber durch Coxiella burnetii oder an epidemischer Polyarthritis durch Ross-River-Viren erkrankt. Noch nach 6 Monaten litten 12% der Patienten an Fatigue, Skelett- und Muskelschmerzen, neurokognitiven Defiziten und Stimmungsschwankungen. Das ergaben Selbstberichte, strukturierte Interviews und klinische Beurteilungen. Bei einigen waren die Symptome so ausgeprägt, dass sie die Kriterien eines CFS erfüllten.

Die Influenza steht ebenfalls im Zusammenhang mit ME/CFS-Symptomen, wie eine retrospektive Analyse von Militärkohorten der asiatischen Grippepandemie 1957 bis 1958 zeigte. Ähnlich bei der Influenza-A-(H1N1)-Welle 2009: Einer norwegischen Studie zufolge verdoppelte sich anschließend das Risiko an ME/CFS zu erkranken. Nach der Grippepandemie von 1918 wurde eine sogenannte „Encephalitis lethargica“ beobachtet.

In den ersten 3 Jahren ist Schonung besonders wichtig

Auch bei der jetzigen COVID-19-Pandemie zeichnet sich bereits ab, dass es vielen Genesenden längere Zeit nicht gelingt, ihre frühere Kraft und Gesundheit zurückzugewinnen. „Wir benötigen bei COVID-19-Erkrankten eine Beobachtung über die nächsten 24 Monate. Es gibt Hinweise, dass die ersten 3 Jahre eine Schlüsselrolle bei einer möglichen Chronifizierung spielen“, heißt es in einer Mitteilung der Lost-Voices-Stiftung, die sich für Menschen mit ME/CFS engagiert. Um eine Chronifizierung von CFS zu verhindern, sei es entscheidend, die krankheitsbedingt niedrigen Energiegrenzen einzuhalten, statt sie durch Training heraufsetzen zu wollen.

 
Wir benötigen bei COVID-19-Erkrankten eine Beobachtung über die nächsten 24 Monate. Lost-Voices-Stiftung
 

Das Chronischen Fatigue Syndrom

Ein Konsensusartikel beschreibt das CFS als Multisystemerkrankung mit Dysregulation von zellulärem Energiestoffwechsel, Immun- und Nervensystem. Meist tritt es plötzlich auf, oft nach einer Infektion, vor allem mit Epstein-Barr-Viren (Pfeiffersches Drüsenfieber), aber auch mit intrazellulären Bakterien wie Chlamydien, Legionellen und Coxiellen. Studien zufolge besteht eine konstante, verstärkte Immunreaktion, so als ob der Körper gegen etwas kämpft, das nicht da ist. So bildet sich ein Teufelskreis aus starker Erschöpfung und leichter Erschöpfbarkeit.

Es gibt 2 Altersgipfel: vom 10. bis 19. sowie vom 30. bis 39. Lebensjahr. Die Prävalenz beträgt nach Schätzungen 0,3%, so dass in Deutschland mit rund 250.000 erwachsenen Patienten – 3-mal mehr Frauen als Männer – und 40.000 Kindern und Jugendlichen gerechnet wird.

Die ME-Association rechnet mit neuen ME/CFS-Fällen durch SARS-CoV-2 und hat daher Leitlinien zum Management erarbeitet, um das Risiko einer dauerhaften postinfektiösen Fatigue zu verringern (3).

Hinweise auf CFS sind:

  • Die Beschwerden bestehen seit mindestens sechs Monaten.

  • Den Patienten fällt es schwer, private und berufliche Aufgaben zu erfüllen und mit anderen Menschen Kontakt zu halten.

  • Abgeschlagenheit schon nach leichter körperlicher oder geistiger Belastung

  • Grippeähnliche Symptome mit Halsschmerzen und geschwollenen Lymphknoten

  • Schlafstörungen, nicht erholsamer Schlaf

  • Muskelverspannungen, Kopf- und Gliederschmerzen

  • Übelkeit und Magen-Darm-Beschwerden

  • Gewichtsveränderungen

  • Verlust der Libido

  • Herz-Kreislauf-Beschwerden

  • Kurzatmigkeit

  • Geringe Belastbarkeit mit Verschlechterung nach Anstrengungen (Post Exertional Malaise PEM, „Crashes“)

  • Stimmungsschwankungen, Ängste, Panikattacken

  • Konzentrations- und Gedächtnisstörungen

CFS ist nur klinisch zu diagnostizieren, es gibt keinen spezifischen diagnostischen Marker. Zunächst werden Ursachen wie Tumoren, Multiple Sklerose, Diabetes, Schlafapnoe, Medikamente, Leber- oder psychische Erkrankungen ausgeschlossen. Schwierig ist die Abgrenzung zur Depression wegen der ähnlichen Symptome. Für eine Depression sprechen schleichender Beginn ohne Begleiterscheinungen wie Fieber, Besserung durch körperliche oder geistige Aktivität, Rückzug statt Bemühen um Hilfe.

Aktuell gibt es keine Therapie. Hauptziel ist Symptomlinderung, etwa mit Analgetika oder Verhaltenstherapie. Die ME-Association empfiehlt ein Selbstmanagement: geregelter Tagesablauf, vollwertige Ernährung, vorsichtig dosierte Bewegung, Entspannungsverfahren, Anschluss an eine Selbsthilfeorganisation wie Fatigatio e.V. Infos und Hilfe bietet auch eine Patientenorganisation, die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e.V.

 

Kommentar

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