Verrückte Theorien zur Coronavirus-Pandemie sind zurzeit infektiöser als das Virus selbst, so mag es einem Vorkommen, wenn man im Internet surft oder die Proteste auf der Straße verfolgt.
Haben Sie auch Patienten, Bekannte oder sogar Kollegen, die Sie zu der derzeit wieder besonders lauten Gruppe der Verschwörungstheoretiker zählen würden? Sind Sie auch manchmal ratlos, wie Sie mit ihnen diskutieren sollen und zweifeln, ob ihre normalen Kommunikationstechniken in solchen Fällen sogar eher kontraproduktiv sind?
Prof. Dr. Eckard Nagel, Arzt und Medizinethiker, hat auf diese Fragen Antworten parat. Auch er blickt im Interview mit Medscape mit Sorge auf die sich ausbreitenden Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit der Corona-Krise. Besonders weil sich auch immer wieder Ärzten daran beteiligen. Er erklärt warum viele von abstrusen Gedanken „infiziert und nicht mehr interessiert“ sind.
Aber er kann Wege aufzeigen, wie man mit Verschwörungstheoretikern ins Gespräch kommt – ohne sich selbst zu verbiegen, auch wie man die richtigen Fragen stellt.
Nagel ist Professor für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bayreuth. Der 59-Jährige war stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Ethikrates und Mitglied des Deutschen Ethikrates.
Medscape: Herr Prof. Nagel, wie entstehen aus Ihrer Sicht Verschwörungstheorien?
Prof. Nagel: Verschwörungstheorien sind ein altes Phänomen. Immer dann, wenn die Lebensverhältnisse unsicher werden, wie jetzt während der Corona-Pandemie, treten nach einer Weile Verschwörungstheorien auf. Zu Beginn der Corona-Krise vertrauten die meisten Menschen in Deutschland auf die Führung der Regierenden, auch international war das so.
Inzwischen versuchen aber die von der Politik Enttäuschten über Verschwörungstheorien Aufmerksamkeit zu erhalten und sogar einen Vertrauensverlust zu erzeugen. Das Vertrauen auf die Politik wird zum Problem erklärt und Misstrauen zur Lösung. Es werden Fehler beklagt, die sich dadurch erklären, dass die sogenannten Herrschenden eigene Interessen verfolgen. Dabei ist es ganz natürlich, dass auch die Politik Fehler macht. Fehler gehören zur menschlichen Existenz.
Zur Verunsicherung kommt dann nicht selten die Verleugnung hinzu. Es ist ja ein typisches menschliches Verhalten, den Kopf immer dann in den Sand zu stecken, wenn etwas auf ihn zukommt, was ihm zu groß erscheint.
Das Corona-Virus einfach mit einem Grippe-Virus zu vergleichen, ist für mich eine solche Realitätsverleugnung. Statt die Fakten zur Kenntnis zu nehmen, wächst die Überzeugung: „Da will mir jemand etwas einreden, da will mich jemand täuschen.“ Allerdings sind Unsicherheit und Verleugnung ganz normale Reaktionen, die noch niemanden zu einem Verschwörungstheoretiker machen.
Medscape: Sie sagen, Unsicherheit und Verleugnung gab es in Krisen immer schon. Was ist neu an der Corona-Krise?
Prof. Nagel: Dass nicht nur das Virus, sondern auch die Gedanken über das Virus quasi infektiös geworden sind. Verschwörungsthesen, dass etwa Bill Gates die Weltherrschaft anstrebt, „gehen viral“, wie wir inzwischen sagen. Das heißt, es fehlen Mechanismen, um die Gedanken einzuordnen. Die verunsicherten Internet-Nutzer führen keine Debatten mehr, sondern hängen fest in Argumentationszirkeln, aus denen sie nicht mehr herauskommen. Das ist neu.
Medscape: Warum gibt es kein Interesse an offenen Debatten?
Prof. Nagel: Wenn ich in einem YouTube-Clip genau meine Überzeugungen wiedererkenne, kann ich aufatmen. Ich kann entspannt bei meiner Meinung bleiben und muss mich nicht dem offenen Gespräch stellen. Nach 6 Wochen der ständigen Bestätigung eigener Positionen erreicht man mich dann nicht mehr mit anderen Argumenten. Ich bin dann wirklich infiziert – und nicht mehr interessiert.
Medscape: Wie ließe sich diese Infektion stoppen?
Prof. Nagel: Wir brauchen wieder einen offenen Raum, in dem verschiedene Meinungen ausgedrückt werden können und wo auch zugehört wird. Bei den Demonstrationen sehe ich, dass dieser Raum durch eine sehr hohe Emotionalität verloren gegangen ist.
Denkbar wäre stattdessen die so genannte „Open Space-Methode“, unter einer neutralen Moderation. Da können die Teilnehmer in Arbeitsgruppen frei und vollständig ihre Meinungen vortragen. Am Schluss wird gesammelt, und es werden gegebenenfalls Handlungsalternativen vereinbart.
Das größte Problem ist ja das Misstrauen. Ein Open-Space-Prozess könnte dagegen Vertrauen schaffen, das ist meine Hoffnung. Es gibt zum Beispiel Menschen, die stehen dem Impfen aus persönlicher Überzeugung skeptisch gegenüber. Dabei wissen wir heute noch nicht einmal, ob es überhaupt einen Impfstoff gegen das Corona-Virus geben wird. Aber die Skeptiker stellen relevante Fragen und man sollte sich mit ihnen an einen Tisch setzen und den Realitäts-Check machen: Was wissen wir? Was wissen wir nicht? Was fürchten wir? Was können wir tun? Wenn wir so fragen, sind wir nicht mehr gezwungen, auf verhärtete Positionen zurück zu fallen.
Medscape: Nun treten ja sogar Ärzte als Verschwörungstheoretiker auf. Wie bewerten Sie das?
Prof. Nagel Immer dann, wenn die ärztliche Profession als eine Art Legitimation genutzt wird, halte ich das für besonders problematisch, weil hier mit dem Vertrauensvorschuss gespielt wird, den Ärzte haben. Ärzte und Pflegende sind in der Erfahrungswelt der meisten Menschen fest verankert: Der Arztbesuch gehört zum Alltag, viele haben ein krankes Familienmitglied oder ein pflegebedürftiges Elternteil.
Vertrauen ist das Fundament dieser Begegnungen und Beziehungen. Allerdings stehen Ärzte seit etwa 20 Jahren auch unter einem höheren Begründungsdruck. Das Vertrauen auf die sichere wissenschaftliche Basis ihrer Arbeit ist im Zeitalter des Internets gesunken. Noch in den 60er Jahren galten empirische Forschungsergebnisse als Schlüssel zum Wohlergehen der Gesellschaft und wurden gefeiert.
Heute begegnet man zum Teil bewusster Herabsetzung von wissenschaftlicher Arbeit und von Berufsgruppen, die auf diesem Fundament tätig sind. Das ist wirklich ein phänomenaler Wandel seit den 60er Jahren.
Ich erinnere mich an eine unheilbar kranke Patientin, die mir sagte: „Sie wissen schon, dass es noch Heilungsmöglichkeiten gib!? Die Pharmaindustrie will nur nicht, dass ich die passenden Medikamente bekomme, weil mit gesunden Menschen kein Geschäft gemacht werden kann.“ Die Patientin ging dann in eine Privat-Klinik auf Zypern. Dort zahlte sie zwar viel Geld, aber geheilt wurde sie leider nicht.
Da wird mit Scharlatanerie und Angst eine Menge Geld verdient! Das Argument, dass ein wirksames Medikament ganz gewiss den Weg in die Versorgung findet, weil es auf einen großen Markt treffen würde, hat die Patientin nicht überzeugt. Sie war sicher: Hier gibt es Gruppen, die ein Interesse daran haben, dass sie nicht geheilt werde.
Medscape: Was können Ärzte tun?
Prof. Nagel: In einem Klima des Misstrauens ist es wichtig, dass Ärzte sich genau überlegen, wie sie sich positionieren. Was mir auffällt: Manche nutzen den Bonus, den die Ärzteschaft hat, um ihre eigenen Worte zusätzlich zu legitimieren. So finden sich in den Medien Leute, die sich auf ihre ärztliche Ausbildung berufen, obwohl sie gar nicht mehr als Ärzte arbeiten, einzig, um medial stärker wahrgenommen zu werden und mit ihren Argumenten erfolgreicher zu sein. Das halte ich für einen gefährlichen Missbrauch des Ansehens der Ärzteschaft.
Wenn ich als Teil einer Berufsgruppe öffentlich auftrete, muss ich mich auch an die Regeln der Gruppe halten. Das gilt für Pfarrer, Lehrer oder andere sogenannte Würdenträger, die mit einer gesellschaftlichen Position ausgestattet sind, ebenso wie für Ärzte. Andernfalls nutze ich die Vorteile der Wertschätzung für den Berufsstand, um die eigenen Ziele zu verfolgen. Ich verleihe meinen Argumenten sozusagen unter der Hand einen zusätzlichen Richtigkeitsanspruch.
Medscape: Haben Ärzte auch eine erzieherische Aufgabe?
Prof. Nagel: Unbedingt! Denn ärztliches Handeln ist immer verbunden mit einem Beziehungsverhältnis, in dem es um das Ver- und Beantworten von Gesundheits- und Lebensfragen des Patienten und der Gesellschaft geht. Das braucht Verlässlichkeit. Deshalb haben wir die Zuständigkeit auf Ärztekammern übertragen. Damit handeln Ärzte immer auch aus einer gemeinsamen übergeordneten Verantwortung heraus auf dem Boden einer spezifischen Berufsordnung und einer persönlichen Verpflichtung z.B. dem hippokratischen Eid, der sich auf den jeweiligen aktuellen Wissenstand bezieht.
Medscape: Aber dieser Wissenstand ist sehr vielfältig.
Prof. Nagel: Das stimmt, es gibt viele Komponenten im Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele im Hinblick auf Gesundheit oder unterschiedlichste psychische, physiologische oder biochemische Prozesse bei einer Krankheit, Komponenten, die man häufig kaum trennen kann. Aber auch, wenn von Ärzten dann verschiedene Therapieangebote gemacht werden, brauchen sie trotzdem die Klammer des Verantwortbaren. Das ist die Grundlage des Vertrages der Gesellschaft mit der Berufsgruppe der Ärzte.
Medscape: Müssen die Kammern eingreifen, wenn Ärzte auf Hygiene-Demos sprechen?
Prof. Nagel: Wenn Ärzte sich außerhalb dieses Vertrages bewegen, muss die verfasste Ärzteschaft klar dagegen Position zu beziehen. Kammern müssen prüfen, ob hier das vertrauens- und auftragsbezogene Arzt-Patienten-Verhältnis beschädigt wird. Wenn man sagt: `Ich bin Arzt, und aus meiner ärztlichen Überzeugung heraus bin ich für diese spezielle politische Richtung´, dann verlässt der Arzt seinen Beziehungsrahmen. Das ist Missbrauch, der nicht akzeptiert werden darf. Das Engagement darf nicht im Namen der Ärzteschaft stehen.
Medscape: Sind wir bereits in der Situation, wo die Kammern eingreifen müssten?
Prof. Nagel: Die Ärzteschaft muss sich überlegen, wie sie damit umgeht. Das ist schwierig. Es braucht eine Sensibilität im Rückgriff auf die Berufsbezeichnung. Sie ist nicht gegeben, wenn ich als Arzt zum Beispiel strategische Wortspiele, wie „Schwindelambulanz“ meinen Einlassungen zur Corona-Krise voran stelle, wie der Arzt Bodo Schiffmann das tut. Das ist nach meiner persönlichen Überzeugung inakzeptabel.
Natürlich kann man dem entgegenhalten, dass auch offizielle Stimmen als Virologen und Epidemiologen auftreten, also als Wissenschaftler, die mit dem ärztlichen Beruf assoziiert werden. Natürlich! Aber hier geht es um wissenschaftliche Sachverhalte, die Auswirkungen auf die Gesundheit haben können, nicht darum, als medizinsicher Experte etwa zu einem Protestmarsch aufzurufen. Dessen ungeachtet kann ein Arzt das als Bürger natürlich jederzeit tun.
Medcape: Wie können die Ärzte im Sprechzimmer auf Verschwörungstheoretiker reagieren? Argumentieren? Konfrontieren?
Prof. Nagel: Das, was in einem Open-Space-Verfahren geschehen könnte, findet ja beim Kontakt im Sprechzimmer statt. Gespräch. Empathie. Zuhören. Es geht also darum, den Patienten, die an Verschwörungstheorien glauben, eine Beziehung und das persönlich Gespräch anzubieten. Das ist die ärztliche Aufgabe.
Viele Menschen sind verängstigt und wissen nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Viele Diabetiker oder auch demenziell Erkrankte, oft ältere oder alleinstehende Patienten, haben deshalb den Kontakt zur regelmäßigen medizinischen Versorgung verloren. Das war vielleicht für eine Zeitlang unabdingbar, aber ist bereits in sich ein Risiko.
Nun müssen sie sich wieder trauen, zum Arzt zu gehen. Denn sie brauchen das persönliche Gespräch. Da sehe ich ein großes Aufarbeitungsfeld. Für viele Patienten war die Corona-Epidemie ein substanzielles Trauma, das wir rasch aufarbeiten müssen. Wahrscheinlich haben wir hier schon zu lange weggesehen.
Medscape: Das alles gilt für die, die trotz Verunsicherung noch offen sind für persönliche Gespräche. Was tun mit denen, die unversöhnlich, mit harten Protesten auf die Straße gehen?
Prof. Nagel: So lange sie die Freiheit und die Entwicklungsmöglichkeiten von Dritten nicht beeinträchtigen, braucht man nichts tun. Aber wenn zum Beispiel Glaubensgemeinschaften, ethnische Gruppen oder Einzelpersonen angegriffen und in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, muss das bestraft werden. Auch Hass im Internet ist argumentative Körperverletzung!
Ich meine, wir brauchen in dieser Hinsicht eine größere Stringenz: Solche Angriffe scharf zurückweisen und zugleich Solidarität mit den Opfern üben. Nur so machen wir klar, was erlaubt ist, und nur so werden wir untereinander wieder lernen, die Grenzen einzuhalten.
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Coronavirus eine Biowaffe??? Ethikprofessor gibt Tipps, wie Sie als Arzt mit Verschwörungstheoretikern umgehen sollten - Medscape - 3. Jun 2020.
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