6 Gesundheitsexperten widersprechen mit deutlichen Worten dem Umgang mit der Corona-Krise und den strengen Präventionsmaßnahmen. In einem Thesenpapier fordert die Gruppe eine breitere Datenbasis, gezieltere Präventionsmaßnahmen und in der Krisenbewältigung mehr Rücksicht auf die Bürgerrechte. In 23 Thesen erklären die Wissenschaftler: Die Lockdown-Maßnahmen müssten dringend überdacht werden.
Damit meldet sich die Gruppe nach Anfang April (wie Medscape berichtete) ein zweites Mal zu Wort. „Wir wollen mit dem Papier nichts beschönigen. Aber wir wollen der Dramatisierung entgegenwirken“, sagt Prof. Dr. Gerd Glaeske vom SOCIUM Public Health der Universität Bremen zu Medscape.
Die Gruppe mahnt einen offenen Dialog an: „Alle Beteiligten müssen darauf hinwirken, dass es nicht zu geschlossenen Argumentationsketten kommt, die anderslautenden Nachrichten keinen Raum mehr geben können“, heißt es in der Vorbemerkung.

Prof. Dr. Gerd Glaesk
So warnt die Gruppe vor Überrektionen. COVID-19 sei eine „typische Infektionskrankheit“ und als solche kein Anlass, „in quasi metaphysischer Überhöhung alle Regeln, alles Gemeinsame, alles Soziale in Frage zu stellen oder sogar außer Kraft zu setzen“, heißt es in dem Papier. Statt Kontaktsperre und sozialer Isolation fordern die Autoren mehr Phantasie und Erfindungsreichtum, um die Krise zu bewältigen.
Klarere Zahlen gefordert
„Wir sind auch nach wie vor nicht zufrieden mit dem, wie das Robert Koch-Institut die Zahlen verbreitet“, sagt Glaeske. Um klarere Zahlen zu erhalten, fordern die Experten, unter ihnen Prof. Dr. Klaus Püschel, Leiter der Rechtsmedizin im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), und die Pflegemanagerin und Beraterin Hedwig Francois-Kettner, „energisch vorangetriebene Clusterstudien, die Daten zur Prävalenz von SARS-CoV-2/COVID-19 in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe und in Hochrisikogebieten verfügbar machen.“
Die gegenwärtigen Zahlen dagegen seien widersprüchlich und verwirrend, weil sie sich nur auf die anlassbezogenen Testungen beziehen. Entsprechend unklar seien auch die tatsächlichen Zahlen der Wiedergenesenen und auch der Gestorbenen, da die Grundgesamtheit im Dunkeln liege.
Die Autoren kritisieren auch die Teststrategien in Deutschland. Besser sei es, über eine kontinuierlich untersuchte Kohorte die epidemiologische Situation darzustellen, anstatt nur anlassbezogen zu testen, um dann zu versuchen, die Infektionsketten zu zerreißen.
Die Autoren warnen denn auch vor einer Vereinfachung in der Darstellung der Fakten. Denn das Infektionsgeschehen im Land sei geprägt von herdförmig auftretenden Infektionen etwa in Krankenhäusern oder Seniorenheimen. „Dieser herdförmige Ausbreitungstyp ist in seinem Muster nicht vorhersehbar und muss bei den Präventionsmaßnahmen einen der wichtigsten Schwerpunkte darstellen“, so das Thesenpapier.
Die Aussagekraft der täglich gemeldeten Neuinfektionen, wie das Robert Koch-Institut (RKI) sie darstellt, sei dagegen gering. Dies sei umso mehr zu kritisieren, als dass diese Zahlen Grundlage politischer Entscheidungen, etwa zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit, seien, so Glaeske.
Prävention zielgerichteter machen
Entsprechend des unregelmäßigen Infektionsgeschehens müsse auch die Prävention die Methoden wechseln – weg von einer allgemeinen Prävention, hin zu Zielgruppen-spezifischen Maßnahmen, die zum Beispiel die Risikogruppen besonders schützen. „Statt einem Absonderungskonzept zu folgen, brauchen wir definierte Risikogruppen, für die Zielgruppen-spezifische Präventionsmaßnahmen angeboten werden können“, erklärt Glaeske.
„Warum zum Beispiel nicht bestimmte Zeitkorridore freihalten, in denen alte und gefährdete Leute einkaufen gehen können?“ Auch die Schulen und Kitas sollten Schritt für Schritt wieder geöffnet werden. Besuche der Kinder bei den Großeltern im Pflegeheim sollen aber noch verboten bleiben.
Die 6 Experten schlagen vor, über einen Risiko-Score Kriterien für die verschiedenen Zielgruppen zu entwerfen. „Denn insgesamt kommen uns die psychosozialen Aspekte in der Risikobewertung zu kurz“, sagt der Bremer Professor.
Neben Glaeske, Püschel und Francois-Kettner stehen Prof. Dr. Matthias Schrappe von der Universität Köln, Franz Knieps, Vorstand des BKK-Dachverbandes, und Prof. Dr. Holger Pfaff vom Zentrum für Versorgungsforschung an der Universität Köln hinter dem Papier. Anfang April hatte sich die Gruppen zum ersten Mal zu Wort gemeldet.
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Diesen Artikel so zitieren: Experten-Papier gegen „Dramatisierung“ der Corona-Situation: Forderung nach gezielten Maßnahmen sowie breiter Datenbasis - Medscape - 6. Mai 2020.
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