Eine Testosteron-Suppressionstherapie mit dem Gonadotropin-Releasing-Hormon(GnRH)-Antagonisten Degarelix kann nach einer neuen Studie die dynamischen Risikofaktoren für Sexualdelikte bei Männern mit pädophiler Störung (DSM-5) verringern. Die Ergebnisse der Studie wurden in JAMA Psychiatry veröffentlicht [1].
In der ersten randomisierten, kontrollierten Studie dieser Art an 52 Hilfe suchenden Männern mit dieser Erkrankung dämpfte Degarelix im Vergleich zu Placebo signifikant 2 entscheidende Risikofaktoren für Missbrauch: hohes sexuelles Verlangen und sexuelle Lust auf Kinder. Die Effekte stellten sich innerhalb von 2 Wochen ein.
„Das Medikament wirkt schnell, nicht nur auf biologische Systeme, sondern auch auf das Denken und das Verhalten“, sagt Dr. Christoffer Rahm vom Centre for Psychiatry Research am Karolinska Institutet in Stockholm, der an der Studie mitgewirkt hat. „Die Wirkung ist anhaltend und verstärkt sich nach 10 Wochen, was besonders in der kleinen Gruppe der Hochrisikopatienten zu beobachten war“, fügt er hinzu.
Chance zur Prävention
Nicht alle Männer mit einer pädophilen Störung begehen ein Sexualdelikt. Diejenigen jedoch, die straffällig werden, berichten in der Regel, zuvor 10 Jahre lang mit ihren Trieben gekämpft zu haben, stellen die Untersucher fest.
Dadurch eröffnen sich Möglichkeiten für präventive Maßnahmen, wenn es gelingt, Personen mit hohem Risiko, die noch nicht straffällig geworden sind, zu behandeln. Eine wirksame Behandlung könnte den sexuellen Missbrauch von Kindern verhindern und den psychosozialen Stress für Personen mit pädophiler Störung senken, schreiben sie weiter.
Die GnRH-Antagonisten gelten als wirksam zur Verminderung paraphiler Symptome, aber ihr Einsatz war bisher auf den Strafvollzug beschränkt. Die aktuelle Studie ist die erste randomisierte kontrollierte Studie, die Hilfe suchende Männer auf eigenen Wunsch berücksichtigt und nicht nur verurteilte Männer in Haft oder im Bewährungssystem. „Damit sind die Ergebnisse der Studie auch auf Patienten aus sexualmedizinischen und allgemeinpsychiatrischen Einrichtungen übertragbar“, erklärt Rahm.
Degarelixazetat versus Placebo
An der Studie nahmen 52 Männer teil, bei denen eine pädophile Störung diagnostiziert worden war und bei denen keine Kontraindikationen gegen die Medikamentengabe vorlagen. Alle Patienten hatten sich bei PrevenTell, der nationalen schwedischen Telefon-Helpline für unerwünschtes sexuelles Verhalten, gemeldet. Die Teilnehmer wurden zufällig auf 2 Gruppen verteilt: In der einen erhielten sie 2 Subkutan-Injektionen mit je 120 mg Degarelixazetat, in der anderen die gleiche Menge eines Placebos.
Der primäre Endpunkt war die Wirksamkeit 2 Wochen nach der Injektion beim Rückgang eines kombinierten Risikoscores bei 5 Aspekten der Pädophilie. Der Risikoscore reichte von 0 bis 15 Punkten. Entsprechend konnte jeder Bereich mit 0 bis 3 Punkten bewertet werden. Sekundäre Endpunkte waren die Wirksamkeit nach 2 und 10 Wochen im kombinierten Score, für jede Risikodomäne und die Lebensqualität sowie für Wirkungen und Nebenwirkungen, welche die Teilnehmer selbst angaben.
Signifikante Effekte
In der Degarelix-Gruppe war der kombinierte Risikoscore nach 2 Wochen von 7,4 auf 4,4 und in der Placebogruppe von 7,8 auf 6,6 zurückgegangen, was einer mittleren Differenz von -1,8 zwischen den Gruppen entsprach (95%-Konfidenzintervall: -3,2 bis -0,5; p = 0,01). Nach 10 Wochen betrug die Differenz -2,2 (95%-KI: -3,6 bis -0,7).
Im Bereich der pädophilen Störung lagen die Werte nach 2 Wochen bei -0,7 (95%-KI: -1,4 bis 0,0) und nach 10 Wochen bei -1,1 (95%-KI: -1,8 bis -0,4), für die sexuelle Präokkupation nach 2 Wochen ebenfalls bei -0,7 (95%-KI: -1,2 bis -0,3) und nach 10 Wochen bei -0,8 (95%-KI: -1,3 bis -0,3).
In den Bereichen Selbsteinschätzung des Risikos, schwach ausgeprägte Empathie und beeinträchtigte Selbstregulation sowie bei der Lebensqualität gab es nach 2 oder 10 Wochen keine Unterschiede zwischen den Gruppen.
Lokale Reaktionen an der Injektionsstelle waren bei Degarelix häufiger als bei Placebo (88% vs 4%). Zudem waren die Leberwerte erhöht (44% vs. 8%). 2 Patienten in der Degarelix-Gruppe wurden aufgrund vermehrter Suizidgedanken stationär aufgenommen, was ein Hinweis darauf ist, dass „eine erhöhte Aufmerksamkeit mit Blick auf das Suizidrisiko bei prädisponierten Personen gerechtfertigt ist“, schreiben die Forscher.
„Die meisten Patienten vertrugen das Medikament gut. Viele schilderten die ihrer Meinung nach positiven Auswirkungen auf ihre Sexualität und eine Mehrheit wollte das Medikament nach Beendigung der Studie weiternehmen und sich eine weitere Injektion geben lassen“, so Rahm.
Meilenstein in der Sexualwissenschaft
Dr. Peer Briken vom Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und forensische Psychiatrie an der Uniklinik Hamburg schreibt dazu in einem begleitenden Editorial, dass das innovative Potenzial dieser Studie „nicht unterschätzt werden dürfe“ [2].
Bisher war man der Meinung, dass eine solche randomisierte kontrollierte Studien nicht möglich sei, weil es unethisch sein könnte, Hochrisikoteilnehmern die Therapie vorzuenthalten und damit sexuelle Übergriffe auf Kinder in einer Kontrollgruppe zu riskieren, stellt Briken fest. Mit der aktuellen Studie „hat sich die Situation geändert, was einen Meilenstein in der klinischen Sexualwissenschaft und auf dem Gebiet der forensischen Psychiatrie darstellt“, schreibt er.
Der „große Benefit“ der Studie besteht in dem Nachweis der Machbarkeit einer RCT in dieser speziellen Patientengruppe und der Anwendung eines neuen Medikaments. Allerdings gäbe es auch einige „wichtige Einschränkungen“, was die Aussagekraft angehe, so Briken.
Nur 3 Teilnehmer gehörten in jeder Behandlungsgruppe zur Hochrisiko-Untergruppe. Zudem konnte das wichtigste langfristige Outcome, nämlich die Verringerung von Rückfällen bei Hochrisikopatienten, nicht untersucht werden, betont er. Er stimmt den Untersuchern zu, dass das Suizidrisiko bei einem raschen Testosteronentzug eine erhöhte Wachsamkeit erfordere.
Trotz ihrer Einschränkungen sei diese Studie aber „sicherlich der wichtigste Beitrag auf dem Gebiet der Pharmakotherapie pädophiler Störungen seit der `98er Studie von Rösler und Witztum zu GnRH-Agonisten“. Auch spräche sich ja eine relevante Zahl der Studienteilnehmer (58%) für eine Fortsetzung der Therapie aus“, schloss er.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Spritze gegen Kindesmissbrauch: Degarelix senkt Risikofaktoren bei Pädophilen - Medscape - 28. Mai 2020.
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