Verbreiten Kinder SARS-CoV-2 nicht so stark wie Erwachsene? Darauf deutet einiges hin. Doch so ganz eindeutig ist die Studienlage dazu nicht – was in Deutschland derzeit für einige öffentliche Diskussionen sorgt.
Da gibt es die eine Seite: Dass Kinder für die COVID-19-Pandemie eine eher untergeordnete Rolle spielen legt z.B. eine schwedischen Studie nahe, die am 19. Mai in Acta Paediatrica erschienen ist. Schweden hat bekanntlich einen Sonderweg eingeschlagen und während der Pandemie die Kitas und Grundschulen nicht geschlossen.
Die Studienautoren hatten 700 wissenschaftliche Arbeiten und Briefe und 47 Volltexte untersucht und festgestellt, dass Kinder nur einen kleinen Bruchteil der COVID-19-Fälle ausmachten und zudem meist eher soziale Kontakte zu Gleichaltrigen oder Eltern hatten als zu älteren Menschen mit erhöhtem Infektionsrisiko.
Weiter zeigten Studien zur Übertragung im Haushalt, dass Kinder selten der Indexfall waren, und Fallstudien legen nahe, dass Kinder mit COVID-19 selten Ausbrüche verursachen. Es sei aber sehr wahrscheinlich, dass Kinder das SARS-COV-2-Virus übertragen können, und selbst asymptomatische Kinder könnten eine erhebliche Viruslast aufweisen, schreiben Prof. Dr. Jonas Ludvigson, Epidemiologe am Karolinska-Institut Stockholm und Kollegen.
Ihr Fazit: Es ist unwahrscheinlich, dass Kinder viel zum Pandemiegeschehen beitragen. Die Öffnung der Schulen und Kindergärten hat wahrscheinlich keinen Einfluss auf die COVID-19-Mortalitätsraten bei älteren Menschen.
In eine ähnliche Richtiúng geht ein Einzelfallbericht, der in Clinical Infectious Diseases publiziert wurde und Anfang April einige Wellen geschlagen hatte: Ein 9 Jahre altes französisches Kind hatte sich in den französischen Alpen mit dem Coronavirus angesteckt. Die Ansteckung blieb zunächst unbemerkt, es besuchte in den kommenden Tagen Schule und Skikurse. In dieser Zeit und bevor es in Quarantäne kam, hatte es Kontakt zu 172 Menschen – steckte aber offenbar niemanden an. Die Beobachtung wurde vielfach als Beleg herangezogen, dass Kinder für die Pandemie wohl keine Rolle spielen.
„Kinder sind keine Superspreader“
Eine Studie chinesischer Wissenschaftler in Science Ende April ergab, dass Kinder bis 14 Jahre wohl nur ein Drittel so empfänglich für das Virus sind wie Erwachsene. Verglichen mit der Gruppe der Erwachsenen (Alter: 15-64 Jahren) wiesen sie eine Odds Ratio für eine SARS-CoV-2-Infektion von 0,34 auf, während die Gruppe der Senioren (Alter ab 65 Jahre) offenbar anfälliger war: OR: 1,47.
Im British Medical Journal plädierte Dr. Alasdair Munro vom University Hospital Southampton Ende April unter dem Titel „Kinder sind keine Superspreader“ dafür, Schulen wieder zu öffnen. Als Beleg führte er eine ganze Reihe von Studien an, die Kindern eine eher bescheidene Rolle bei der Verbreitung von Sars-CoV-2 zuschreiben.
So hätten Südkorea und Island mittels Tests festgestellt, dass Kinder unter den Infizierten unterrepräsentiert seien. In Island galt dies sowohl für gezielte Tests von Hochrisikogruppen (symptomatische Patienten, Patienten, die in Risikoländer gereist waren oder die Kontakt mit infizierten Personen hatten) im Vergleich zu Erwachsenen (6,7% vs 13,7%) als auch für allgemeine Screenings, zu dem die Bevölkerung eingeladen wurde (0,8% der Getesteten waren viruspositiv). Sowohl in den Hochrisikogruppen als auch im allgemeinen Screening fanden sich keine Kinder unter 10 Jahren, die positiv auf SARS-CoV-2 waren.
Ein ähnliches Bild zeigte sich in der der stark von SARS-CoV-2 betroffenen italienischen Stadt Vo. Dort wurden nach dem ersten COVID-19-bedingten Todesfall Ende Februar 86% der Einwohner auf SARS-CoV-2 getestet. 2,6% der Allgemeinbevölkerung war viruspositiv, darunter aber keine Kinder unter 10 Jahren. Und das, obwohl eine Reihe von Kindern bei Erwachsenen mit COVID-19-Infektion lebte.
Kinder werden nicht nur seltener krank, sie infizieren sich wohl auch seltener mit SARS-CoV-2 als ihre Eltern – das ist laut Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) das Zwischenergebnis einer Untersuchung der Unikliniken Heidelberg, Freiburg und Tübingen.
Die Studie ist Ende April gestartet, 2.500 Kinder bis 10 Jahre und jeweils ein Elternteil werden dabei auf das Virus und mögliche Antikörper getestet. Unter anderem fiel auf, dass das Ausbreitungsrisiko bei Kindern in der Notbetreuung nicht erhöht war – verglichen mit den Jungen und Mädchen, die zu Hause betreut wurden. Auf Grundlage dieser Daten habe die Landesregierung beschlossen, ein Konzept für die weitere Öffnung der Grundschulen zu entwickeln und Kitas bis Ende Juni vollständig zu öffnen, so Kretschmann.
Schulen auf? So eindeutig ist die Studienlage nicht
Vergangene Woche erst hatten der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI), die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH), die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) und die Gesellschaft für Hygiene, Umweltmedizin und Präventivmedizin (GHUP) in einer gemeinsamen Stellungnahme eine rasche Öffnung der Kitas und Schulen „ohne massive Einschränkungen“ gefordert, also ohne Kleinstgruppen und Abstandsgebote, lediglich in festen Gruppen und Klassen.
Also Schulen auf? Eindeutig ist die Datenlage zumindest derzeit nicht. So ergab die vieldiskutierte Ende April bislang nur auf einem Preprint-Server publizierte Studie von einem Team um Prof. Dr. Christan Drosten, Charité Berlin, dass die Viruslast zwischen Kindern und Erwachsenen sich nicht wesentlich unterscheidet. Seine Studie kommt zu dem Schluss, dass infizierte Kinder im Rachen ähnlich viele Viren tragen könnten wie infizierte Erwachsene. „Children may be as infectious as adults“ heißt es im Schlusssatz.
Als Preprint hat die Studie noch keinen Kontrollprozess durchlaufen, entsprechend meldeten sich kritische Stimmen. Bemängelt wurde u.a., dass die Studie nur 47 Kinder eingeschlossen hatte – was Drosten selbst zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits kritisch angemerkt hatte.
Die Veröffentlichungen von Preprints sind in der COVID-19-Pademie übliche, wenngleich nicht unumstrittene Praxis geworden. Einerseits kann man so Kollegen und Entscheidungsträger frühzeitig über neue Erkenntnisse informieren, was in einer Pandemie lebensrettend sein kann. Andererseits kann ein Preprint eben auch noch Fehler enthalten. Entsprechend überprüfen Gutachter Methoden und Ergebnisse und fordern Nachbesserungen – das macht die Stärke von Wissenschaft aus.
Kritik an Drostens Studie: Grobe statistische Methoden
Namhafte Statistiker kritisieren an der Berliner Studie, dass die Daten auch die Schlussfolgerung „Kinder könnten ebenso infektiös sein wie Erwachsene“ nicht hergäben. „Die Analyse ist unangemessen“ schreibt etwa der bekannte Datenanalytiker David Spiegelhalter am 25. Mai in einem Beitrag, der sich ausführlich mit dem Preprint auseinandersetzt. Die statistischen Verfahren seien nicht geeignet gewesen. Spiegelhalter schlägt vor, den Preprint aufgrund der unangemessenen Analyse zurückzuziehen. Neben Spiegelhalter kritisierten auch andere Statistiker die statistischen Verfahren als zu grob.
Die BILD strickte daraus, dass die Studie „grob falsch“ sei, fragte, wie lange Drosten schon davon gewusst habe und versuchte, ihn aufgrund seiner Studie für die Schließung der Schulen verantwortlich zu machen. Was reichlich absurd anmutet, denn die Schulen wurden Mitte März geschlossen, Drostens Studie Ende April veröffentlicht. Von der Berichterstattung der BILD haben sich alle Kritiker, die das Blatt als Kronzeugen aufgefahren hatte, umgehend distanziert.
Drosten selbst bestätigte im NDR Podcast am 26. Mai, dass es sich um grobe statistische Methoden handele und die Kritik, dass man hätte feinere Methoden verwenden können, richtig sei. „Aber das hat für die medizinische Interpretation und die Bedeutung dieser Daten überhaupt keine Konsequenz.“
Man habe, so Drosten, die substanzielle Kritik an der statistischen Analyse gesammelt und in das Update der Vorstudie eingearbeitet, das zunächst auf der Seite der Charité erscheinen und dann in einem Fachjournal publiziert werden soll.
Attack rate zwischen Kindern und Erwachsenen ähnlich
Ein weiterer Aspekt: Offenbar unterscheidet sich auch die „attack rate“ zwischen Kindern und Erwachsenen wenig. Die „attack rate“ beschreibt wie viele Menschen von denen, die sich infiziert haben könnten, sich auch tatsächlich infiziert haben. Eine Familien-Kohortenstudie im Lancet , die Ende März auf medRxiv erschienen war, zeigt, dass Kinder aller Altersgruppen und Erwachsene ungefähr die gleiche „attack rate“ aufwiesen.
Untersucht wurden 1.286 Haushaltskontakte von 391 Infizierten. „Kinder weisen ein ähnliches Infektionsrisiko wie die Allgemeinbevölkerung auf, auch wenn mit geringerer Wahrscheinlichkeit schwere Symptome auftreten. Sie sollten deshalb bei Übertragungs- und Kontrollanalysen berücksichtigt werden“, schreiben die Studienautoren.
Dass der Übertragungsweg Schule wohl doch eine Rolle spielt, zeigt auch eine Studie aus Nordfrankreich, die Ende April auf einem Preprint Server publiziert worden ist. Sie dokumentiert den Ausbruch von COVID-19 in einer Schule in Oise – rückblickend, als die Schulen noch geöffnet hatten. 40% der Mitarbeiter der gesamten Schule hatten sich mit SARS-CoV-2 infiziert.
Es handelte sich bei der Schule um eine Art Gymnasium. Die Schüler waren zwischen 15 und 18 Jahren alt. 660 Personen – Schüler, Lehrer und Schulpersonal – wurden auf Antikörper getestet. Bei den Übertragungen auf die Geschwister und auf die Eltern fanden sich „attack rates“ von 10,2 und 11,4%. Von den Schülern selbst hatten sich 38,3% infiziert, 43,4% der Lehrer und 60% der sonstigen Mitarbeiter vom Kantinenpersonal über den Hausmeister bis zum Schulpsychologen.
So klar ist die Rolle von Kindern also offenbar noch nicht. Kinder sind bei SARS-CoV-2 wohl aber – anders als bei Influenza – nicht die treibende Kraft der Infektionswelle, darauf können sich die meisten Wissenschaftler einigen.
Um herauszufinden, welchen Einfluss der Schulbesuch von Kindern auf die Ausbreitung von COVID-19 hat, müssen wohl noch weitere Daten erhoben werden. Bund und Länder haben sich für Deutschland derweil auf die stufenweise Öffnung von Schulen verständigt, auch Kitas öffnen schrittweise wieder.
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Kinder sind keine Superspreader – das sagt die derzeitige Studienlage zu ihrer Rolle bei der Verbreitung von SARS-CoV-2 - Medscape - 3. Jun 2020.
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