Heinsberg-Studie im „Preprint“: Hohe Dunkelziffer an Infektionen, Sterberate nur 0,36% gilt das für ganz Deutschland?

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

5. Mai 2020

Die Dunkelziffer an Infizierten und der Fall-Verstorbenen-Anteil (Infection Fatality Rate, IFR) werfen bei SARS-CoV-2 viele Fragen auf. Erstmals liegen nun die von Bonner Wissenschaftlern ausgewerteten Daten zu einem größeren Infektionscluster aus Deutschland als Preprint vor [1]. Als Schlussfolgerung aus der so genannten Heinsberg-Studie gehen die Autoren von möglicherweise bereits bis zu 1,8 Millionen mit dem neuen Coronavirus Infizierten in Deutschland aus. Die von ihnen errechnete IFR ist mit 0,36% nicht allzu hoch.

In Gangelt, Kreis Heinsberg (Nordrhein-Westfalen), kam es bekanntlich am 15. Februar während einer Karnevalssitzung zu einem „Superspreader“-Ereignis. Prof. Dr. Hendrik Streeck von der Universität Bonn und seine Kollegen haben daraufhin eine Zufalls-Stichprobe aus Gangelt untersucht. Das Ergebnis: Dort waren insgesamt 5-mal mehr Einwohner infiziert als offiziell gemeldet. Als IFR geben sie entsprechend 0,36% an.

Auf Deutschland übertragen kommen die Wissenschaftler auf einen Wert von rund 1,8 Millionen Infizierten. Das Robert Koch-Institut hat zuletzt 163.175 Fälle offiziell gemeldet (Stand: 4.5.2020, 08:00 Uhr). 22% der positiv getesteten Patienten in der Heinsberg-Studie waren asymptomatisch.

Schon die Veröffentlichung der Zwischenergebnisse aus Gangelt hatte Anfang April für Kontroversen gesorgt. „Es ist schwierig zu sagen, was aus so einer Studie herausgekommen ist, wenn man nur die Endergebnisse hat“, hatte Prof. Dr. Christian Drosten von der Charité Mitte April kommentiert.

Daten auf Deutschland übertragbar?

Was lässt sich nun tatsächlich mit diesen Daten anfangen? „Die Ergebnisse können dazu dienen, Modellrechnungen zum Ausbreitungsverhalten des Virus weiter zu verbessern – bislang ist hierzu die Datengrundlage vergleichsweise unsicher“, erklärt Prof. Dr. Gunther Hartmann in einer Pressemitteilung. Er ist Koautor der Studie und Leiter des Instituts für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie am Universitätsklinikum Bonn.

 
Die Ergebnisse können dazu dienen, Modellrechnungen zum Ausbreitungsverhalten des Virus weiter zu verbessern. Prof. Dr. Gunther Hartmann
 

Prof. Dr. Gérard Krause, der nicht am Projekt beteiligt war, hat sich bei einer Online-Pressekonferenz detailliert mit dem Preprint befasst. Er ist Leiter der Abteilung Epidemiologie, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Braunschweig. Krause beurteilt die Daten verhalten optimistisch: „Wir haben jetzt erste Anhaltspunkte und damit eine gute Ausgangsbasis für weitere Untersuchungen. Und wir brauchen die Daten, weil sie richtungsweisend sind.“

Ziel der Studie sei nicht gewesen, die Sterblichkeit zu untersuchen, stellt Krause klar. Die Arbeit sei nicht gepowert gewesen, um hier statistisch signifikante Ergebnisse zu liefern. „Man hätte dafür eine größere Population wählen müssen.“

Er ergänzt, die Response in der Bevölkerung sei „mit 70% für epidemiologische Studien sehr hoch gewesen“. Ergänzend könne man eine Non-Responder-Analyse machen und diese Menschen nochmals einladen. „Warum sind sie nicht zur Untersuchung erschienen? Waren sie vielleicht krank – oder so gesund, dass das Thema für sie keine Bedeutung hat?“, spekuliert Krause über mögliche Erklärungen.

 
Wir brauchen die Daten, weil sie richtungsweisend sind. Prof. Dr. Gérard Krause
 

Allerdings: „Zurückhaltung ist bei der Übertragung auf ganz Deutschland geboten“, warnt er – vor allem im Hinblick auf die relativ niedrige IFR von 0,36%. „Man kann hypothetisch argumentieren, dass der Anteil der Verstorbenen ungewöhnlich gering war, weil es in der frühen Phase noch keine Infektionen in Seniorenheimen gab“, liefert er eine mögliche Erklärung. Die Folgen von vermehrten Infektionsfällen in Senioren- und Pflegeheimen habe man in den letzten Wochen erlebt.

Hinzu komme die recht kleine Zahl an in der Studie erfassten Menschen (919 Getestete, 7 Todesfälle): „Ein theoretisch nicht erfasster Todesfall fällt da stark ins Gewicht“, gibt Krause zu bedenken. „Besser wäre es, Totenscheine systematisch auszuwerten.“ Doch dies sei aus Datenschutz-Gründen schwierig.

Heinsberg-Studie mit 919 Teilnehmern aus 405 Haushalten

Streeck und seine Kollegen bewerten eine Karnevalssitzung in Gangelt am 15. Februar 2020 als das entscheidende Infektionsereignis. Daran nahmen rund 300 Personen teil. Am 24. und 25. Februar 2020 diagnostizierten Ärzte bei einem Ehepaar aus der Region erstmals eine SARS-CoV-2-Infektion. Sie hatten sich von einer unbekannten Quelle infiziert und bei der Feier weitere Personen angesteckt.

Ab dem 26. Februar gab es Quarantänemaßnahmen. Das Maximum an Neuerkrankungen wurde Mitte März erreicht (85 weitere Fälle innerhalb von 4 Tagen).

Für ihre Studie kontaktierten die Forscher über das zuständige Einwohnermeldeamt seit Beginn des Ausbruchs 600 zufällig ausgewählte Haushalte. Insgesamt erklärten sich 919 Studienteilnehmer aus 405 Haushalten bereit, an Untersuchungen und Befragungen teilzunehmen. Dies geschah zwischen dem 30. März und dem 6. April. Streecks Team arbeitete sowohl mit PCR- als auch mit ELISA-Tests (auf Antikörper), um aktive und überstandene Infektionen zu erfassen.

Von 919 Personen mit auswertbarem Infektionsstatus waren 15,5% (95%-KI: 12,3%-19,0%) infiziert. Das ist 5-mal mehr, verglichen mit der Zahl offiziell gemeldeter Fälle in Gangelt (3,1%).

SARS-CoV-2-Infektionen gingen bei symptomatischen Patienten oft mit Geruchs- und Geschmacksverlust einher. 22,2% aller Infizierten in der Kohorte waren jedoch asymptomatisch.

Bei insgesamt 7 SARS-CoV-2-assoziierten Todesfällen betrug die geschätzte IFR 0,36%; 95%-KI: 0,29-0,45%). Ob im Einzelfall eine Kausalität bestand, ließ sich nicht klären. Es wurde kein Zusammenhang zwischen Alter, dem Geschlecht und der Infektionsrate festgestellt.

Es wurde auch kein Zusammenhang zwischen dem Infektionsrisiko und der Anzahl aller im gleichen Haushalt lebenden Personen festgestellt. Das sekundäre Infektionsrisiko für Studienteilnehmer, die im gleichen Haushalt leben, stieg von 15,5% (1-Personen-Haushalte) auf 43,6% (2 Personen), 35,5% (3 Personen) und 18,3% (4 Personen; p < 0,001). Hier hatten die Forscher höhere Werte erwartet.

Niedrige IFR, niedriges Infektionsrisiko im Haushalt

„Während die Anzahl der Infektionen in dieser Gemeinde nicht repräsentativ für andere Teile der Welt ist, kann die IFR (…) an anderen Orten mit ähnlichen Bevölkerungsmerkmalen verwendet werden“, meinen die Autoren. Doch ob die spezifischen Umstände in Gangelt die IFR beeinflusst hätten, müsse weiter untersucht werden. Umstritten sei bisher z.B. auch, welchen Effekt die Virusdosis bei Infektionen spiele.

„Das unerwartet niedrige sekundäre Infektionsrisiko bei Personen, die im gleichen Haushalt leben, hat wichtige Auswirkungen auf die Maßnahmen, die zur Eindämmung der SARS-CoV-2-Virus-Pandemie installiert wurden“, schreiben die Autoren.

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....