Ärzte sollten besonders COVID-19-Patienten mit endokrinen Störungen und Diabetes mellitus im Auge behalten. So äußerten sich Endokrinologen in einem Leitartikel im Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism [1]. Daten aus der chinesischen Wuhan-Provinz, wo die Pandemie ihren Ausgang nahm, deuteten darauf hin, dass Diabetiker in der Gruppe der Schwererkrankten und auch unter den Todesopfern der Infektion überrepräsentiert sind.
Erwachsene mit einer Kortikoidtherapie, etwa wegen eines Asthmas oder gegen Arthritis, sowie Personen mit einer Nebenniereninsuffizienz hätten ein hohes Risiko für schwere COVID-19-Verläufe, da sie nicht in der Lage seien, eine normale Stressreaktion aufzubauen, meinen die Autoren. Die Endokrinologen haben daher Angehörige der Gesundheitsberufe dazu aufgefordert, beim Umgang mit solchen Patienten besondere Wachsamkeit an den Tag zu legen.
Zwar spiele die Kortikoidtherapie keine direkte Rolle in der Therapie von COVID-19-Patienten, doch sollte eine intravenöse Hydrokortisontherapie in Stressdosierung bei Patienten in Betracht gezogen werden, die seit über 3 Monaten mit Glukokortikoiden behandelt werden und deren Zustand in Bezug auf COVID-19 sich verschlechtert hat.
Wir baten Dr. Paul Stewart, Chefredakteur des Journals und Professor an der Universität Leeds, Großbritannien, die Ergebnisse zu erläutern und seinen Rat dazu zu geben:
Medscape: COVID-19 ist ja noch relativ neu, was weiß man in der Endokrinologie bereits hinsichtlich der Hochrisikogruppen?
Prof. Stewart: Ich glaube nicht, dass irgendjemand immun dagegen ist. Es handelt sich um einen Erreger, der wahrscheinlich der Grippe, also der Influenza A, sehr ähnlich und eventuell sogar etwas weniger ansteckend ist. Das eigentliche Problem ist jedoch, dass er sich mühelos in den Bevölkerungen ausbreitet, weil niemand von uns bisher Kontakt mit diesem Erreger hatte, sodass keine inhärente Immunität existiert.
Tatsächlich ist jeder Mensch anfällig und wie wir sehen, verläuft die Entwicklung unterschiedlich: Einige Menschen haben einfach nur einen eher banalen Erkrankungsverlauf, während andere aus noch unbekannten Gründen sehr ernst erkranken können.
Wir wissen jedoch, dass sich eine Kortikoidtherapie gegen eine Entzündungskrankheit, aus welchem Grund auch immer, auf das Immunsystem auswirkt und man anfälliger wird. Und wir wissen auch, dass die Menschen, die auf den Intensivstationen landen oder sogar sterben, überproportional oft vor allem Menschen mit Diabetes und Bluthochdruck sind.
Ob das nur eine Folge des Alters ist oder ob es wirklich bedeutet, dass man, wenn man Diabetes hat, schwerer erkrankt, ist meines Erachtens noch nicht geklärt.
Medscape: Sie betonen, dass Patienten mit einer Kortikoidtherapie besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Warum gerade diese Gruppe?
Prof. Stewart: Es lohnt sich wahrscheinlich, hier zwei Gruppen zu unterscheiden. Es gibt Menschen, die wir aus unserer eigenen Praxis als Endokrinologen kennen, die Probleme haben, weil sie selbst keine Steroidhormone synthetisieren können. In der Regel liegt das an einer Nebennierenerkrankung.
Wir kennen diese Erkrankungen und substituieren die Steroide, so ähnlich, wie wir bei einem Typ-1-Diabetiker das Insulin ersetzen. Und die Patienten wissen, dass, wenn sie sich unwohl fühlen und krank werden, die körpereigene Anhebung des Steroidniveaus zu den normalen Reaktionen auf eine aufkommende Infektion und zu deren Überwindung gehört. Natürlich können diese Patienten das von sich aus nicht, aber sie wissen, dass sie im Falle einer akuten Infektion etwas mehr Steroide substituieren müssen.
Die Gruppe, die uns jedoch Sorgen bereitet, und die prozentual gesehen auch viel größer ist –wahrscheinlich bis zu 5% der Risikopatienten – sind Personen, die wegen Asthma, entzündlichen Darmerkrankungen oder rheumatologischen Erkrankungen höhere Steroiddosen einnehmen, um ihre Grunderkrankungen zu behandeln.
Und wir wissen, dass bei bis zu 50% dieser Patienten die Funktion der eigenen Nebennieren unterdrückt wird. Wenn sie also genug Steroide für ihr tägliches Leben erhalten haben – und oft auch mehr als genug –, können sie keine normale Immunantwort auf eine zusätzliche Infektion initiieren.
Um diese Patienten müssen wir uns Gedanken machen, denn sie stehen dann nicht unter der Obhut von Endokrinologen, sondern werden von anderen Ärzten behandelt. Aber auf den Intensivstationen kann es immer mal zu Situationen kommen, wo eine Abdeckung mit Steroiden erforderlich ist.
Medscape: Wie hat sich die Unterbrechung des Kontakts zwischen Arzt und Patient während des COVID-19-Lockdowns bisher auf diese Gruppen ausgewirkt?
Prof. Stewart: Wenn man dies unter dem Gesichtspunkt der Prävention betrachtet, ließe sich eine Verschlechterung ihrer Situation verhindern, wenn es, wie wir im Leitartikel schreiben, eine Art von „Regeln im Krankheitsfall“ gäbe und die Patienten ihre Steroiddosierungen erhöhen könnten. Doch wird es zu solchen Maßnahmen wohl nicht kommen, weil natürlich COVID-19-Patienten gerade überall Vorrang haben.
Ich denke, die Reaktionen müssen wie in Leeds auf den Intensivstationen erfolgen, wo Patienten, die länger als 3 Monate Steroide eingenommen haben, als Hochrisikopatienten gelten. Und Sie müssen immer die Möglichkeit im Hinterkopf behalten, dass die Patienten möglicherweise zusätzlich Steroide benötigen. Aber nicht um gegen COVID-19 etwas auszurichten, denn soweit wir wissen, bringt das nichts, sondern um das zugrunde liegende Problem an den Nebennieren zu behandeln, das die Steroidgabe erforderlich macht.
Wenn man auf Patienten trifft, die in den zurückliegenden 3 Monaten eine Steroidtherapie erhalten haben, müssen sie hinsichtlich des Fortschreitens ihrer Krankheit als „Risikopersonen“ eingestuft werden, bei denen die Schwelle für eine zusätzliche Steroidgabe recht niedrig angesetzt werden sollte, da sie lebensrettend sein könnte. Das ist hier mein Anliegen.“
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Kortikosteroid-Gabe ein Risikofaktor bei COVID-19: Was es bei diesen Patienten zu beachten gilt - Medscape - 28. Apr 2020.
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