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Antikoagulation bei COVID-19 – ja oder nein? Warum schlechte Daten viel Schaden in der Praxis anrichten können

Dr. John Mandrola  

Interessenkonflikte

26. Mai 2020

Dr. John Mandrola ist Kardiologe mit dem Schwerpunkt Elektrophysiologie. Er praktiziert in Louisville, Kentucky, und ist Autor und Kardiologie-Blogger bei Medscape. Er vertritt einen konservativen Ansatz in der medizinischen Praxis, forscht selbst und schreibt häufig über Fragen zur medizinischen Evidenz.

Ich kritisiere einen Fachartikel zur Antikoagulation bei COVID-19, der kürzlich im Journal of the American College of Cardiology (JACC) veröffentlicht worden ist. Meine Kritik bezieht sich nicht nur auf statistische Details. Es gibt hier Aspekte mit noch deutlich größerer Tragweite.

Wissenschaftler des Mount Sinai Hospital in New York City berichteten über eine retrospektive Beobachtungsstudie mit fast 2.800 COVID-19-Patienten, die im März und April stationär behandelt worden waren. Sie untersuchten Assoziationen zwischen einer antikoagulativen Therapie und der Mortalität: eine wichtigen Frage, da zahlreiche Studien auf eine hohe Rate thrombotischer Ereignisse bei Patienten mit COVID-19 hindeuten.

Die Ergebnisse im Überblick

  • Die Mortalität von Patienten unter einer Antikoagulation lag bei 22,5% (medianes Überleben 21 Tage), verglichen mit 22,8% (medianes Überleben 14 Tage) bei Patienten ohne diese Behandlung. 

  • Bei Patienten, die eine mechanische Beatmung benötigten (n=395), lag die Mortalität im Krankenhaus bei 29% (medianes Überleben  21 Tage) unter Antikoagulation versus 63% (medianes Überleben 9 Tage) ohne diese Behandlung.

  • Blutungen traten bei 3% der Patienten unter Antikoagulation versus 2% ohne diese Behandlung auf.

So bewerten die Studienautoren ihre Ergebnisse

Die Autoren räumen ein, dass ihre Beobachtungen durch nicht erfasste Confounder, durch unklare Entscheidungskriterien für die antikoagulative Therapie und durch eine fehlende Klassifikation der Schwere von COVID-19 in der Subgruppe mit mechanischer Beatmung möglicherweise verzerrt worden seien.    

Trotzdem kommen sie zu dem Schluss, dass ihre „Ergebnisse darauf hindeuten, dass eine systemische Antikoagulation bei Patienten, die mit COVID-19 hospitalisiert wurden, mit verbesserten Ergebnissen verbunden sein könnte“. Und weiter: „Interessanterweise gab es eine Assoziation zwischen der Antikoagulation und dem Überleben nach Korrektur für  die mechanische Beatmung.“

So kommentieren die Autoren ihre Ergebnisse gegenüber Medienvertretern

Der Zweitautor der Veröffentlichung, Dr. Valentin Fuster, er ist auch Chefredakteur von JACC, sprach mit Medienvertretern.

Zu theheart.org | Medscape Cardiology sagte Fuster: „Ich kann Ihnen sagen, dass meine Familie, falls sie an dieser Krankheit erkranken würde, auf jeden Fall eine antithrombotische Therapie bekäme, und das Gleiche gilt eigentlich auch für alle Patienten im Mout Sinai Hospital.“

Gegenüber der Washington Post erklärte Fuster zur Antikoagulation bei COVID-19: „Ich  äußere mich vorsichtig, glaube aber, dass dies helfen wird.“ Er sagte auch, dass die internen Behandlungsprotokolle der Mount Sinai Klinik vor einigen Tagen geändert worden seien, um Patienten mit COVID-19 mit höheren Dosierungen von antikoagulativen Medikamenten zu behandeln.

Kritik an der Studie

Beginnen wir mit dem (eher) positiven Erkenntnissen: Der Intensivmediziner Dr. Josh Farkas von der University of Vermont twitterte, dass er die niedrige Rate schwerer Blutungen in der Studie für überzeugend halte. Ich finde das allerdings übertrieben optimistisch. Denn die Publikation liefert  nur wenige Details zu den verwendeten Medikamenten, außer der Feststellung, dass orale, subkutane und intravenöse Formulierungen verwendet worden seien. Der Vergleich von Antikoagulation versus keine Antikoagulation wird aber der Komplexität verschiedener Medikamentenklassen zur Antikoagulation, den verschiedenen Wegen zur Verabreichung und den unterschiedlichen Dosierungen nicht gerecht.

Doch der wichtigste und wahrscheinlich schwerwiegendste Fehler in dieser Studie ist der sogenannte „Immortal Time“-Bias, der nicht berücksichtigt worden ist: Patienten, die ein Antikoagulans erhielten, mussten am Leben sein, um es zu bekommen. Im Gegensatz dazu sind Patienten ohne Antikoagulation während ihres Krankenhausaufenthaltes vielleicht schon früher gestorben, sie fehlen als Vergleichsgruppe und verzerren die Ergebnisse.

„Immortal Time“-Bias

Ein oft zitiertes Beispiel des „Immortal Time Bias“ ist eine Studie, nach der „Oscar“-Preisträger vermeintlich länger leben als Schauspieler ohne diese Auszeichnung. Doch diese Schlussfolgerung beruht auf einem „Bias“: Wer die begehrte Trophäe bekommt, muss nämlich diesen Zeitpunkt erleben; und ist bis dahin (statistisch gesehen)  quasi „unsterblich“ („immortal“) – im Gegensatz zu anderen Schauspielern, die auch jung sterben können.

Übertragen auf Pharmakotherapien bedeutet dies: Manche Kohortenstudien scheinen zwar zu belegen, dass Medikamente die Mortalität verringern. Doch kann sich dieser Überlebensvorteil nur auf die  Wartezeit zwischen der stationären Behandlung und dem Beginn der Pharmakotherapie beziehen. Wer das Arzneimittel bekommt, ist bis zu diesem Zeitpunkt quasi „unsterblich“; er muss lange genug überleben um überhaupt Teil der Studie zu werden. In der Studie selbst besteht dann möglicherweise gar kein Unterschied zwischen den verschiedenen Interventionen mehr.

Dazu werfen wir einen Blick auf die Kaplan-Meier-Kurve (Abbildung 2 aus der Veröffentlichung). Innerhalb weniger Tage nach der Aufnahme starben etwa 20% der Patienten ohne Antikoagulation. Aber fast alle Teilnehmer der Gruppe mit Antikoagulation lebten nach 5 Tagen noch. Eine Gruppe von Ärzten des Massachusetts General Hospital diskutiert dieses Phänomen in ihrem FLARE-Newsletter.

Zur Erklärung: Ein Patient mit COVID-19 wird aufgenommen und am Tag 5 mit antikoagulativen Arzneimitteln behandelt. Er gehört folglich zur Antikoagulations- Gruppe, und der gesamte Zeitraum wird seinem Überleben angerechnet. Das ist seine „immortal time“. Umgekehrt finden wir im Arm ohne Pharmakotherapie Patienten, die nicht lange genug gelebt haben, um überhaupt antikoaguliert zu werden.

Mit anderen Worten: Sie hätten einem Patienten, der 5 Tage überlebt, alles geben können, und es würde so scheinen, als ob dies sein längeres Überleben verursacht hätte. Im Jahr 2018 verfasste der Kardiologe Dr. Robert Yeh einen mittlerweile berühmten Twitter-Thread über solche Verzerrungen anhand einer Beobachtungsstudie zur Revaskularisation nach Myokardinfarkten.

Neben dem Mangel an Randomisierung und Selektionsverzerrung sind nicht plausible Befunde die nächste Schwäche der aktuellen Studie: Die mediane Dauer der antikoagulativen Therapie lag bei 3 Tagen. Es ist kaum zu glauben, dass diese geringe Exposition gegenüber den Medikamenten bei Patienten mit mechanischer Beatmung zu einer dramatischen Überlebenssteigerung führte. Wenig plausible Effektgrößen verstärken die Vermutung der Verzerrung weiter.

Welche Rolle spielte der JACC-Chefredakteur?

Medizinische Fachzeitschriften sollen immer von neutralen Peers überprüft werden. Es widerspricht der Logik, zu glauben, dass Fusters Rolle als Chefredakteur von JACC keinen Einfluss auf die Begutachtung durch Fachkollegen hatte. Ich bin kein akademischer Forscher und ich bin nervös, diese Kolumne zu schreiben.

In einer perfekten Welt würden Begutachter Fakten so benennen, wie sie diese sehen, aber wir leben nicht in einer perfekten Welt. Wir leben in einer Welt, in der Veröffentlichungen die Währung akademischer Forscher sind. Warum haben mehrere Experten die Mängel dieses Papers innerhalb weniger Stunden nach Veröffentlichung auf Twitter aufgedeckt, aber nichts davon ist vorab genannt worden?

Die Veröffentlichung fehlerhafter Studien mit weitreichenden Schlussfolgerungen hat auch ethische Auswirkungen. Erstens neigen Beobachtungsstudien zur Umkehrung medizinischer Ergebnisse. Und selbst wenn sie deutliche Assoziation zeigen, werden Effektgrößen häufig aufgeblasen. Das kann zu Vertrauensverlusten bei der Bevölkerung führen.

Pandemien sind keine Rechtfertigung für schlechte Daten

Wichtiger ist jedoch, dass einflussreiche Forscher, wenn sie weitreichende Schlussfolgerungen veröffentlichen, unsere Fähigkeit beeinträchtigen, zur Wahrheit zu gelangen. Wenn Krankenhäuser wie das Mount Sinai die Antikoagulation in ihre Behandlungsprotokolle bei  COVID-19 aufnehmen, kann das wissenschaftliche Gleichgewicht empfindlich gestört werden, dieses ist aber erforderlich, um Patienten in geeignete Studien einzuschreiben.

Und wenn man dieses Gleichgewichts stört, was bei einer Pandemie leicht geschieht (siehe Hydroxychloroquin), kann dies die wissenschaftlichen Erkenntnisse tatsächlich behindern. [Das Prinzip des Gleichgewichts oder principle of equipoise beschreibt die Unsicherheit, ob Behandlungen tatsächlich von Vorteil sind. Deshalb werden randomisierte, placebokontrollierte Studien durchgeführt.] Und: Zum Thema Hydroxychloroquin gibt es noch keine endgültige Antwort.

Kluge Leute haben entgegnet, dass die Verzweiflung, Patienten mit COVID-19 zu helfen, ein Grund sei, Beobachtungsdaten als klinische Entscheidungsgrundlage zu verwenden. „Es ist alles, was wir haben“, lautet ihr Argument.

Diese Publikation und ihre Ergebnisse zeigen aber, dass fehlerhafte Daten schlimmer sein können als keine Daten. Unabhängig davon, ob es sich um ein Behandlungsprotokoll oder um einen Therapiestandard handelt, führt dies dazu, dass Entscheidungen von Ärzten schlechter werden, sobald  keine hochwertigen Beweise vorliegen.

Randomisierte kontrollierte Studien sind alles andere als perfekt. Bei potenziell gefährlichen Erkrankungen wie COVID-19 sind trotzdem Verblindung und Randomisierung die besten Antworten.

Beobachtungsstudien sind deshalb nicht nutzlos; sie können uns helfen, Entscheidungen zu optimieren und zu verfeinern und das Design randomisierter, kontrollierter Studien zu vrbessern. Beobachtungsstudien wie diese sollten jedoch nicht dazu verwendet werden, eine neue Behandlung zu etablieren. Selbst in einer Pandemie ist Geduld eine Tugend in der Wissenschaft.

 

Kommentar

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