Die Psyche und der Körper – dänische Registerstudie untersucht, welche somatischen Folgen psychische Erkrankungen haben

Inge Brinkmann

Interessenkonflikte

18. Mai 2020

Laut einer großen Registerstudie mit Daten von knapp 6 Millionen Dänen weisen Patienten mit psychischen Erkrankungen ein erhöhtes Risiko für eine Reihe nachfolgender körperlicher Erkrankungen auf. Die Studie ist im New England Journal of Medicine veröffentlicht [1].

„Das absolute Risiko einer körperlichen Erkrankung innerhalb von 15 Jahren nach der Diagnose einer psychischen Störung schwankte zwischen 0,6% für urogenitale Erkrankung bei Personen mit einer Entwicklungsstörung und 54,1% für Kreislauferkrankungen bei Personen mit einer organischen psychischen Störung“, schreiben die Autoren um Dr. Natalie C. Momen von der dänischen Aarhus Universität.

Prof. Dr. Christian Otte

„Die Untersuchung von Momen und ihren Kollegen ist die bislang umfangreichste zu dem Thema“, sagt Prof. Dr. Christian Otte, Stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, im Gespräch mit Medscape. Und zwar sowohl im Hinblick auf die Zahl der hier untersuchten körperlichen und psychischen Erkrankungen, als auch hinsichtlich der zugrundeliegenden Datenmenge.

 
Die Untersuchung von Momen und ihren Kollegen ist die bislang umfangreichste zu dem Thema. Prof. Dr. Christian Otte
 

Die Untersuchung bestätige dabei einen bereits bekannten, allerdings noch häufig unterschätzten Zusammenhang, so Otte. „Viele Patienten mit psychischen Erkrankungen benötigen Behandlungsangebote, die auch das erhöhte Risiko, körperlich zu erkranken, berücksichtigen.“ Hier fielen noch zu viele Patienten durch das Raster.

Daten von knapp 6 Millionen Dänen

Die Autoren griffen für ihre Untersuchung auf Informationen aus dem dänischen Nationalregister mit Daten von 5,9 Millionen Einwohnern zurück. Bei 698.874 von ihnen wurde zwischen 1969 (in dem Jahr begannen in Dänemark die offiziellen Aufzeichnungen) und 2016 eine psychische Erkrankung aus 10 verschiedenen Gruppen diagnostiziert: Dazu gehörten zum Beispiel Schizophrenie, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen.

Während der Follow-up-Zeit der Studie (2000 bis 2016) erfassten die Autoren zudem insgesamt 31 verschiedene neu auftretende körperliche Erkrankungen aus 9 Gruppen: zum Beispiel Kreislauferkrankungen, neurologische Erkrankungen und Krebserkrankungen. Für ihre Analyse bildeten sie dann einzelne Paare bzw. Gruppierungen (z.B. Schizophrenie und endokrine Erkrankungen) und berechneten die jeweilige Höhe des Risikos, nach der psychischen auch die körperliche Erkrankung zu entwickeln (im Vergleich zu den psychisch Gesunden).

 
Viele Patienten mit psychischen Erkrankungen benötigen Behandlungsangebote, die auch das erhöhte Risiko, körperlich zu erkranken, berücksichtigen. Prof. Dr. Christian Otte
 

Erst leidet die Psyche, dann der Körper

Momen und ihre Kollegen konnten so zeigen, dass die Diagnose einer psychischen Störung tatsächlich mit einem erhöhten Risiko einhergeht, im Laufe der Zeit auch ein körperliches Leiden zu entwickeln. Im Schnitt betrug die Hazard Ratio (HR) für den Zusammenhang zwischen einer psychischen und einer nachfolgenden körperlichen Erkrankung 1,37.

Organische psychische Störungen und die Kategorie „Krebserkrankungen“ wiesen dabei mit 0,82 die niedrigste HR auf. Dies verwundere etwas, so schreiben die Wissenschaftler. Denn Personen, bei denen eine psychische Erkrankung diagnostiziert wurde, rauchen generell häufiger, haben eine schlechtere Kondition und sind fettleibiger als psychisch Gesunde – allesamt Risikofaktoren für Krebs. Der aktuelle Befund, so mutmaßen die Autoren in der Publikation, spiegele denn auch wahrscheinlich nur die verkürzte Überlebenszeit der Patienten als Folge anderer Erkrankungen (z.B. Kreislauferkrankungen) wider.

Das höchste relative Risiko wurde bei Patienten mit einer Essstörung nachgewiesen; mit einer HR von 3,62 erkrankten sie während der Follow-up-Zeit an einer urogenitalen Störung.

 
Psychische Störungen wirken sich auf die Lebensweise, die täglichen Gewohnheiten und den sozioökonomischen Status aus, was wiederum Einfluss auf das Risiko von Folgeerkrankungen haben kann. Dr. Natalie C. Momen
 

Die Kausalität ist nicht bewiesen – Zufall ist es aber wohl auch nicht

Weitere Erklärungsversuche zu den dokumentierten Risikoerhöhungen liefern die Autoren nicht. Vermutlich hätte man sich zu sehr im Bereich der Spekulation bewegen müssen. Denn die Autoren stellen selbst heraus, dass sie keinen „kausalen Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und nachfolgenden Erkrankungen“ bewiesen hätten.

Das Vorliegen einer psychischen Störung und einer nachfolgenden physischen Erkrankung könne auch durch frühere Expositionen (z.B. Drogenkonsum, Missbrauch in der Kindheit, sozioökonomische Faktoren und umweltbedingte Risikofaktoren) sowie genetische Faktoren erklärt werden. „Psychische Störungen wirken sich auf die Lebensweise, die täglichen Gewohnheiten und den sozioökonomischen Status aus, was wiederum Einfluss auf das Risiko von Folgeerkrankungen haben kann“, schreiben sie.

Auch Otte erklärt, dass man mit Hilfe von Registerstudien generell keinen kausalen Zusammenhang aufzeigen könne. Aber er weist darauf hin, dass bei immerhin 76 der 90 hier untersuchten Krankheits-Gruppierungen eine Risikoerhöhung dokumentiert wurde. „Dass 85 Prozent der psychisch Erkrankten ein erhöhtes Risiko für verschiedene körperliche Erkrankungen aufwiesen, lässt auf den großen Einfluss, den psychische Erkrankungen auf die körperliche Gesundheit haben, schließen.“

 
Dass 85 Prozent der psychisch Erkrankten ein erhöhtes Risiko für verschiedene körperliche Erkrankungen aufwiesen, lässt auf den großen Einfluss, den psychische Erkrankungen auf die körperliche Gesundheit haben, schließen. Prof. Dr. Christian Otte
 

Keine Zweifel an der grundsätzlichen Qualität der Studie

Momen und ihre Mitarbeiter beschreiben in ihrer Publikation noch weitere mögliche Confounder. So beschränken sie sich in ihrer Untersuchung auf eine relativ kleine Gruppe von Erkrankungen – dagegen schlossen sie Unfälle, Verletzungen und andere akute Erkrankungen aus. Sie berücksichtigten auch nicht „das gesamte Spektrum koexistierender Erkrankungen, da Patienten mehrere psychische Störungen und mehrere körperliche Erkrankungen haben können“.

Otte ergänzt, dass die Daten zu den körperlichen Erkrankungen einzig aus den dänischen Krankenhausregistern stammten. Informationen von Hausarztbesuchen und damit Angaben zu leichteren Erkrankungsfällen fehlten somit. Bei der statistischen Analyse mag das ein Vorteil gewesen sein (wegen der Konzentration auf eine homogenere Gruppe der schwerer Erkrankten), allerdings spiegele die Studie so nicht die Realität wider.

An der grundsätzlichen Qualität der umfangreichen Studie hat der Berliner Experte indes keinen Zweifel. Und die prominente Veröffentlichung des Themas freut ihn. „Jeder Arzt weiß, dass ein hoher Blutdruck mit einem erhöhten Risiko für bestimmte Folgeerkrankungen verbunden ist. Ähnliches gilt auch für viele psychische Erkrankungen.“ Die Publikation führe dies eindrucksvoll vor Augen.

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....