3,1 Millionen Todesfälle durch COVID-19 in 11 EU-Ländern vermieden? Studien simulieren Effekte des Lockdowns

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

10. Juni 2020

In der Bevölkerung wächst seit Wochen die Kritik an staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der SARS-CoV-2-Pandemie. Grund ist dabei unter anderem das sogenannte Präventionsparadoxon – die paradoxe Situation, dass Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung der Pandemie angezweifelt werden, mit der Begründung, die prophezeite Ausbreitung des Virus habe nicht stattgefunden, obwohl die Präventionsmaßnahmen diese Ausbreitung ja gerade verhinderten.

Diese paradoxe Situation versuchen Wissenschaftler derzeit mittels Modellrechnungen aufzulösen: Nachdem Forscher bereits nachweisen konnten, dass Masken und Abstandsregeln die Infektionsraten um mehr als 80% verringern (wie Medscape berichtete) , liegen jetzt auch Simulationen zum Lockdown vor [1,2]. Laut der beiden in Nature veröffentlichten Studien haben diese Maßnahmen in 11 europäischen Ländern vermutlich 3,1 Millionen Todesfälle verhindert. Generell seien die Einschränkungen sinnvoll gewesen, sie griffen jedoch nur mit zeitlichem Versatz von etwa 3 Wochen.

Europaweit 3,1 Millionen Todesfälle weniger durch Einschränkungen

Dr. Seth Flaxman vom Department of Mathematics, Imperial College London, und Kollegen haben mit Mortalitätsdaten des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) gearbeitet, um den Effekt nicht-pharmazeutischer Interventionen zu beurteilen. Obwohl Todesdaten mitunter fehlerhaft sein können, gelten sie als zuverlässiger, verglichen mit Infektionsdaten. Analysiert wurden gepoolte Daten aus 11 Ländern in Europa, darunter aus Großbritannien, Spanien, Italien, Deutschland und Belgien bis zum 4. Mai 2020.

Das Team schätzt, dass bis zu diesem Zeitpunkt insgesamt 12 bis 15 Millionen Menschen in diesen Ländern mit SARS-CoV-2 infiziert waren. Das entspricht 3,2 bis 4% der Bevölkerung mit großen Schwankungen von Land zu Land. Durch den Vergleich der Anzahl gemeldeter Todesfälle mit denen, die anhand statistischer Modellierungen ohne Interventionen vorhergesagt wurden, vermuten die Autoren, dass man etwa 3,1 Millionen Todesfälle vermeiden konnte.

„Unser Modell legt nahe, dass die im März 2020 in allen untersuchten Ländern ergriffenen Maßnahmen die Epidemie erfolgreich bekämpften, indem sie die Reproduktionszahl R senkten und die Zahl der Menschen, die mit dem Virus SARS-CoV-2 infiziert worden wären, erheblich verringerten“, sagt Flaxman. Nach seinen Berechnungen lag R zu Beginn der Pandemie bei 3,8 und sank durch Interventionen auf unter 1,0.

Eine Einschränkung des Modells besteht darin, dass davon ausgegangen wird, dass jede Maßnahme für alle Länder die gleichen Auswirkungen hatte, was nicht der Realität entspricht.

Wie viele Infektionen hat man vermieden?

Die zweite Arbeit kommt von Forschern um Prof. Dr. Solomon Hsiang vom Global Policy Laboratory der Goldman School of Public Policy, University of California, Berkeley, USA. Sie analysierten, wie schnell die Anzahl an SARS-CoV-2-Infektionen an verschiedenen Orten vor und nach dem Inkrafttreten staatlicher Richtlinien zunahm und wann sich die Kurve erstmals abgeflacht hat. Basis waren bestätigte Fälle in jedem Land auf der Grundlage lokaler Testverfahren.

Die Forscher verfolgten die Ankunft des Virus in einem bestimmten Land und verwendeten dann Daten, um den weiteren Verlauf zu modellieren. Verglichen wurde die Ausbreitung mit gesetzlichen Maßnahmen und ohne jede Einschränkung. Dabei berücksichtigten Hsiang und seine Kollegen soweit möglich auch regionale Unterschiede bei der Dunkelziffer an Infektionen.

 
Basierend auf diesen Ergebnissen stellen wir fest, dass der Einsatz von Maßnahmen gegen Infektionen in allen 6 Ländern die Pandemie erheblich verlangsamt hat. Prof. Dr. Solomon Hsiang und Kollegen
 

Die Autoren schätzen, dass politische Maßnahmen bis zum 6. April 2020 zirka 62 Millionen labordiagnostisch bestätigte Fälle in 6 Ländern abgewendet haben. Dies entspricht mehr als 500 Millionen tatsächlich vermiedener Infektionen – nicht jeder Patient wird erkannt und isoliert. Oft verläuft die Infektion asymptomatisch.

Diese Fallzahlen konnten laut ihrem Modell einzelne Länder vermeiden:

  • China: 37 Millionen labordiagnostisch bestätigte Fälle (insgesamt 285 Millionen Fälle)

  • Südkorea: 11,5 Millionen labordiagnostisch bestätigte Fälle (insgesamt 38 Millionen Fälle)

  • Italien: 2,1 Millionen labordiagnostisch bestätigte Fälle (insgesamt 49 Millionen Fälle)

  • Iran: 5 Millionen labordiagnostisch bestätigte Fälle (insgesamt 54 Millionen Fälle)

  • Frankreich: 1,4 Millionen labordiagnostisch bestätigte Fälle (insgesamt 45 Millionen Fälle)

  • USA: 4,8 Millionen labordiagnostisch bestätigte Fälle (insgesamt 60 Millionen Fälle)

„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die laufenden Maßnahmen zur Bekämpfung der Ansteckung die Anzahl der heute weltweit beobachteten COVID-19-Infektionen bereits erheblich reduziert haben“, schreiben die Forscher. „Basierend auf diesen Ergebnissen stellen wir fest, dass der Einsatz von Maßnahmen gegen Infektionen in allen 6 Ländern die Pandemie erheblich verlangsamt hat.“ Angaben zu vermiedenen Todesfällen machen sie nicht.

Bewertung unterschiedlicher Maßnahmen

Hsiang und seine Koautoren fanden heraus, dass die Isolation zu Hause und die Schließung von Unternehmen beziehungsweise Geschäften meist den größten Nutzen brachte. Nicht ganz klar war der Benefit von Reisebeschränkungen und Versammlungsverboten. Hier zeigte sich erkennbare Effekte im Iran bzw. in Frankreich, aber kein klarer Nutzen in den USA.

Die Forscher fanden keine eindeutigen Beweise dafür, dass Schulschließungen in einem der untersuchten Länder positive Auswirkungen hatten, warnen jedoch davor, dass hier noch mehr Forschung notwendig sei, um auf der Basis von Daten Entscheidungen zu treffen.

 
Wir können erwarten, dass die Signale, falls es zu einer erneuten Ausbreitung kommt, in einem ähnlichen Zeitraum von 2 bis 3 Wochen auftreten. Prof. Dr. Solomon Hsiang
 

Gesetzliche Regelungen haben zwar das Verhalten von Bürgern sofort geändert und möglicherweise schnell zu geringen Vorteilen geführt. Generell dauerte es aber in den untersuchten Ländern 3 Wochen, bis Einschränkungen ihre volle Wirkung zeigten. Jetzt, da viele Länder ihre Corona-Politik lockern, warnt Hsiang: „Wir können erwarten, dass die Signale, falls es zu einer erneuten Ausbreitung kommt, in einem ähnlichen Zeitraum von 2 bis 3 Wochen auftreten.“

 

Kommentar

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