Die Diabetologie als „Steilvorlage für die Telemedizin“: Wie Patienten und Behandler davon profitieren

Dr. Klaus Fleck

Interessenkonflikte

10. Juni 2020

Einerseits hat die Corona-Pandemie dazu geführt, dass chronisch Kranke wie Diabetespatienten aus Angst vor Ansteckung Arzttermine seltener wahrnehmen und ihnen damit eine Unterversorgung droht. Andererseits haben die Kontaktbeschränkungen aber auch zu einer Zunahme digitaler und telemedizinischer Formate wie Videosprechstunden geführt, deren Vorteile sich nun besser erkennen lassen.

Prof. Dr. Baptist Gallwitz

„Digitale und telemedizinische Versorgungskonzepte erlauben einen intensiven Austausch zwischen Patienten und dem therapeutischen Team zur Therapieanpassung, ohne dass der Patient einen Weg ins Behandlungszentrum auf sich nehmen muss. Dabei handelt es sich um eine Entwicklung, die für die Diabetologie und Medizin zunehmend wichtiger wird“, sagte Prof. Dr. Baptist Gallwitz von der Universität Tübingen, Pressesprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) auf einer Online-Pressekonferenz der Gesellschaft [1].

Digital erhobene Befunde besser nachvollziehbar

Bereits seit längerem etabliert ist die insbesondere von Patienten mit Typ-1-Diabetes genutzte sensorbasierte kontinuierliche Glukosemessung, die vor Hypo- oder Hyperglykämien warnt und deren kontinuierliche Messergebnisse auf einen Computer, ein Mobiltelefon oder auch in eine Cloud übertragen werden und sich so später in der ärztlichen Sprechstunde besprechen lassen.

Digitale Technik ermöglicht eine schnelle Übermittlung von Patientenakten mit Vorbefunden, dem Medikationsplan und anderen Informationen. Elektronische Archivierungssysteme können helfen, die Informationen schnell abrufbar und übermittelbar zu machen.

„Digital erhobene Befunde und Therapiepläne“, so Gallwitz, „sind für alle Beteiligten besser nachvollziehbar, gut lesbar und können im Vergleich zu nicht digitalen handschriftlichen Unikaten weniger leicht verloren gehen."

 
Digital erhobene Befunde und Therapiepläne sind für alle Beteiligten besser nachvollziehbar … Prof. Dr. Baptist Gallwitz
 

Zunehmenden Nutzen digitaler und telemedizinischer Versorgung sieht Gallwitz bei der interdisziplinären Zusammenarbeit, etwa um vor einer Fußamputation eine ärztliche Zweitmeinung einzuholen, sektorenübergreifend zwischen Behandlern in der Klinik und im niedergelassenen Bereich sowie in der Forschung.

Allerdings zeigte der Tübinger Diabetologe auch deutlich die Grenzen der digitalen bzw. telemedizinischen Versorgung auf: „Unbedingt notwendig ist ein direkter Arzt-Patienten-Kontakt vor Ort insbesondere bei einer Erstvorstellung eines Menschen mit Diabetes und bei akuten Krankheitskomplikationen.“ Wenn es hingegen z.B. um vierteljährliche Kontrolluntersuchungen bei Patienten mit üblicherweise stabiler Stoffwechsellage gehe, eigneten sich digitale Formate wie die digitale Sprechstunde sehr gut.

Diabetologie als Steilvorlage für die Telemedizin

Über ausgiebige Erfahrungen mit der Telemedizin berichtete Dr. Karin Schlecht, in einer Eisenacher diabetologischen Schwerpunktpraxis niedergelassene Fachärztin für Allgemeinmedizin, Diabetologie und Reisemedizin. Ihre These: „Die Diabetologie ist eigentlich die Steilvorlage für die Telemedizin.“

Dr. Karin Schlecht

Die Gründe: Diabetespatienten würden in ihrem Alltag ganz besonders von modernen Technologien wie Insulinpumpen und kontinuierlicher Glukosemessung unterstützt. Dabei lasse sich in der Diabetologie mehr als in anderen Medizinbereichen auf massenhaft erhobene, zum Teil cloudbasierte Stoffwechseldaten (insbesondere Glukosewerte) zugreifen, die ausgewertet und für Videosprechstunden, Telemonitoring und Telekonsile genutzt werden können, um die Therapie der Patienten zu optimieren.

 
Unbedingt notwendig ist ein direkter Arzt-Patienten-Kontakt vor Ort insbesondere bei einer Erstvorstellung eines Menschen mit Diabetes und bei akuten Krankheitskomplikationen. Prof. Dr. Baptist Gallwitz
 

Ganz im Vordergrund der ärztlichen Diabetikerversorgung steht für Karin Schlecht die persönliche Besprechung der Stoffwechseldaten mit dem Patienten – „sprechende Medizin, die äußerst gut im Rahmen einer Videosprechstunde stattfinden kann, und die vielfältige Vorteile für beide Seiten hat“.

Vorteile für Patienten und Behandler

Wichtigste Vorteile der Videosprechstunde für Patienten sind Schlecht zufolge:

  • Zeit- und Aufwandsersparnis (keine Fahrzeiten, keine Wartezeiten in der Praxis)

  • planbar und ortsunabhängig (Arbeit, Urlaub, via Computer, Tablet oder Handy)

  • einfache Anmeldung über eine TAN (hohe Datensicherheit)

  • schnelle Kontaktaufnahme (zwischen Ärzten und Wundschwestern, Pflegedienst, Angehörigen)

Vorteile von Telemedizin und Videosprechstunde für die Behandler sind der Eisenacher Diabetologin zufolge:

  • Ortsunabhängigkeit im deutschen Gesundheitswesen

  • Entlastung für Praxisabläufe (z.B. weniger volle Wartezimmer)

  • hoher Datenschutz durch Nutzung von der KBV zertifizierter Videodienstanbieter (derzeit 31)

  • einfache Abrechnung, keine Software-Installation

  • Patient und Krankheitsverlauf „im Blick“, schnelle Reaktionszeit bei akuten Problemen, strukturierter Gesprächsverlauf

Möglichkeit von Fallkonferenzen und Konsil-Zuschaltungen mit Kollegen in Echtzeit

Wechsel zwischen Video- und Präsenzsprechstunden

Schlecht bietet ihren Patienten seit mittlerweile 2 Jahren Videosprechstunden an, die sie im Gespräch mit Medscape erläuterte: „Routinemäßig sehe ich die Patienten im Wechsel etwa alle 3 Monate im virtuellen Raum und dann wieder in einer Präsenzsprechstunde in unserer Praxis. Treten in der Zwischenzeit medizinische Probleme auf, können diese zunächst telefonisch mit unseren Diabetesberaterinnen besprochen werden. Absoluten Vorrang hat die Präsenzsprechstunde natürlich, wenn es um akute Komplikationen wie Infektionen, neu aufgetretene Fußläsionen oder um einen neu eingestellten oder schwer entgleisten Diabetes geht.“

 
Die Diabetologie ist eigentlich die Steilvorlage für die Telemedizin. Dr. Karin Schlecht
 

In der Videosprechstunde – in Schlechts Praxis überwiegend mit Typ-1-Diabetikern – werden mit den Patienten vor allem deren in den vergangenen Wochen gemessenen Glukosewerte besprochen. Doch auch Inspektionen sind per Video möglich, etwa um den Heilungsprozess einer Fußläsion ärztlich zu beurteilen: „Dies kann allein mit den Patienten oder zum Beispiel auch während des Hausbesuchs der Wundschwester erfolgen, zu dem ich mich dann nach vorheriger Vereinbarung hinzuschalte“, so Schlecht.

Beeindruckt sei sie von der Akzeptanz des telemedizinischen Angebots „gerade auch bei vielen älteren Patienten“. Mittlerweile hat die Eisenacher Ärztin mehr als 2 halbe Praxistage ausschließlich für Videosprechstunden reserviert.

Verbesserungsbedarf bei Abrechnungsmöglichkeiten und Infrastruktur

Für Praxen, die Videosprechstunden anbieten wollen, ist der dafür erforderliche Aufwand relativ gering: Technische Voraussetzungen sind neben einer Internetverbindung ein Bildschirm mit Kamera, Mikrofon und Lautsprecher, und es ist einer der von der KBV zertifizierten Videodienstanbieter auszuwählen. Einige davon bieten ihre Dienste in der gegenwärtigen Corona-Krise – bis auf Weiteres – sogar kostenlos an. In der Eisenacher Praxis lagen die Kosten dafür sonst bei ca. 50 Euro pro Monat.

„Telekonsultationen können in Qualität und Expertise der Vis-à-Vis-Behandlung ebenbürtig sein“, ist Karin Schlecht überzeugt und hofft, dass sich die Telemedizin in der Diabetologie und anderen medizinischen Bereichen auch nach der Corona-Krise weiter verbreiten wird.

Dennoch sieht sie dafür bislang noch Hindernisse: „Deutlichen Verbesserungsbedarf gibt es bei den Abrechnungsmöglichkeiten, die neu verhandelt werden müssen, um die Telemedizin im EBM stärker zu berücksichtigen und deren Leistungen weniger zu budgetieren. Genauso wichtig ist es aber auch, die digitale Infrastruktur in Deutschland zu verbessern, damit Telemedizin flächendeckend Patienten und Behandlern zugutekommen kann.“
 

Kommentar

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