Auf dem ADA-Kongress irritierten Daten zu Ertugliflozin, weil die erwartete kardiovaskuläre Schutzwirkung unter dem SGLT-2-Hemmer nicht eintrat. Was nun? Prof. Dr. Stephan Martin analysiert die Datenlage.
Transkript des Videos von Prof. Dr. Stephan Martin, Düsseldorf
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich möchte Ihnen heute vom Kongress der American Diabetes Association, dem ADA-2020-Kongress, berichten.
Dieser fand vom 12. bis 18. Juni 2020 statt, aber nicht wie sonst in einer großen Stadt mit vielen Veranstaltungen, vielen tausend Teilnehmern in großen Vortragssälen, in denen man manchmal die Bühne nicht sehen kann und die deshalb 17 Großbild-Leinwände haben. Stattdessen fand auch der ADA-Kongress virtuell im Internet statt.
Man muss absolute Hochachtung vor den Organisatoren haben. Alle Veranstaltungen konnte man sich ohne große technische Probleme anschauen.
Auf dem Kongress werden am Ende immer große Studien vorgestellt. Dieses Jahr war es nur eine große Studie, die VERTIS-CV-Studie, auf die schon mit Spannung gewartet wurde. Sie gehörte zu den großen Studien mit SGLT-2-Inhibitoren ( Medscape berichtete ) in der Diabetes-Therapie.
Das sind die Substanzen, zu denen wir in den letzten Jahren neue Endpunkt-Studien bekommen haben. Sie bilden eine völlig neue Gruppe, die wir bei der Diabetes-Behandlung einsetzen, denn sie wirken über die blutzuckersenkende Wirkung hinaus protektiv.
Bevor ich auf die neuen Ergebnisse eingehe, zuerst einmal noch eine kurze Zusammenfassung einiger wichtiger Diabetes-Studien, die wir bisher zu diesem Thema schon kennen, um die aktuellen Daten besser einschätzen zu können:
EMPA-REG-Studie mit Empagliflozin
In der EMPA-REG-Studie wurde Empagliflozin im Vergleich zu Placebo bei Personen mit Diabetes mellitus Typ 2 eingesetzt, die ein hohes kardiovaskuläres Risiko hatten. Man konnte zeigen, dass unabhängig von der Wirkung auf den Blutzuckerspiegel der zusammengesetzte primäre Endpunkt aus kardiovaskulär bedingtem Tod, nichttödlichem Herzinfarkt oder Schlaganfall (MACE) seltener auftrat. Vor allem die Rate an kardiovaskulär bedingten Todesfällen wurde reduziert.
Die große Überraschung in dieser Studie war, dass bei Patienten mit Herzinsuffizienz die Hospitalisierungsrate signifikant gesunken ist.
Man hatte große Sorge, was mit der Niere passiert. Man befürchtete, dass man durch die Hemmung der Glukose-Ausscheidung in der Niere durch Blockade des SGLT-2-Rezeptors einen Nierenschaden verursachen könnte.
Aber genau das Gegenteil war der Fall. Aus der EMPA-REG-Studie haben wir gelernt, dass Nierenveränderungen stabilisiert werden. Dies hat in der Nephrologie einen großen Hype gegeben, denn seit der Einführung der RAS-Blockade gab es keine neue Nierenprotektion mehr.
CANVAS- und CREDENCE-Studie mit Canagliflozin
Bestätigt wurden diese Daten durch die CANVAS-Studie. Auch dort waren die MACE, die Major Cardiovascular Events Herzinfarkt, Schlaganfall und kardiovaskulär bedingter Tod, mit Canagliflozin signifikant reduziert. Es konnte ebenfalls gezeigt werden, dass die Hospitalisierungsrate wegen Herzinsuffizienz sinkt, auch die Nierenveränderungen waren reduziert.
Mit Canagliflozin wurde in der CREDENCE-Studie der renale Outcome untersucht. Der kombinierte Endpunkt aus Dialyse, Transplantation, anhaltender glomerulärer Filtrationsrate unter 15 ml/min, Verdopplung des Serumkreatininwerts oder Tod aus renalen oder kardiovaskulären Gründen konnte durch die SGLT-2-Hemmung, also durch Canagliflozin, reduziert werden.
DECLARE- und DAPA-HF-Studie mit Dapagliflozin
Die letzte große Studie war die DECLARE-Studie. Hier wurden „gesündere“ Personen mit Dapagliflozin behandelt. Hier konnte man keinen Hinweis auf eine kardiovaskuläre Protektion sehen. Aber auch in dieser Studie war die Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz deutlich seltener.
Das konnte man dann auch in der DAPA-HF-Studie mit Dapagliflozin bestätigen. Bei den Nierenveränderungen ergab sich ein ähnliches Bild wie in EMPA-REG und CANVAS. Auch hier wurden die Nierenveränderungen reduziert. Vor wenigen Wochen wurde bekannt gegeben, dass die spezielle Nierenstudie DAPA-CKD, die ähnlich wie die CREDENCE-Studie ist, vorzeitig beendet werden musste, weil vermutlich die Endpunkte so positiv beeinflusst worden sind, dass man die Patienten nicht mehr einer Studie aussetzen wollte.
Neu: VERTIS-CV-Studie mit Ertugliflozin
Nun kommen wir zur neuen Studie, der VERTIS-CV-Studie. Dies steht für Evaluation of ertugliflozin efficacy and safety cardiovascular outcomes. Sie hat viele Ähnlichkeiten zur EMPA-REG-Studie.
In der VERTIS-CV-Studie wurden 8.246 Personen mit Diabetes mellitus Typ 2 randomisiert, die schon einen Herzinfarkt oder Schlaganfall durchgemacht hatten oder an peripherer arterieller Verschlusskrankheit (PAVK) litten und älter als 40 Jahre waren. Der HbA1c-Wert musste über 7 und unter 10,5% liegen.
Randomisiert wurden sie mit Placebo, Ertugliflozin 5 mg oder Ertugliflozin 15 mg täglich behandelt. Auch in der EMPA-REG-Studie waren 2 Dosierungen des SGLT-2-Hemmers eingesetzt worden.
Die Patienten waren im Mittel 64 Jahre alt, 70% waren Männer. Die Patienten waren im Mittel seit 13 Jahren an ihrem Diabetes erkrankt, der mittlere HbA1c-Wert lag zu Studienbeginn bei 8,2%.
Ergebnisse der VERTIS-CV-Studie
Sieht man sich die Ergebnisse an, kommt eine gewisse Enttäuschung auf. Obwohl das Patientenkollektiv ähnlich war wie in der EMPA-REG-Studie, traten MACE, also Herzinfarkt, Schlaganfall und kardiovaskuläre Todesfälle, bei 11,9% unter Ertugliflozin versus 11,9% unter Placebo auf. Es zeigte sich also kein Unterschied.
Es gab auch keine Unterschiede in der Häufigkeit von Myokardinfarkt oder Schlaganfall. Kardiovaskuläre Todesfälle traten bei 6,2% der Patienten unter Ertugliflozin und 6,7% unter Placebo auf und waren nicht statistisch signifikant unterschiedlich.
Die Hospitalisierungen wegen Herzinsuffizienz konnten jedoch um 30% statistisch signifikant gesenkt werden.
Beim kombinierten renalen Endpunkt, in dem die anderen Studien so überraschend positiv waren, kam es zwar zu einer 19%igen Reduktion, die mit p = 0,08 aber nicht signifikant war.
Interpretation: Substanz- oder Klasseneffekt?
Nach dieser Studie ist also eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Plötzlich haben wir keinen Klasseneffekt mehr, sondern es scheint auch bei den SGLT-2-Inhibitoren ähnlich wie bei den GLP-1-Agonisten substanzspezifische Effekte zu geben.
Ertugliflozin ist gar nicht so unterschiedlich zu Empagliflozin. Vielleicht liegt es auch an der Zusammensetzung des Patientenkollektivs? Wir wissen, dass bei der Empagliflozin-Studie 20% Asiaten randomisiert wurden, weil es eine weltweite Studie war.
In der VERTIS-CV-Studie waren nur 5% Asiaten. Gleichzeitig war der Effekt von Empagliflozin bei den asiatischen Teilnehmern deutlich stärker als bei den europäischen Patienten. Ist das einer der Faktoren? Da wird in den nächsten Wochen und Monaten viel diskutiert werden.
Fazit
Wichtig ist, wir haben neue Daten. Wir müssen jetzt abwarten, was die Subanalysen ergeben.
Ich hoffe, dieser Bericht vom ADA-Kongress war für Sie interessant.
Ich wünsche Ihnen alles Gute
Ihr Stephan Martin
Medscape © 2020 WebMD, LLC
Die dargestellte Meinung entspricht der des Autors und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten von WebMD oder Medscape wider.
Diesen Artikel so zitieren: Nach dem SGLT-2-Hype die „Enttäuschung“? Warum die VERTIS-CV-Studie die Schutzwirkung fürs Diabetiker-Herz in Frage stellt - Medscape - 29. Jun 2020.
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