Nahezu 3 von 4 der Führungspersonen der wichtigsten medizinischen US-Fachgesellschaften (72%) haben finanzielle Verbindungen zur Industrie. Unter denjenigen, die zugleich Ärzte sind, sind es sogar 80%. Durchschnittlich erhielt jede Führungskraft innerhalb von 6 Jahren 31.805 US-Dollar. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie, die im British Medical Journal erschienen ist [1].
Die deutsche Ärzte-Organisation MEZIS („Mein Essen zahl ich selbst“) geht davon aus, dass die Situation in Deutschland ähnlich ist: „Wir haben allerdings im Gegensatz zu den USA in Deutschland keine wirkliche Transparenz über Zuwendungen der Industrie an Ärzte“, sagt Vorstandsmitglied Dr. Niklas Schurig, Hausarzt in Baden-Württemberg, gegenüber Medscape.
Onkologen erhielten 518.000 US-Dollar pro Person
Die Autoren der Studie wählten die Fachgesellschaften für diejenigen 10 Krankheiten aus, die die größten Kosten in den USA verursachen, unter anderem für Kardiologie, Infektionskrankheiten, Psychiatrie, Onkologie und Endokrinologie.
Insgesamt wurden die Verbindungen von 328 Führungspersonen untersucht – für das Jahr ihrer Funktion in der Fachgesellschaft, 4 Jahre davor und ein Jahr danach. Die Autoren nutzten dafür die staatliche Datenbank Open Payments, in die seit 2013 alle Zuwendungen an Ärzte in den USA eingetragen werden müssen.
Das Ergebnis: 235 von 328 Führungspersonen hatten Zuwendungen erhalten. Insgesamt betrug die Summe fast 130 Millionen US-Dollar, wobei 24,8 Millionen auf persönliche Honorare entfielen, etwa für Vorträge, und 104,6 Millionen auf Forschungsförderung.
Bei der durchschnittlichen Zuwendung pro Person gibt es große Unterschiede zwischen den Fachgesellschaften. So erhielt das Führungspersonal der American Psychiatric Association nur 212 US-Dollar pro Person, bei der American Society of Clinical Oncology waren es dagegen 518.000 US-Dollar pro Person. Keine der Organisationen hatte eine Führungsspitze, die ganz frei war von Zuwendungen.
Aber immerhin: Bei der American Psychiatric Association hatten 63% der Führungspersonen keine Interessenkonflikte, beim American College of Physicians 39%. „Das zeigt, dass eine finanzielle Unabhängigkeit möglich ist“, folgern die Autoren.
Fachgesellschaften hätten einen enormen Einfluss, etwa bei der Erstellung von Leitlinien. „Es entspricht dem gesunden Menschenverstand, dass sie keine finanziellen Verbindungen haben sollten zu Unternehmen, die eventuell stark von den Leitlinien profitieren“, sagt Erstautor Prof. Dr. Ray Moynihan von der Bond University in Australien. Die Autoren empfehlen den Fachgesellschaften, entsprechende Regelwerke zu erlassen.
Ähnliche Daten für Deutschland fehlen
Schurig überraschen die Ergebnisse der Studie nicht: „Ich denke, der Prozentsatz ist in Deutschland ähnlich und auch die unterschiedliche Verteilung auf die Fachgebiete.“ Vermutlich seien in den USA die Summen höher.
Eine ähnliche Prüfung für Deutschland wäre allerdings nur schwer möglich, denn hier gibt es keine zentrale Datenbank, in die alle Zuwendungen eingetragen werden müssen. Zwar hat die Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie (FSA) einen Kodex erarbeitet, der Mitgliedsunternehmen verpflichtet, Zuwendungen an Ärzte, Patientenorganisationen und andere veröffentlichen müssen. Allerdings können die Empfänger dem widersprechen, und die Informationen werden nicht zentral veröffentlicht, sondern einzeln durch die Firmen.
„Es gibt keine Möglichkeit, Daten gesammelt herunterzuladen, so dass man sie weiter analysieren kann“, kritisiert Schurig, „der Kodex ist eher eine Scheinlösung, um eine gesetzlich garantierte Transparenz wie in den USA zu verhindern.“
Die Offenlegung von Interessenkonflikten allein reiche auch nicht aus: „Man muss sie dann auch richtig managen, etwa indem die Empfänger von Zuwendungen bei der Erstellung von Leitlinien kein Stimmrecht mehr haben“, sagt Schurig. Das werde in Deutschland zunehmend umgesetzt.
Die Folge: „Fachgesellschaften achten nun verstärkt darauf, dass sie nicht Personen mit zu großen Interessenkonflikten in die Leitlinienkommissionen entsenden.“ Gerade bei jüngeren Wissenschaftlern wachse auch das Bewusstsein, dass die schöne Reise zum Kongress eben doch vielleicht das eigene Urteilsvermögen beeinflusst.
Nicht regulierte Interessenkonflikte seien keine Bagatelle, warnt Schurig: Sie verschlechterten die Versorgung, etwa, wenn eine Leitlinie ohne ausreichende Evidenz neue, teure Medikamente empfiehlt. Oder, noch schlimmer, Medikamente mit riskanten Nebenwirkungen: „Interessenkonflikte, die nicht gemanagt werden, kosten letztlich Menschenleben.“
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Wes Brot ich ess‘… Studie enthüllt finanzielle Verstrickungen von US-Fachgesellschaften und Industrie – und bei uns? - Medscape - 29. Mai 2020.
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