Während der aktuellen Corona-Epidemie in den USA ist eine andere Epidemie dort fast vergessen: die „Opioid-Epidemie“ – die massenhafte Abhängigkeit von opioidhaltigen Schmerzmitteln durch deren Missbrauch.
Bereits seit den 1990er-Jahren verschrieben US-Ärzte leichtfertig und massenhaft solche Analgetika auch gegen chronische Nicht-Tumorschmerzen – auch beeinflusst von Pharmafirmen, die ihre Produkte aggressiv bewarben und als weniger abhängig machend vermarkteten.
In der Folge stieg die missbräuchliche Verwendung, die Zahl der Abhängigen und die Todesfälle durch verordnete Opioiden (wie Medscape berichtete): Zwischen 1999 und 2017 versechsfachte sich die Todesrate durch Opioid-Überdosen in den USA – trauriger Höhepunkt war 2017: In diesem Jahr starben mehr als 70.000 Menschen an einer Überdosis Drogen, fast 70% standen in Zusammenhang mit Opioid-Missbrauch – das entsprach etwa 130 Toten am Tag.
Die Opioid-Epidemie in den USA war der Anlass für die Deutsche Schmerzgesellschaft, ihre S3-Leitlinie „Langzeitanwendungen von Opioiden bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen (LONTS)“ zu aktualisieren [1]. Sie entstand in Zusammenarbeit mit 28 Fachgesellschaften.
Ziel der Aktualisierung ist ein verantwortungsvoller Umgang mit opioidhaltigen Analgetika in der Langzeitanwendung bei chronischen Nicht-Tumorschmerzen (CNTS). Daher nennt die Leitlinie Indikationen und Kontraindikationen, gibt aber auch praxisbezogene Hinweise zur Durchführung und zum Beenden eine solchen Therapie.
Leicht gestiegene Verordnungszahlen auch in Deutschland
Die Deutsche Schmerzgesellschaft habe bereits 2009 ihre erste Version der LONTS-Leitlinie herausgebracht, erklärt Prof. Dr. Winfried Häuser, Koordinator der Leitlinie – „da gab es noch keine entsprechende Leitlinie in den USA“. Auch ein restriktives Betäubungsmittelgesetz gab es dort nicht wie in Deutschland: Hierzulande unterliegt bekanntlich die Verordnung aller stark wirksamen opioidhaltigen Analgetika wegen ihres Abhängigkeits- und Missbrauchspotenzials diesem Gesetz.
Aber auch in Deutschland stiegen die Verordnungszahlen von Opioiden in den letzten Jahren – wenn auch nicht stark: Nach dem Arzneiverordnungsreport 2019 ist die Menge and Defined Daily Doses (DDD) von 2009 bis 2016 langsam von 379 Mio. DDD auf 421 Mio. DDD gestiegen. Seither blieben die Mengen ungefähr gleich (2017: 423 Mio., 2018: 422 Mio. DDD).
Seit 20 Jahren ist die Zahl Opiatabhängiger mit Kontakt zum Drogenhilfesystem konstant; die Zahl der Drogentoten ebenfalls, so der Drogen- und Suchtbericht 2019. Die Autoren des deutschen Epidemiologischen Suchtsurveys folgern aus ihren Erhebungen 1995 bis 2018, dass „in Deutschland keine Opioid-Epidemie vergleichbar der in den USA vorliegt“. Ebenso die Autoren der LONTS-Leitlinie 2020: „Es gibt keine Hinweise auf eine Opioid-Epidemie in Deutschland.“
Neuerungen bei den Indikationen und Kontraindikationen
Neu in der Leitlinie ist die Differenzierung zwischen einem 4- bis 12-wöchigen, 13- bis 26-wöchigen und mehr als 26-wöchigen Einsatz von Opioid-Analgetika (kurz-, mittel- und langfristig). Hintergrund ist dieselbe Unterscheidung in den zugrundeliegenden Metaanalysen.
„Ärzte können einen Therapieversuch über 12 Wochen machen – eine Langzeitanwendung über 3 Monate sollte aber nur dann fortgesetzt werden, wenn das Medikament für eine ausreichende Schmerzlinderung bzw. Funktionsverbesserung im Alltag sorgt und der Patient es ausreichend verträgt“, erklärt Häuser, Medizinisches Versorgungszentrum für Schmerzmedizin und seelische Gesundheit Saarbrücken. „Wenn nicht, muss die Therapie beendet werden.“
Opioid-Analgetika sind Standard bei starken Tumorschmerzen und werden häufig auch in der Palliativmedizin eingesetzt. Allerdings zeigen Krankenkassendaten, dass inzwischen bis zu 75% der opioidhaltigen Analgetika wegen chronischen Nicht-Tumorschmerzen verordnet werden – teilweise trotz bestehender Kontraindikationen.
Häuser, der auch außerordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft ist, betont, dass ein Opioid-Analgetikum für kein chronisches Schmerzsymptom – außer Tumorschmerzen – Mittel der ersten Wahl ist. Daher gilt auch für alle Indikationen laut aktueller Leitlinie die konsensbasierte Empfehlung: „Vor Einleitung einer Therapie mit Opioiden sollen die nicht-medikamentösen Therapieoptionen optimiert und medikamentöse Alternativen erwogen werden.“
Allerdings gebe es für viele chronische Schmerzen keine guten bzw. unproblematischen Alternativen. Daher empfiehlt die Leitlinie zum Beispiel bei chronischem Rücken- und Arthroseschmerz die kurz-, mittel- und langfristige Anwendung opioidhaltiger Analgetika – „für Patienten mit einem nach ärztlicher/psychologischer/physiotherapeutischer Einschätzung relevanten somatischen Anteil in der Schmerzentstehung und -aufrechterhaltung.“
Chronische Schmerzen können verschiedene Komponenten haben, erklärt der Facharzt für Innere Medizin und Spezielle Schmerztherapie: „Überwiegen Gewebe- oder Nervenschäden, können Opioide schmerzlindernd wirken, je größer allerdings der Anteil psychischer Komponenten am Schmerzgeschehen, umso eher wirken Opioide nicht.“ Daher könnten zum Beispiel Patienten mit chronisch entzündlichen Rückenerkrankungen oder inoperablen Spinalstenosen laut Leitlinie mit Opioiden behandelt werden, Patienten mit funktionellen Rückenschmerzen oder psychischen Störungen mit dem Leitsymptom chronischer Rückenschmerz dagegen nicht.
Neu aufgenommen in die Leitlinie wurden evidenzbasierte Empfehlungen zum Restless Legs Syndrom (RLS) und Parkinsonsyndrom: So werden opioidhaltige Analgetika für 4 bis 12 Wochen beim RLS empfohlen (bei nicht ausreichendem Ansprechen auf Levo-DOPA bzw. Dopaminagonisten), länger können sie nur bei Therapieansprechen angewendet werden. Beim Parkinsonsyndrom können sie als individueller Therapieversuch angeboten werden.
Opioidhaltige Analgetika sollten weiterhin nur als individueller Heilversuch (wegen unzureichender Datenlage) eingesetzt werden, z.B. bei einigen sekundären Kopfschmerzen oder chronischen postoperativen Schmerzen. Neu hinzugekommen in die Liste mit Indikationen für individuelle Heilversuche sind die traumatische Trigeminusneuralgie und der chronische Unterbauchschmerz der Frau bei ausgeprägten Verwachsungen und/oder multilokulärer Endometriose.
Kontraindikationen für opioidhaltige Analgetika sind weiterhin beispielsweise primäre Kopfschmerzen, Schmerzen bei funktionellen/somatoformen Störungen (z.B. Reizdarmsyndrom), chronische Pankreatitis und chronisch entzündliche Darmerkrankungen (Ausnahme: kurzfristiger Einsatz bei akuten Krankheitsschüben).
Missbrauch und Abhängigkeit
Neu in der Leitlinie ist auch eine stark negative Empfehlung zu einer Kombinationstherapie von Opioiden mit Tranquilizern. Hintergrund sind verschiedene Studien, die zeigten, dass eine solche Kombination mit einem erhöhten Risiko einer stationären Aufnahme (z.B. wegen Überdosierung von Opioiden, Verhaltensstörungen, Vergiftungen) und auch für Todesfälle assoziiert ist.
„So zeigten wir in einer retrospektiven Querschnittstudie mit über 4 Mio. Versicherten von 69 deutschen gesetzlichen Krankenversicherungen, dass ca. 12% der Patienten mit einer Langzeittherapie mit Opioiden wegen chronischer Nicht-Tumorschmerzen auch Verordnungen von Tranquilizern erhielten“, sagt Häuser.
In dieser Studie waren Krankenhausaufenthalte mit Diagnosen von psychischen und Verhaltensstörungen auf Grund von Alkohol, Opioiden, Tranquilizern und multiplem Substanzgebrauch sowie Vergiftungen durch Betäubungsmittel mit der Verschreibung von Tranquilizern (Odds Ratio 3,63) assoziiert.
Die Autoren der Leitlinie gehen davon aus, dass hierzulande bei rund 1 bis 2% der Patienten mit einer Langzeitbehandlung mit Opioiden ein schädlicher Gebrauch bzw. ein Abhängigkeitssyndrom vorliegt. Als Langzeitbehandlung wird meist eine tägliche oder fast tägliche Einnahme von Opioiden über mindestens 90 Tage definiert. Die Leitlinie soll daher auch dazu beitragen, die Anzahl der Patienten mit missbräuchlicher Verwendung von rezeptierten opioidhaltigen Analgetika zu reduzieren.
So gibt es Empfehlungen zur Diagnostik und auch zur Therapie der missbräuchlichen/abhängigen Verwendung von Opioiden, die aus medizinischer Indikation verschrieben wurden – in enger Absprache mit der parallel entwickelten S3-Leitlinie „Medikamentenbezogene Störungen“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Niemals erste Wahl: Aktualisierte S3-Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen Nicht-Tumorschmerzen - Medscape - 11. Mai 2020.
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