Die Angst vor SARS-CoV-2 beziehungsweise COVID-19 darf nicht dazu führen, dass es Verzögerungen bei der Diagnostik beziehungsweise Therapie maligner Erkrankungen gibt. Der Schaden für die Patienten wäre immens, warnt die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) in einer Mitteilung [1].
Die Pandemie war das beherrschende Gesundheitsthema der letzten Wochen, die Angst vor einer Ansteckung hat auch viele Krebspatienten zutiefst beunruhigt. „Dabei stellt für die allermeisten PatientInnen Krebs eine weitaus größere Gefahr für ihr Leben dar als COVID-19”, schreibt die DGHO.
Eine Folge der Pandemie: Weniger Tumoren im Frühstadium diagnostiziert
Auch Experten einer Corona Task Force der Deutschen Krebshilfe, der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) und des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) appellieren an die Bevölkerung, während der COVID-19-Pandemie Ärzte und Krankenhäuser aufzusuchen und Untersuchungstermine wahrzunehmen. Nach wie vor würden Therapien verkürzt oder verschoben sowie die Nachsorge ausgesetzt.
Laut DGHO liegen zwar noch keine vollständigen Auswertungen zur Zahl von Krebspatienten in Kliniken und Praxen vor. Es sei aber als Tendenz zu beobachten, dass die Zahl der im Frühstadium diagnostizierten Tumore wie Darm- oder Brustkrebs zurückgehe.
Diese Tumoren würden häufig in der Früherkennung diagnostiziert. Doch Screening-Untersuchungen hätten nicht stattgefunden, entsprechend sei mit einer Welle von Neudiagnosen im Sommer und Herbst zu rechnen. Auch die Zahl der in Tumorkonferenzen vorgestellten Patienten sei im April deutlich gesunken, in einzelnen Institutionen um 30 bis 50%.
Onkologische Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren
Kaum geändert haben sich die Zahlen bei Patienten mit akut lebensbedrohlichen Krebserkrankungen, allerdings sind einige erst in sehr fortgeschrittenen Stadien diagnostiziert worden. „Wir sehen Leukämie- oder Myelom-Patientinnen und -patienten mit Komplikationen, die wir in den letzten Jahren eher nicht gesehen haben. Wir sehen auch solche mit fortgeschrittenen soliden Tumoren, die in den letzten beiden Monaten nicht zur Frühdiagnostik oder zu Verlaufskontrollen vorstellig wurden”, sagt Prof. Dr. Hermann Einsele, DGHO-Vorsitzender und Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums Würzburg.
„Krebs nimmt keine Rücksicht auf die Corona-Krise! Patienten sollten daher keinesfalls zögern, verdächtige Symptome abklären zu lassen“, appelliert auch Prof. Dr. Michael Baumann, Vorstandsvorsitzender des DKFZ und ergänzt: „Wenn wir die Bugwelle an ausstehenden dringlichen Untersuchungen und aufgeschobenen Behandlungen weiterhin vor uns herschieben, dann müssen wir auch in Deutschland mit einer steigenden Zahl von krebsbedingten Todesfällen rechnen.“
Praxen und Kliniken haben längst Schutzmaßnahmen getroffen
Dass Patienten mit hämatologisch-onkologischen Erkrankungen alle diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen wahrnehmen sollten, betont Prof. Dr. Lorenz Trümper, Direktor der Klinik für Hämatologie und Medizinische Onkologie der Universitätsmedizin Göttingen. Er versichert, dass „in unseren Kliniken und Institutsambulanzen alle notwendigen Vorsichts- und Schutzmaßnahmen getroffen werden“ und dass man alles unternehme, um „entsprechende Maßnahmen bezüglich des neuen Infektionsgeschehens in die gängigen Abläufe der Krebstherapie zu integrieren”.
Systemische Tumortherapien würden sowohl ambulant als auch stationär fortgeführt. Praxen und Ambulanzen hätten große Anstrengungen unternommen, die Therapien mit räumlicher Distanz und zeitlicher Entzerrung durchzuführen. Die DGHO weist daraufhin, dass die bisher verfügbaren Daten bei onkologischen Patienten kein erhöhtes Ansteckungsrisiko zeigen.
Auch die niedergelassenen Kollegen seien auf das neue Infektionsgeschehen eingestellt, betont Prof. Dr. Wolfgang Knauf, Vorsitzender des Berufsverbands der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland (BNHO). „Wir halten weiterhin alle Diagnostik- und Therapiekonzepte vor. An manchen Stellen haben wir aber unsere Strukturen und Abläufe angepasst. So kann – wenn medizinisch vertretbar – in bestimmten Fällen eine telefonische oder telemedizinische Besprechung anstatt der Einbestellung einer Patientin oder eines Patienten sinnvoll sein. Klar ist: Trotz dieser Anpassung gewährleisten wir selbstverständlich alle notwendigen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und können unsere Patientinnen und Patienten zu jeder Zeit entsprechend betreuen und behandeln.“
Onkopedia-Leitlinien aktualisiert
Die DGHO hat die Onkopedia-Leitlinien für mehr als 60 Krebserkrankungen ergänzt, eigene Kapitel zu COVID-19 und Krebs erstellt und ihre inzwischen 11. Aktualisierung ihrer COVID-19-Empfehlungen bei Patienten mit Blut- und Krebserkrankungen publiziert.
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Diesen Artikel so zitieren: „Krebs ist eine weitaus größere Gefahr als COVID-19“: Onkologen warnen vor Verzögerungen bei Diagnostik und Therapie - Medscape - 18. Mai 2020.
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