Schneiden oder Pressen? Neue S3-Leitlinie zum Kaiserschnitt will Ärzten und Eltern eine Entscheidungshilfe bieten

Inge Brinkmann

Interessenkonflikte

19. Juni 2020

Wann soll einer Schwangeren zum Kaiserschnitt geraten werden – und wann nicht? Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) hat nun in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (OEGGG) sowie der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG) die erste S3-Leitlinie zur Sectio caesarea erstellt [1]. Sie soll Ärzten und werdenden Eltern mehr Hilfe und Klarheit bei dieser Entscheidung bieten.

Bei Kaiserschnitten fehlte bislang eine derartige Leitlinie. „Bisher wurde hauptsächlich nach ‚Expertenmeinung‘ beraten und gehandelt, wobei häufig jeder sein eigener Experte ist“, sagt Dr. Patricia Van de Vondel, Chefärztin der Frauenklinik am Kölner Krankenhaus Porz am Rhein. Die neue Leitlinie liefere nun (auch juristisch) belastbare Daten für die Beratung und Aufklärung werdender Eltern.

 
Bisher wurde hauptsächlich nach ‚Expertenmeinung‘ beraten und gehandelt, wobei häufig jeder sein eigener Experte ist. Dr. Patricia Van de Vondel
 

„Die evidenzbasierte Leitlinie zum Kaiserschnitt gibt allen Beteiligten die Möglichkeit, auf der Basis des aktuellen Wissens die beste Entscheidung zu fällen“, so Prof. Dr. Dr. Frank Louwen, Koordinator der Leitlinie und Leiter der Funktionsbereiche Geburtshilfe und Pränatalmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt. Das betreffe auch die Beratung, den sichersten Zeitpunkt zur Geburt, die optimale Durchführung sowie den frühestmöglichen direkten Hautkontakt von Mutter und Kind. Außerdem setze sich die Leitlinie mit den häufigsten Gründen für einen geplanten Kaiserschnitt und möglichen Alternativen auseinander.

Ist die Sectiorate in Deutschland zu hoch?

Die Vorgabe einer spezifischen Sectio-caesarea-Rate („Sectiorate“) ist dagegen nicht Bestandteil der Publikation, v.a. wegen fehlender Daten zur mütterlichen und kindlichen Morbidität.

Die Leitlinienautoren schreiben aber auch, dass die Erkenntnis als gesichert gelten dürfe, dass eine Sectiorate über 15% keinen günstigen Einfluss auf die mütterliche und neonatale Morbidität und Mortalität hat und deshalb gut medizinisch begründet sein sollte.

In Deutschland ist die Kaiserschnittrate in den vergangenen 30 Jahren allerdings stark gestiegen: Während laut Statistischem Bundesamt 1991 noch 15,3% der Entbindungen ein Kaiserschnitt waren, waren es 2018 mit 29,1% fast doppelt so viele. Im europäischen Vergleich (mit einem Median von 25,2%) liegt Deutschland mit dieser Sectiorate somit im oberen Drittel, während die Niederlande (17,0%) sowie alle skandinavischen Länder (exkl. Dänemark) aber auch Slowenien (19,1%) unter 20% liegen.

„Aus finnischer Sicht erscheint die deutsche Kaiserschnittrate sehr hoch“, sagt Dr. Georg Macharey, leitender Oberarzt der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie, Helsinki University Hospital, Finnland.

 
Aus finnischer Sicht erscheint die deutsche Kaiserschnittrate sehr hoch. Dr. Georg Macharey
 

„Ich denke, dass einer der Gründe für den großen Unterschied im Gesundheitssystem selbst liegt“, so Macharey. Denn im finnischen System gehören die Gesellschaften, die die Krankenhäuser besitzen, den Kommunen. Die Kommunen bezahlen auch die Rechnungen der Patienten, also im Prinzip bezahlen sie sich selbst. „Da das Krankenhaus keinen Gewinn machen kann, gibt es finanziell keine Anreize, Kaiserschnitte zu verursachen.“

Bemerkenswert dabei sei, dass Finnland trotz der niedrigen Kaiserschnittrate eine der niedrigsten Raten an mütterlicher und neonataler Morbidität und Mortalität habe.

Werden in Deutschland also unnötig viele bzw. zu viele Kaiserschnitte durchgeführt? Wie das Beispiel des Universitätsklinikums Leipzig zeigt, wird diese Frage manchmal schon in ein und demselben Krankenhaus unterschiedlich beantwortet: „Ich finde die Kaiserschnitt-Rate in Deutschland vertretbar, weil niemand weiß, was die ‚richtige‘ Kaiserschnittrate ist. Ich denke, für Deutschland ist eine Kaiserschnittrate von 25 bis 30 Prozent gut, akzeptabel und anzustreben“, sagt etwa Prof. Dr. Holger Stepan, Direktor der Leipziger Klinik für Geburtsmedizin.

 
Ich denke, für Deutschland ist eine Kaiserschnittrate von 25 bis 30 Prozent gut, akzeptabel und anzustreben. Prof. Dr. Holger Stepan
 

„Die Kaiserschnittrate ist deutlich höher, als sie sein sollte“, sagt dagegen Prof. Dr. Ulrich Thome, Leiter der Leiter der dortigen Abteilung für Neonatologie. Und: „Es gibt sicherlich eine Reihe von Stellschrauben, mit der diese gesenkt werden könnte.“

 
Die Kaiserschnittrate ist deutlich höher, als sie sein sollte. Prof. Dr. Ulrich Thome
 

Niedrigere Kaiserschnittrate – aber wie?

Thome bedauert in dem Zusammenhang: „Leider finden sich in der Leitlinie kaum Formulierungen, welche strukturellen Voraussetzungen für bestimmte Entbindungen vorgehalten werden müssten. An manchen Stellen ist von einer Vorstellung in einer ‚geeigneten‘ Geburtsklinik die Rede. An anderen Stellen ist von einer ‚entsprechenden technischen Ausstattung‘ und von ‚Fachpersonal‘ die Rede. Leider wird nicht spezifiziert, was damit gemeint ist. Eventuell finden sich diesbezügliche Hinweise in der zitierten Fachliteratur, aber es wäre besser, die Leitlinie würde für sich stehen, ohne dass die zitierte Literatur mitgelesen werden muss.“

„Die größte Herausforderung besteht in der Ausbildung der nächsten Generationen von Geburtshelfern“, kommentiert Prof. Dr. Jörg Kessler, Professor und Oberarzt in der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie am Haukeland Universitätsklinikum Bergen, Norwegen.

„Wenn man wieder mehr Schwangere, auch solche mit Risiko für eine vaginale Entbindung motivieren möchte, muss ein hohes Fertigkeitsniveau in manueller und instrumenteller Geburtshilfe Voraussetzung sein. Eine Zentralisierung von Risikogeburten an Kliniken mit einer möglichst hohen Geburtenzahl erleichtert die Ausbildung und sammelt fachkompetente Kollegien“, so Kessler. In Norwegen würden etwa 70% der Schwangeren an Kliniken mit mehr als 1.500 Geburten pro Jahr entbinden.

 

Kommentar

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