Ob ein schwerer Verlauf von COVID-19 droht, hängt nicht unbedingt vom Alter der Patienten ab. Immer mehr deutet darauf hin, dass die Risikogruppen sich anders zusammensetzen, als zu Beginn der Pandemie gedacht. „Wir haben festgestellt, dass Patienten mit Diabetes oder Hypertonie unabhängig vom Alter am ehesten einen schweren Krankheitsverlauf erleben“, berichtet Dr. Thomas Voshaar, Lungenspezialist und Chefarzt im Krankenhaus Bethanien Moers, der bislang 40 Patienten mit COVID-19 behandelt hat, gegenüber watson , einem Nachrichten-Portal.
Hohes Alter, so Voshaar, lasse den Patienten nicht automatisch zur Risikogruppe gehören, sofern er keine Vorerkrankungen habe. Auch bei Rauchern oder Asthmatikern sei bisher nicht gesichert, wie hoch ihr Risiko einer schweren Erkrankung sei. Man habe natürlich beobachtet, dass junge Menschen die Krankheit eher überleben – was aber auch damit zusammenhänge, dass sie seltener unter Vorerkrankungen leiden.
Auffällig viele Thrombosen und Lungenembolien – und andere Lungenschäden
Auffällig bei COVID-19-Patienten seien ungewöhnlich viele Thrombosen und Lungenembolien. Die Infektion wirke sich nicht nur auf die Atemwege und das Lungengewebe, sondern wohl auch auf die Blutgerinnung und das Endothel der Blutgefäße aus.
Ähnliche Beobachtungen machten Ärzte in den USA. So berichten Ärzte im NEJM von vergleichsweise jungen Opfern, die im Alter von 30 bis 40 Jahren ohne vorangegangene Symptome von COVID-19 einen Schlaganfall erlitten, und sich als mit SARS-CoV2 infiziert herausstellten. Es gibt auch Berichte über Blutgerinnsel ohne Warnzeichen und tödliche Thrombosen ohne bekannte Vorerkrankungen.
Voshaar sagt, dass man den typischen Verlauf mit einer Atemwegsentzündung und einer Lungenentzündung durch das Virus nur sehr vereinzelt gesehen habe, die meisten Fälle seien Mischformen, bei denen auch weitere Organinfektionen eine große Rolle spielten.
Und auch die Art der Lungenschädigung unterscheide sich von der klassischen Lungenentzündung. Während bei dieser meist nur ein Lungenflügel entzündet ist, sind bei COVID-19 fast immer beide Lungenflügel betroffen. Außerdem zeigten sich bei Computertomografien (CT) der Lungen bei Patienten mit COVID-19 ein breites Spektrum von Entzündungsmustern: Während bei manchen die Lunge kaum angegriffen seien, sind bei anderen beide Flügel wölkchenhaft oder nahezu flächendeckend befallen.
Das könne mit dem Stadium der Erkrankung zusammenhängen, müsse es aber nicht. Es gebe keine Einheitlichkeit, so Voshaar. Er berichtet auch von einigen für Lungenerkrankungen untypischen Symptomen. So habe ein Mitarbeiter berichtet, dass er kurz vor Krankheitsbeginn sein Duschgel nicht mehr riechen konnte. Ein weiterer Mitarbeiter habe 3 Wochen lang nicht Gitarre spielen können, weil er das Gefühl in den Fingern verloren hatte.
Schwere Störung der Mikrozirkulation der Lunge
Die Ergebnisse von Obduktionen legen jedenfalls nahe, dass nur wenige COVID-19 Patienten tatsächlich an einer Lungenentzündung gestorben sind. „Die wenigsten Patienten hatten eine Lungenentzündung“, sagt Prof. Dr. Alexandar Tzankov, Leiter des Fachbereichs Autopsie am Uni-Spital in Basel, gegenüber der Süddeutschen Zeitung . Tzankov hat bislang 20 COVID-19-Patienten obduziert und berichtet: „Was wir unter dem Mikroskop gesehen haben, war eine schwere Störung der Mikrozirkulation der Lunge.“
Dass die Todesursachen bei Patienten mit COVID-19 sehr unterschiedlich sind, hatte schon Prof. Dr. Klaus Püschel in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Anfang April betont: „Es gibt nicht ‚den‘ Corona-Toten, wie es die Statistik suggeriert“, so der Leiter des UKE-Instituts für Rechtsmedizin in Hamburg. Laut Püschel zeigen die Obduktionen von 65 verstorbenen COVID-19-Patienten aus Hamburg, dass alle Vorerkrankungen hatten.
Einem Bericht Püschels an die Hamburger Gesundheitsbehörde nach litten die Verstorbenen vorwiegend an kardiovaskulären Vorerkrankungen wie Bluthochdruck, Herzinfarkten und Arteriosklerose. Bei 46 Patienten lagen Vorerkrankungen der Atemwege und der Lunge vor, bei 28 bestanden andere Organschäden oder die Patienten waren organtransplantiert.
Auch Tzankov berichtet von Vorerkrankungen: Ein Großteil der Patienten sei schwer adipös gewesen, mehr als 2 Drittel der – überwiegend männlichen – Patienten hätten vorgeschädigte Herzkrankgefäße aufgewiesen und ein Drittel sei an Diabetes erkrankt gewesen.
Bei einer Störung der Mikrozirkulation der Lunge ist der Blutkreislauf der Lunge beeinträchtigt und kleinste Blutgefäße sind betroffen. Damit funktioniere der Sauerstoffaustausch nicht mehr, was die Schwierigkeiten bei der Beatmung von COVID-19-Patienten erkläre, so Tzankov. „Man kann dem Patienten so viel Sauerstoff geben, wie man will, der wird dann einfach nicht mehr weiter transportiert.“
Laut Voshaar kommt eine gestörte Mikrozirkulation der Lunge auch bei anderen Virusinfektionen vor. Seiner Einschätzung nach ist es kein spezifisches Merkmal von COVID-19 – aber ein häufiges, das die Symptome der Lungenentzündung verstärken könne. Man wisse noch nicht, ob eine Mikrozirkulationsstörung bei allen COVID-19-Pneumonien deutlich ausgeprägt sei.
Obduktionen können wichtiges Wissen liefern
„Wenn man die Krankheit in ihrer Gesamtheit und die Auswirkungen der therapeutischen Maßnahmen erfassen will, dann ist die Untersuchung der Todesopfer das beste Mittel. Auch andere Krankheiten haben wir erst umfassend verstanden, als wir auch die Toten gründlich untersucht haben“, sagt Püschel.
Auch Voshaar hebt hervor, dass die Untersuchung von Patienten, die an COVID-19 gestorben sind, wichtiges Wissen liefern könne: „Wir Ärzte in der Klinik arbeiten mit den Lebenden – umso wichtiger ist es für uns, Erkenntnisse von Pathologen mit unserem Wissen abzugleichen, deswegen stehen wir mit vielen von ihnen regelmäßig in Kontakt.“
Denn Pathologen könnten noch genauere Aussagen darüber treffen, wie andere Organe, zum Beispiel Herz, Leber oder Nieren, von der Krankheit betroffen seien. „Wichtig wäre auch, in einer eigenständigen Obduktion das Gehirn genauer zu untersuchen. Sollte das Coronavirus zum Beispiel das Stammhirn befallen, das auch für die Atmung zuständig ist, wäre das eine wertvolle Erkenntnis“, so Voshaar.
Für Mediziner im Klinikalltag sei es auch wichtig zu wissen, ob COVID-19-Patienten spontan atmend gestorben seien oder ob sie schon länger künstlich beatmet wurden, sagt Voshaar. Erstere würden plötzlich sterben, während bei den anderen schon mehrere Maßnahmen unternommen worden sind bis zum Todeszeitpunkt. „So könnten wir womöglich auch besser nachvollziehen, wie weitreichend die Schäden durch die künstliche Beatmung sind“, sagt Voshaar.
Das Robert Koch-Institut (RKI) hat seine ursprüngliche Empfehlung zu Obduktionen von COVID-19-Patienten inzwischen revidiert. Wobei RKI-Vizepräsident Prof. Dr. Lars Schaade auf dem Pressebriefing am 21. April klargestellt hatte: „Die ursprüngliche Empfehlung lautete nicht, nicht zu obduzieren, sondern dies auf das Nötigste zu beschränken. Es ist natürlich richtig, gerade wenn die Erkrankung neu ist, möglichst viel zu obduzieren, unter den entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen.“
In Hamburg, so Püschel, habe man bereits Konsequenzen aus den Erkenntnissen der Rechtsmediziner gezogen: „Zumindest die spezielle Gefahr des Ausbildens von Blutgerinnseln wird bei uns jetzt klinisch beachtet, und die Patienten bekommen eine besondere vorsorgliche Therapie, um das Blutgerinnungssystem und die Situation im Bereich der Gefäßinnenhäute im Griff zu behalten, um tödliche Lungenembolien zu vermeiden.“
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Schwerer Verlauf von COVID-19: Nicht das Alter, sondern vielmehr 2 Vorerkrankungen bestimmen, wer zur Risikogruppe gehört - Medscape - 5. Mai 2020.
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