Zwischenmenschliche Kontakte bleiben pandemiebedingt zwar bis zum 5. Juni beschränkt, Bund und Länder haben sich aber bei der gestrigen Videokonferenz auf erhebliche Lockerungen geeinigt: Die Länder entscheiden, wann Hotels und Restaurants wieder öffnen dürfen, wann Kitas aufmachen oder Theater und Konzerthäuser.
Neuinfektionen-Obergrenze festgesetzt
Steigt allerdings die Zahl der Neuinfektionen über eine definierte Obergrenze (mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb der letzten 7 Tage), soll ein regionaler Notfall-Mechanismus greifen, mit dem härtere Beschränkungen verbunden sind. Das ist das Ergebnis der Telefonkonferenz zwischen den Ministerpräsidenten der Länder und Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel.
„Wir haben die allererste Phase der Pandemie hinter uns, wir haben aber noch eine lange Phase der Auseinandersetzung mit der Pandemie vor uns“, sagte die Bundeskanzlerin auf der anschließenden Pressekonferenz. Weil man das Ziel erreicht habe, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und das Gesundheitssystem vor Überforderung zu schützen, habe man weitere Öffnungsschritte beschließen können.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sprach von einem „leichten Aufatmen“ beim Blick auf die Zahl der Neuinfektionen. Deutschland sei deshalb bislang verhältnismäßig gut durch die Pandemie gekommen, „weil wir die richtige Strategie hatten“. Das Aufatmen dürfe nicht dazu führen, dass man nachlasse, warnte Söder und erinnerte daran, dass sich das Infektionsgeschehen jederzeit wieder verändern könne. „Solange wir keinen Impfstoff haben, solange wir keine Medikamente haben, so lange bleibt diese Gefahr bestehen.“
Verantwortung liegt nun bei den Ländern
Peter Tschentscher, Erster Bürgermeister in Hamburg, betonte, dass die weiteren Schritte nun in der Verantwortung der Länder lägen. „Die regionale Vielfalt wird dazu führen, dass die Maßnahmen regional sehr unterschiedlich ausgestaltet sind.“ Mit dem Fokus auf das regionale Infektionsgeschehen will man den regionalen Unterschieden gerecht werden.
Steigt die Zahl der Neuinfektionen über die definierte Obergrenze, ist es Sache der Landkreise oder kreisfreien Städte in Zusammenarbeit mit den Landesbehörden Beschränkungskonzepte zu entwickeln und umgehend umzusetzen.
„Handelt es sich dabei um ein lokales, klar eingegrenztes Infektionsgeschehen – z.B. in einer Klinik, in einem Pflegeheim – dann kann dieses Beschränkungskonzept nur diese Einrichtung umfassen. Ist es aber ein regionales Ausbruchsgeschehen mit unklaren Infektionsketten, dann sind regionale konsequente Beschränkungen erforderlich. Und zwar solange, bis wieder sieben Tage hintereinander die Zahl der Neuinfektionen auf unter 50 gesunken ist“, erklärte Merkel.
Der Notfallmechanismus soll gewährleisten, dass bei einem möglichen neuen regionalen Infektionsherd nicht gleich bundesweit wieder Beschränkungen gelten müssen. Derzeit gibt es in Deutschland 4 Landkreise und Städte, in denen das Infektionsgeschehen größer als 50 akute Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner ist (Landkreis Greiz, Landkreis Traunstein, Rosenheim und der Zollernalbkreis).
Bis wann die Tracing-App zur Nachverfolgung von Infektionsfällen eingesetzt werden kann, lässt sich noch nicht sagen, sie befindet sich noch in der Entwicklung.
Beim Notfallmechanismus steckt der Teufel im Detail
Den Notfallmechanismus stuft Prof. Dr. Gérard Krause, Epidemiologe vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig gegenüber Spiegel Online als sinnvoll ein: „Der dahinterliegende Gedanke, dass man lokal zu jeder Zeit reagieren können muss, damit nicht neue Infektionsherde aufflackern, der ist erst mal richtig.“
Dass der Teufel dabei aber im Detail sitzt, veranschaulichte der Virologe Prof. Dr. Alexander Kekulé im im ZDF-Morgenmagazin . Zwar sei der Notfallmechanismus grundsätzlich eine „gute Sache“, so der Leiter des Instituts für medizinische Mikrobiologie an der Universität Halle. Schaue man sich aber die konkrete Umsetzung an, sehe das schon anders aus: 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von 7 Tagen bedeuteten für eine Stadt oder einen Landkreis mit einer Million Einwohner „500 Fälle die Woche, also 70 Infektionen am Tag. Dafür aber hätte man die Gesundheitsämter viel besser vorbereiten müssen. Wir sind noch nicht so weit, dass wir 70 Fälle pro Tag durch ein Gesundheitsamt nachverfolgen können“, erklärte Kekulé.
Krause betont, dass der Blick auf die Fallzahlen nicht ausreiche und von einem wichtigen Thema ablenke: „Es muss jetzt deutlich werden, was man genau zu tun gedenkt, um die alten und vorerkrankten Menschen besser zu schützen. Das ist das, was uns wirklich besorgen muss.“ Es sei wichtig, die Alten- und Pflegeheime besser auszustatten und das dortige Personal zu schulen, um schwere Erkrankungen und Todesfälle zu verhindern, so Krause.
Auch Kekulé bemängelt, dass die Risikogruppen zu wenig geschützt sind, die Gesundheitsämter für die Nachverfolgung nicht ausreichend gerüstet sind und auch ein Konzept für Kitas und Grundschulen fehle. „Diese Kinder sind noch zu klein, um ihnen beizubringen, durch Hygienemaßnahmen die Infektionsrate zu drücken. Wir brauchen ein Konzept, das kontinuierlich hält, dafür müssen die Risikogruppen systematisch geschützt werden. Das geht nur, indem man z.B. in sehr großer Menge auch Menschen ohne Symptome testet und FFP-2-Masken für Risikogruppen bereitstellt.“
Bund-Länder-Beschluss zur COVID-19-Pandemie – das Wichtigste in Kürze
Kontakte sind bis zum 5. Juni beschränkt, künftig dürfen sich allerdings alle Angehörige zweier Haushalte treffen.
Abstands- und Hygieneregeln gelten weiterhin; unter Schutz- und Hygieneauflagen ist u.a. wieder möglich:
Schulen: Schrittweiser Neustart des Präsenzunterrichts für alle Schüler bis zum Sommer (Details regeln die Länder)
Kinderbetreuung: Flexible und stufenweise Erweiterung der Notbetreuung ab dem 11. Mai (Details regeln die Länder)
Kliniken, Senioren- und Pflegeheime: wiederkehrende Besuche von einer definierten Person, wenn es vor Ort kein aktives Infektionsgeschehen gibt. (Details regeln die Länder)
Geschäfte: Öffnung aller Geschäfte unabhängig von der Verkaufsfläche
Sport- und Trainingsbetrieb: für Breiten- und Freizeitsport im Freien (Details regeln die Länder)
Veranstaltungen: Möglichkeiten für kleine öffentliche und private Veranstaltungen oder Feiern (Details regeln die Länder)
Weitere schrittweise Öffnungen: u.a. von Bildungseinrichtungen, kulturellen, gastronomischen und touristischen Angeboten (z.B. Theatern, Opern, Restaurants, Kinos, Hotels), Dienstleistungsbetrieben der Körperpflege (z.B. Kosmetikstudios) und öffentlichen und privaten Sportstätten (Details regeln die Länder)
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Diesen Artikel so zitieren: Aufatmen in Habachtstellung: Länder können Lockerungen beschließen, aber Experten sehen ungelöste Probleme - Medscape - 7. Mai 2020.
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