Die wichtigsten Studien der vergangenen 4 Monate zu Schlaganfall, Neuroprotektion, Thrombektomie und COVID-19 mit Einschätzungen von Prof. Dr. Hans-Christoph Diener.
Transkript des Videos von Prof. Dr. Hans-Christoph Diener
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich bin Christoph Diener von der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen.
Mein heutiges Thema ist Schlaganfall, das in den letzten Wochen deutlich unter die Räder gekommen ist. Offenbar hat die COVID-Pandemie eine viel höhere Bedeutung gewonnen als die 250.000 Schlaganfälle pro Jahr in Deutschland.
SARS-CoV2 und Schlaganfall
Ich will aber trotzdem mit einer Publikation in Stroke über Schlaganfälle in New York beginnen [1]. Die Kollegen haben dort 3.556 hospitalisierte Patienten mit einer COVID-19 Diagnose untersucht, die im März und April 2020 aufgenommen worden sind. Bei 32 Patienten lag ein Schlaganfall vor, das entspricht 0,9%.
Verglichen mit Patienten, die nicht an COVID-19 erkrankt sind, oder auch mit historischen Kontrollen, waren die Schlaganfälle deutlich schwerer. Die Sterblichkeit betrug 64% versus 9%. Interessant war, dass die D-Dimere besonders hoch waren. Dies könnte dafür sprechen, dass es tatsächlich bei COVID-19 zu Thrombosen und thromboembolischen Schlaganfällen kommt.
Thrombolyse nach dualer Plättchenhemmung?
Eine 2. Frage, die in Neurology beantwortet wurde, war, ob man bei Patienten, die eine duale Plättchenhemmung haben, eine systemische Thrombolyse beim ischämischen Schlaganfall durchführen kann [2]. Diese Metaanalyse aus 9 Studien erfasste über 65.000 Patienten, von denen 5% eine duale Plättchenhemmung erhielten.
Das Risiko symptomatischer intrazerebraler Blutungen war mit einer Odds Ratio von 2,26 erhöht. Das hatte aber erfreulicherweise keine Auswirkungen auf den funktionellen Outcome nach 3 Monaten und auf die Sterblichkeit. Patienten mit dualer Plättchenhemmung können offenbar lysiert werden.
Nerinetid zur Neuroprotektion?
Ganz wichtig ist die Frage der neuroprotektiven Therapie. Wir haben in der Zwischenzeit fast 120 negative Studien. Ein wesentlicher Kritikpunkt war, dass Neuroprotektiva nicht wirken können, wenn das Gefäß nicht rekanalisiert ist.
Jetzt wurde in Lancet eine placebokontrollierte, doppelblinde Studie publiziert, die eine neuroprotektive Therapie mit Nerinetid bei 1.105 Patienten, die thrombektomiert wurden, untersucht hat [3]. Die Patienten hatten eine hohe Rekanalisierungsrate, aber leider war kein klinischer Effekt zu sehen.
Verbessert S44819 die Regeneration?
Die weitere Frage ist, ob man die Regeneration nach Schlaganfall verbessern kann. Hierzu wurde ein interessanter Ansatz mit der Substanz S44819 in Lancet Neurology vorgestellt [4]. Das ist ein GABAA-Alpha5-Antagonist, der die Regeneration nach Schlaganfall fördert.
In der randomisierten, doppelblinden Phase-2-Studie RESTORE-BRAIN wurden 585 Patienten über 3 Monate mit aktiver Substanz oder Placebo behandelt. Leider zeigte sich keine Wirksamkeit.
Virtuelle Daten vom ESO-WSO-2020-Kongress
Lassen Sie mich bei der Regeneration nach Schlaganfall bleiben. Beim Kongress der European Stroke Organization (ESO) und der World Stroke Organization (WSO) wurden 4 Studien vorgestellt, davon 2, die Fluoxetin nach Schlaganfall untersuchen.
Die 1. war die EFFECTS-Studie mit 1.500 Patienten [5], und die 2. war die AFFINITY-Studie mit 1.600 Patienten [6]. Die Patienten wurden über 3 Monate entweder mit Fluoxetin oder mit Placebo behandelt.
Hintergrund ist, dass Fluoxetin zumindest in Tierexperimenten die Regeneration nach Schlaganfall verbessert. Das war aber leider in beiden Studien beim Menschen nicht der Fall.
Es gibt dazu auch eine Metaanalyse, die eindeutig zeigt, dass Serotonin-Wiederaufnahmehemmer in dieser Indikation leider nicht wirksam sind.
Thrombektomie – mit oder ohne?
Eine weitere Studie aus China verglich direkte Thrombektomie mit Thrombektomie in Kombination mit Lyse [7]. Bezüglich des klinischen Outcomes ergab sich kein Unterschied. Allerdings war die Rekanalisierungsrate bei vorhergehender Lyse höher.
Das geht aber an der Versorgungsrealität in Deutschland völlig vorbei. Natürlich werden Patienten, die direkt in ein Schlaganfallzentrum kommen, in dem eine Thrombektomie rund um die Uhr zur Verfügung steht, zunächst thrombektomiert. Die Kombination von Lyse mit Thrombektomie wird bei den Patienten, die von Stroke Units in große Zentren geschickt werden, eingesetzt.
Die letzte vorgestellte Studie, die BASICS-Studie aus Holland, umfasste 300 Patienten mit Basilaris-Verschluss, die thrombektomiert wurden [8]. Hier ergab sich ein nicht signifikanter Trend mit einer 20%igen Verbesserung für den funktionellen Outcome für die Patienten mit Thrombektomie. Hierzu muss man allerdings sagen, dass die Studie eindeutig nicht ausreichend gepowert war, um den Nutzen der Thrombektomie beim Basilaris-Verschluss zu zeigen.
Ich glaube, jeder von uns würde vorschlagen, einen Patienten, der nicht wirklich tief komatös ist und bereits in der Bildgebung schwere Läsionen im Hirnstamm und in der Brücke hat, beim Basilaris-Verschluss zu thrombektomieren.
Meine Damen und Herren, das war das Neue, was sich in den vergangenen 3 bis 4 Monaten in der Behandlung des akuten Schlaganfalls und der Regeneration nach Schlaganfall ergeben hat.
Ich bin Christoph Diener von der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen. Ich bedanke mich fürs Zuhören und fürs Zuschauen.
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Diesen Artikel so zitieren: Neuro-Talk: Schlaganfall-Spezial – Frust und Chancen bei der Nachbehandlung plus drastisch erhöhte Mortalität bei COVID-19 - Medscape - 22. Jun 2020.
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