Oft unterschätzt: Über ein Drittel der stationären COVID-19-Patienten entwickelt ein akutes Nierenversagen

Nancy A. Melville

Interessenkonflikte

29. Mai 2020

Über ein Drittel der COVID-19-Patienten in US-Kliniken entwickelte ein akutes Nierenversagen und fast 15% der Patienten benötigten eine Dialyse. Dies zeigte eine Untersuchung, die in Kidney International veröffentlicht worden ist [1]. Daher fordern Experten eine intensivere Erforschung verschiedener Aspekte dieses zunehmend wichtigen Themas.

Von 5.449 Patienten, die zwischen März und April 2020 in 13 Kliniken des Gesundheitsdienstleisters Northwell Health aufgenommen wurden, entwickelten 1.993 (36,6%) ein akutes Nierenversagen. Dieses stand in engem Zusammenhang mit dem Auftreten einer respiratorischen Insuffizienz. Die Häufigkeit eines akuten Nierenversagens lag unter den beatmeten Patienten bei 89,7%. Bei Patienten, die nicht beatmet werden mussten, entwickelte sich nur selten eine schwere Erkrankung – nur bei 21,7%.

Das akute Nierenversagen im Rahmen einer COVID-19-Erkrankung war auch mit einer schlechten Prognose verbunden: 35% der Patienten, die ein akutes Nierenversagen entwickelten, waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Untersuchung bereits gestorben.

Die Studie umfasst die bisher größte definierte Kohorte von hospitalisierten COVID-19-Patienten mit dem Schwerpunkt akutes Nierenversagen, sagte Dr. Jamie S. Hirsch von der Barbara Zucker School of Medicine in Hofstra/Northwell, Great Neck, New York, der mit seinem Team die Arbeit publizierte.

Studien bestätigen Erfahrungen von Ärzten

Die Ergebnisse stimmen mit denen einer Studie über New Yorker Kliniken überein, die vor Kurzem im Lancet veröffentlicht worden ist. Bei dieser Erhebung entwickelte knapp ein Drittel (31%) der kritisch kranken Patienten so schwere Nierenschäden, dass eine Dialyse erforderlich wurde.

Beide Studien bestätigen die Erfahrungen vieler Ärzte vor Ort. In zahlreichen Kliniken wurde das Problem des akuten Nierenversagens in der Frühphase der Pandemie unterschätzt. Man hatte große Schwierigkeiten, ausreichend Dialysegeräte und Dialyselösungen zu finden, um die am schwersten betroffenen Patienten versorgen zu können.

„Wir hoffen, dass wir in den kommenden Wochen mehr über das akute Nierenversagen im Rahmen der COVID-19-Erkrankung erfahren, und dass andere Ärzte und ihre Patienten davon profitieren, wenn wir das, was wir bei unseren Patienten gelernt haben, weitergeben“, sagte Dr. Kenar D. Jhaveri, Chef der Nephrologie in Hofstra/Northwell und Seniorautor der Studie in Kidney International.

Klinische Studien gefordert

Dieser neue Bericht kommt zu einem Zeitpunkt, an dem Wissenschaftler des NIDDK (National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases) in einem in Diabetes Care veröffentlichten Leitartikel die Bedeutung des akuten Nierenversagens als COVID-19-Folge hervorheben [2]. Auch sie betonen, wie wichtig es sei, besser zu verstehen, was da geschehe, da sich immer mehr Kliniken mit COVID-19-Patienten mit dieser Komplikation konfrontiert sehen.

„Der natürliche Verlauf und die Heterogenität der Nierenerkrankung im Rahmen von COVID-19 müssen entschlüsselt werden“, sagte der Leiter der Abteilung für Nephrologie, Urologie und Hämatologie beim NIDDK und Mitautor Dr. Robert A. Star gegenüber Medscape.

 
Klinische Studien sind erforderlich, um die therapeutischen Möglichkeiten zur Prävention oder Behandlung eines akuten Nierenversagens im Rahmen einer COVID-19-Erkrankung auszutesten. Dr. Robert A. Star
 

Solche Forschungen sind von enormer Bedeutung, weil „eine niedrige Nierenfunktion derzeit ein Ausschlusskriterium in aktuellen Studien ist“, in denen antivirale Medikamente gegen COVID-19 untersucht werden, sagte er. „Klinische Studien sind erforderlich, um die therapeutischen Möglichkeiten zur Prävention oder Behandlung eines akuten Nierenversagens im Rahmen einer COVID-19-Erkrankung auszutesten“, fügte er hinzu.

Schwerkranke entwickeln ein akutes Nierenversagen, wenn sich ihr Zustand verschlechtert

Die Identifizierung von Risikofaktoren für ein akutes Nierenversagen bei COVID-19 werde entscheidend dazu beitragen, diagnostische und prädiktive Biomarker zu finden, sagte Star.

Laut Hirsch und seinem Team entwickeln extrem kranke Patienten oft ein Nierenversagen, wenn sich ihr Zustand verschlechtert, und dies geschieht schnell. In der Tat waren die deutlichsten Risikofaktoren für die Entwicklung eines akuten Nierenversagens „die Notwendigkeit einer unterstützenden Beatmung oder eine Vasopressoren-Medikation“. Andere unabhängige Prädiktoren eines akuten Nierenversagens waren höheres Alter, schwarze Ethnie, Diabetes, Hypertonie und kardiovaskuläre Erkrankungen.

Von den beatmeten Patienten in der insgesamt über 5.000 Patienten umfassenden Studie von Hirsch und seinen Kollegen entwickelte fast ein Viertel (23,2%) ein akutes Nierenversagen und benötigte eine Nierenersatztherapie, d.h. entweder eine intermittierende oder eine kontinuierliche Hämodialyse.

 
Die Hämodialyse bei kritisch kranken Infizierten ist mit signifikanten Gerinnungsproblemen und einer erhöhten Mortalität verbunden. Dr. Robert A. Star und Kollegen
 

Star und seine Mitautoren halten diese Zahlen wegen des Dominoeffektes für wichtig. „Die Hämodialyse bei kritisch kranken Infizierten ist mit signifikanten Gerinnungsproblemen und einer erhöhten Mortalität verbunden und bedeutet zudem ein größeres Infektionsrisiko für das Personal“, betonen sie.

„Die Inzidenz des akuten Nierenversagens, über die in dieser Studie berichtet wird, ist höher als die aus anderen Untersuchungen in den USA und in China“, so Star gegenüber Medscape. „Diese Inzidenz spiegelt womöglich demografische Faktoren und Unterschiede bei der Schwere der Erkrankungen, der Prävalenz von Komorbiditäten, sozioökonomische Faktoren, das Patientenaufkommen, das eventuell die Kapazitäten der Klinik übersteigt, oder auch andere noch nicht bestimmte Faktoren wider.“

„Mögliche Ursachen sind eine Dehydrierung (Volumenmangel), Herzinsuffizienz, ein Zytokinsturm als Entzündungsreaktion auf das Virus, Ateminsuffizienz, intravasale Gerinnung (Hyperkoagulation), Abbau von Muskelgewebe (Rhabdomyolyse) und/oder die direkte Virusinfektion der Niere“, sagte Star.

Nierenbiopsien könnten Licht ins Dunkel bringen

Die Autoren um Star schreiben weiter, dass Nierenbiopsien von COVID-19-Patienten mit akutem Nierenversagen etwas Licht in diese Angelegenheit bringen könnten.

„Sie sind zwar schwierig durchzuführen, aber Biopsien von Patienten mit früherem akuten Nierenversagen könnten uns dabei helfen, die zugrunde liegende Pathophysiologie auf zellulärer und molekularer Ebene zu verstehen. Damit wären wir vielleicht in der Lage, spezifische Therapien für bestimmte Patienten-Subpopulationen zu ersinnen“, schreiben die Editorialisten.

 
Biopsien von Patienten mit früherem akuten Nierenversagen könnten uns dabei helfen, die zugrunde liegende Pathophysiologie auf zellulärer und molekularer Ebene zu verstehen. Dr. Robert A. Star und Kollegen
 

Sie weisen darauf hin, dass das NIDDK im Rahmen der von den National Institutes of Health für die COVID-19-Forschung bereitgestellten Finanzmittel eine sog. NOSI (Notice of Special Interest) veröffentlicht, in der die dringendsten Bereiche mit Forschungsbedarf skizziert werden. Danach können bewilligte Fördergelder für abweichende Vorhaben in vordefinierten Forschungsbereichen aufgewendet werden, wobei einer der Schwerpunkte auf der Niere liegt.

„Wenn die Forschungsgemeinschaft diese Krise hinter sich gelassen hat, sollten neue multidisziplinäre Anstrengungen unternommen werden, um Grundlagenforschungen sowie translationale und klinische Studien durchzuführen, die darauf abzielen, die Wissensbasis erheblich zu vergrößern. Dann können wir vielleicht verstehen, wie sich sowohl die gegenwärtige COVID-19-Bedrohung als auch künftige Gesundheitsbedrohungen auf Gesunde und auf chronisch Kranke auswirken“, heißt es da.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....