MEINUNG

Macht dick und blockiert Abnehmen – Insulin mehr Übeltäter als Heilmittel? Prof. Martin fordert Umdenken bei Diabetes-Behandlung

Prof. Dr. Stephan Martin

Interessenkonflikte

26. Oktober 2020

Zu wenig Insulin ist schlecht – aber zu viel auch – Prof. Dr. Stephan Martin stellt neue Studien vor und erklärt, warum man bei der Behandlung umdenken sollte.

Transkript des Videos von Prof. Dr. Stephan Martin, Düsseldorf

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir alle wissen, dass Deutschland ein Insulin-Land ist. Ich meine damit, dass   in kaum einem anderen Land der Welt so viel Insulinverordnungen pro Einwohner ausgestellt werden.

Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Zum einen bestand in den vergangenen Jahren ein großes Interesse der Forschung an dem Thema. Andererseits liegt es sicher auch an den finanziellen Incentives, die wir als Ärzte bekommen, wenn wir Insulin einsetzen.

Hyperinsulinämie und Insulinresistenz

Gängige Hypothese beim Typ-2-Diabetes bisher war, dass der Körper mit der Zeit eine Insulinresistenz ausbildet. Dann muss man die Dosis immer weiter erhöhen, um die Insulinresistenz zu überwinden.

Seit einiger Zeit gibt es aber eine neue Hypothese, die besagt, dass nicht die Insulinresistenz die Ursache für Hyperinsulinämie ist, sondern dass umgekehrt die Hyperinsulinämie zur Insulinresistenz führt.

Dafür gibt es gute Belege, zum Beispiel aus tierexperimentellen Untersuchungen. Injiziert man Tieren Insulin, entwickelt sich eine Insulinresistenz.

Wir kennen dieses Phänomen auch von Patienten mit einem Insulinom, das vermehrt Insulin produziert. Bei diesen kann man ebenfalls eine Insulinresistenz nachweisen. Der Körper schützt sich quasi vor zu viel Insulin.

Es gibt auch Experimente, die zu diesem Ergebnis kommen: Wenn man bei Mäusen, 3 von 4 Insulingenen ausschaltet, entwickeln sie keine Adipositas, keine Insulinresistenz und keinen Typ-2-Diabetes. Produzieren diese Mäuse also weniger Insulin, scheint das für den Metabolismus günstig zu sein.

Kürzlich hat Michael Ristow am 29. April 2020 in Nature Communications  eine wirklich spektakuläre Studie publiziert. Er hatte lange Zeit in Jena einen Lehrstuhl inne und ist vor einigen Jahren als Direktor des Instituts für Translationale Medizin an die ETH Zürich gewechselt.

Er hat bei Mäusen ein Gen für den Insulinrezeptor ausgeknockt. Die Tiere waren heterozygot, also ein Insulinrezeptor-Gen funktionierte noch, das andere nicht mehr. Die Tiere bildeten somit weniger Insulinrezeptoren auf den Leberzellen aus. Damit hat er das Gegenteil von dem untersucht, was den bisherigen Forschungsansätzen zugrunde lag bei denen die Aktivität der Insulinrezeptoren verbessert worden ist.

Die Ergebnisse seiner Experimente am Tiermodell

Bei den Mäusen mit weniger Insulinrezeptoren war die Rate jener, die an einer Fettleber und NASH (nicht alkoholischer Steatohepatitis) erkrankten, geringer. Dieser Befund war entgegen gesetzt zur aktuellen Lehrmeinung. Bisher wird die Insulinresistenz in der Leber als Ursache für die vermehrte Fettaufnahme angesehen.

Zusammenfassend können wir sagen: Ist die Insulinwirkung verringert oder werden die Insulinspiegel reduziert, scheint dies einen günstigen Einfluss auf die NASH-Entwicklung und auf das Körpergewicht zu haben.

Wie sieht es beim Menschen aus?

Seit Jahren zeigen die epidemiologischen Daten, dass Patienten mit einem hohen Insulinspiegel in den folgenden Jahren eine höhere Rate an kardiovaskulären Ereignissen und eine höhere Mortalität haben.

Aber: Beobachtungsstudien bei Patienten mit Typ-2-Diabetes, die mit 20, 30 oder 70 IE Insulin behandelt wurden, ergaben, dass die Sterblichkeit umso höher ist, je höher die verabreichte Insulindosis ist.

Das sind allerdings alles Assoziationsstudien, so dass unklar bleibt, ob Insulin wirklich der pathogene Faktor ist.

Neue Studie mit Mendelscher Randomisierung

Seit Ende letzten Jahres gibt es Studien, bei denen man ein neues Verfahren, die so genannte Mendelsche Randomisierung, eingesetzt hat. Man nimmt genetische Marker, z. B. die Marker für die Insulinproduktion, und setzt diese dann mit klinischen Ereignissen in eine Beziehung.

Eine chinesisch-amerikanische Forschergruppe hat nun bei über 390.000 Menschen aus der UK Biobank 12 verschiedene Genpolymorphismen untersucht, die alle genetisch die Insulinsekretion regulieren.

Personen mit vielen genetischen Polymorphismen für die Insulinproduktion wurden mit Personen mit weniger Polymorphismen verglichen. Hierdurch können verschiedene Einflussfaktoren ausgeschlossen werden, denn die Menschen haben diese Polymorphismen von Geburt an.

Bei genetisch bedingter höherer Insulinproduktion, also einer genetisch bedingten Hyperinsulinämie, bestand im Verlauf der Beobachtungszeit ein 3-fach höheres, hochsignifikantes Myokardinfarkt-Risiko. Dies galt vor allem für Männer. Hatten sie eine hohe genetische Insulinproduktion, war das Myokardinfarkt-Risiko 4-fach erhöht. Bei Frauen war kein erhöhtes Risiko nachweisbar.

Insulinresistenz als Folge der Hyperinsulinämie

Diese Daten weisen darauf hin, dass hohe Insulinspiegel ungünstig sind. Sie unterstützen die These, dass möglicherweise die Insulinresistenzen nicht die Ursache, sondern die Konsequenz aus zu viel Insulin ist. Der Körper schützt sich vor Insulin, indem er dessen Wirksamkeit herabsetzt.

In Leitlinien teilweise berücksichtigt

Die neuen Leitlinien haben diesen Befunden schon etwas Rechnung gezollt, weil wir aufgrund der fehlenden Evidenz bei Typ-2-Diabetes die Insulintherapie deutlich später beginnen, und dann als basale Insulintherapie.

Denn in den Studien der vergangenen Jahre konnte nicht gezeigt werden, dass die Insulingabe kardiovaskuläre Ereignisse reduzieren kann, z. B. in der UKPDS, der Kumamoto-Studie und auch der ORIGIN-Studie.

Zurückhaltung bei der Insulingabe sinnvoll

Aufgrund dieser neuen Daten wissen wir nun, dass zu viel Insulin zu Adipositas, zu Typ-2-Diabetes und zu vermehrten kardiovaskulären Ereignissen führt.

Deshalb müssen wir auch in unserer klinischen Praxis umdenken und eventuell nicht so schnell Insulin geben. Wenn die Menschen eine Hyperinsulinämie haben, sollten wir überlegen, wie wir den Insulinspiegel senken können. Dazu gibt es ganz einfache Möglichkeiten, wie mehr Bewegung und Gewichtsabnahme.

Ich hoffe, es waren interessante Informationen für Sie und ich verbleibe bis bald

Ihr Stephan Martin

Anm. d. Red: Prof. S. Martin erklärt seine These auch in seinem aktuellen Buch: „Wie Insulin uns alle dick oder schlank macht: Wissenschaft, neuster Stand: wie Sie Ihre Fettverbrennung selbst aktivieren” (erschienen im  Becker-Joest-Volk Verlag24,95 Euro) 

Kommentar

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