Eine Studie zur Darmkrebsvorsorge erleichtert Ärzten eine wichtige, aber bisher schwierige Entscheidung: Wann sollten sie einen Patienten, der wegen Darmkrebs in der Familie ein erhöhtes Risiko hat, erstmals zur Früherkennung überweisen? Nun können sie das empfehlenswerte Anfangsalter aus einer Tabelle ablesen, die nach der individuellen Vorgeschichte strukturiert ist.
Zur Entstehung von Darmkrebs trägt der Lebensstil bei, jedoch spielen unabänderliche Faktoren ebenfalls eine Rolle: Neben Alter und Geschlecht ist das die Familienanamnese: Sind in der Vergangenheit bereits Verwandte erkrankt? Wie viele und in welchem Alter? Handelt es sich um nahe oder entferntere Angehörige?
Für die Allgemeinbevölkerung empfehlen die Richtlinien in vielen Ländern wie auch in Deutschland, die Früherkennung mit 50 Jahren zu starten. Zwar berücksichtigen sie, dass Menschen mit Darmkrebs in der Familie verstärkt gefährdet sind und deshalb schon früher mit der Vorsorge beginnen sollten. Aber wann genau?
So haben gastroenterologische Fachgesellschaften in den USA gewarnt, die Empfehlungen für Familienmitglieder von Darmkrebspatienten seien von „minderwertiger oder sehr minderwertiger Evidenz“.
Bisherige Angaben sind unzuverlässig, obwohl sie für eine die große Kohorte von Menschen relevant wären, sagen auch Forscher um Dr. Mahdi Fallah, Leiter der Gruppe Risikoadaptierte Prävention am Deutschen Krebsforschungszentrum DKFZ in Heidelberg in Gastroenterology [1]. Das deutsch-schwedische Team hat nun durch Berechnung der maßgeblichen Einflussfaktoren für größere Klarheit gesorgt.
Ein erster Schritt zu personalisierter Vorsorge
„Unser Ziel war es, durch die Analyse der weltweit größten Datengrundlage risikoadaptierte und personalisierte Empfehlungen für das Anfangsalter zur Darmkrebsvorsorge bei unterschiedlicher Familiengeschichte zu geben“, erklärt die Ko-Autorin Dr. Elham Kharazmi in einer DKFZ-Mitteilung.Als Quelle nutzten die Wissenschaftler die Datenbank zu Krebs in schwedischen Familien. Sie entstand in den 1990er Jahren durch Verknüpfung von Volkszählungen, Todesfallmeldungen und dem schwedischen Krebsregister mit einem Mehrgenerationenregister, worin ab1932 geborene Kinder ihren Eltern zugeordnet sind.
Erfasst wurden 13 Millionen Menschen samt Stammbaum
Seit der letzten Aktualisierung im Jahr 2017 umfasst dieser Pool fast 13 Millionen Menschen mit ihrer Genealogie. So ließ sich der Stammbaum jedes Einzelnen aufrufen und davon Verwandte ersten und zweiten Grades ableiten, also Eltern, Geschwister und Kinder einerseits, Großeltern, Enkel, Tanten, Onkel, Nichten, Neffen und Halbgeschwister andererseits.Während des Studienzeitraums von 1958 bis 2015 wurde bei knapp 174.000 Teilnehmern Darmkrebs diagnostiziert.
Im Durchschnitt hatten 50-Jährige ein Risiko von 0,44%, in den nächsten 10 Jahren an Darmkrebs zu erkranken. Da ein Alter von 50 häufig als Anfang der Früherkennung festgesetzt ist, nahmen die Forscher die dazu gehörige Prozentzahl für das Risiko als Ausgangswert für ihre Kalkulationen: Um wieviel früher als durchschnittliche Altersgenossen würden Menschen mit familiärer Belastung dieses Niveau erreichen?
Risiko der Durchschnittsbevölkerung 3 bis 32 Jahren früher erreicht
Genereller Trend: Die Wahrscheinlichkeit, an Darmkrebs zu erkranken, ist umso höher, je mehr nahen Verwandten diese Diagnose schon gestellt wurde und je jünger sie dabei waren. Aufgeschlüsselt nach den möglichen Kombinationen – Zahl der erkrankten Angehörigen, Verwandtschaftsgrad und Diagnosealter – ergab sich, dass ein Screening zwischen 3 und 32 Jahren früher als beim Durchschnitt ratsam wäre. Ein Beispiel: Wer eine Schwester hat, die vor dem 45. Lebensjahr erkrankte, kommt bereits mit 34 Jahren auf das vorgegebene Risiko.Auffallend: Bei erkrankten Verwandten 1. Grades hatte das Diagnosealter einen deutlichen Einfluss, wogegen es bei Verwandten 2. Grades eher unerheblich war.
Besonderer Service: Auch Richtwerte anderer Länder als Basis
Die Forscher bieten noch mehr an Orientierung: Denn der Vorsorgebeginn für die Allgemeinbevölkerung ist nicht überall auf 50 festgelegt, sondern variiert von Land zu Land. Österreich startet mit 40 Jahren am frühesten, wogegen Schweden die Untersuchungen erst ab 60 anbietet. Die meisten EU-Länder liegen mit dem 50. oder 55. Lebensjahr dazwischen. Da es einer Studie zufolge sinnvoll ist, die Früherkennung der jeweiligen Inzidenz anzupassen, haben Fallah und seine Kollegen die Termine für Menschen mit familiärem Risiko auch unter diesen Voraussetzungen bereitgestellt.
Wie sie erläutern, ist Darmkrebs weltweit die dritthäufigste Krebsart und die zweithäufigste Todesursache durch Krebs. Die Zahl der Neuerkrankungen ist zwischen 2012 und 2018 sprunghaft gestiegen – von schätzungsweise 1,4 Millionen auf 1,8 Millionen, die Zahl der Todesfälle von 0,7 Millionen auf fast 0,9 Millionen. Das beläuft sich auf derzeit fast ein Zehntel aller Krebsdiagnosen und Todesfälle weltweit.
Prävention für gehäuft erkrankende junge Erwachsene
Frühstadien wie Polypen und Adenome zu erkennen und zu entfernen, verringert Morbidität und Mortalität von Darmkrebs und spart zuletzt Kosten. Bei älteren Menschen sind Screening-Programme recht erfolgreich, doch nun erkranken jüngere mit zunehmender Häufigkeit, weshalb die American Cancer Society das Einstiegsalter kürzlich von 50 auf 45 Jahre gesenkt hat.
„Unsere Studie könnte dazu führen, dass mehr Darmkrebs im Frühstadium erfasst und die Prognose der Patienten verbessert wird. So wäre es möglich, den weltweit rapiden Anstieg von Darmkrebs bei jungen Erwachsenen bremsen“, hoffen die Autoren. Allerdings: Noch unterscheiden sich die Praktiken der Früherkennung weltweit erheblich. In einigen asiatischen Ländern und Schweden gibt es noch nicht einmal ein nationales Programm.
Evidenzbasierte und risikogerechte Ergänzung der Richtlinien
Zudem sind die bestehenden Leitlinien oft nur lückenhaft entsprechend der Familienanamnese gestaffelt, in einigen fehlen Angaben zu einem vorgezogenen Anfangsalter ganz. In Deutschland wird bisher vorgeschlagen: Wer einen Verwandten 1. Grades mit Darmkrebs hat, sollte 10 Jahre vor dessen Alter bei der Diagnose, aber spätestens mit 40 bis 45 Jahren mit der Vorsorge beginnen. Beispiel: Ist der Angehörige mit 42 erkrankt, sollte man sich ab 32 untersuchen lassen.
„Unsere Studie deckt enorme Unterschiede auf zwischen dem, was nach der Evidenz ratsam ist, und dem, was die Leitlinien vorgeben“, stellen die Wissenschaftler fest. Je nach Szenario liege die Spanne zwischen 3 Jahre zu vorsorglich und 27 Jahre zu spät.
Beispiel USA: Die US Multi-Society Task Force on Colorectal Cancer sieht bei durchschnittlichem Risiko ein Einstiegsalter von 45 Jahren vor, aber auch selbst dann, wenn Verwandte 2. Grades oder Halbgeschwister Darmkrebs hatten. Dagegen haben die Forscher errechnet, dass bei diesen Konstellationen ein Erstscreening mit 40 bzw. 39 Jahren ratsam wäre.Beispiel Großbritannien: Die British Society of Gastroenterology empfiehlt als Beginn ein Alter von 60 Jahren, wenn 2 oder mehr Verwandte 2. Grades an Darmkrebs erkrankt waren. Aber ein Alter von 51 Jahren wäre der nach den neuen Erkenntnissen zur Prävention angemessener.
Eindeutige Ratschläge für Einzelne und Familien
„Wir möchten Entscheidungsträger in der Politik und Ärzte unterstützen, fundierte Empfehlungen auszusprechen“, schreiben Fallah und seine Kollegen. Die neuartige Methode könne auch als Vorbild dienen, um anderen Risikofaktoren Rechnung zu tragen, darunter Übergewicht, Bewegungsmangel, Ernährung wie häufiger Verzehr von rotem oder verarbeitetem Fleisch, Rauchen, Alkohol und Genetik.
In einer vorangegangenen Studie hatten sie gezeigt, dass Darmkrebs bei einem Halbgeschwister mit einem höheren Risiko einhergeht als bei Verwandten 2. Grades wie Großeltern oder Onkel/Tante. Mit der jetzigen Studie ist nun die Frage beantwortet, um wie viele Jahre früher das Screening dann angesetzt werden sollte.
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Kolorektal-Karzinome bei familiärer Belastung: Eine Tabelle zeigt, ab welchem Alter das Screening starten sollte - Medscape - 8. Mai 2020.
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