Eine einzige Dosis Tetra-Hydro-Cannabinol (THC), die ungefähr einem Joint mit Marihuana entspricht, kann bei gesunden Erwachsenen ohne schwere psychische Erkrankungen in der Vorgeschichte eine Psychose und auch andere psychiatrische Symptome auslösen. Dies zeigen die Ergebnisse einer neuen Metaanalyse, die in Lancet Psychiatry veröffentlicht wurde [1]. Die Studie zeigt für diese Symptome, die selbst bei niedrigen Dosen der psychoaktiven Cannabiskomponente THC induziert wurden, eine hohe Effektstärke.
Eine einmalige THC-Exposition könne demnach selbst Gesunde anfälliger für psychotische und andere psychiatrische Symptome machen, sagt der Leiter der Studie Dr. Oliver D. Howes, Professor für Molekularpsychiatrie am Kings College in London, Großbritannien, gegenüber Medscape.
„Als Kliniker müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass der medizinische Einsatz von Cannabis das Risiko birgt, selbst bei nicht vulnerablen Menschen psychiatrische Symptome hervorzurufen. Dies muss bei der Indikationsstellung und dem Monitoring berücksichtigt werden“, sagt er. „Das soll nicht heißen, dass wir Cannabis nicht dort einsetzen sollten, wo es ausreichende Evidenzen für seinen Nutzen gibt. Aber wir sollten diesen Punkt stets im Auge behalten“, fügt er hinzu.
Selbst wenn diese Symptome nur von kurzer Dauer seien, müssten sich die Menschen über ihr mögliches Auftreten im Klaren sein, weil sie belastend sein könnten und das Urteilsvermögen und das Verhalten beeinflussen.
Der Review vermochte erstaunlicherweise keine Evidenzen dafür zu liefern, dass die gleichzeitige Gabe von Cannabidiol (CBD), einem weiteren Bestandteil von Cannabis, die THC-bedingten psychiatrischen Symptome lindern konnte.
„Das widerspricht einigen der gängigen Empfehlungen, nach denen eine Steigerung der CBD-Menge im Cannabis die THC-Wirkung abmildern kann. Man sieht hier meines Erachtens, dass mehr geforscht werden muss, um zu einem abschließenden Urteil darüber zu gelangen, ob CBD hilfreich ist oder nicht“, sagt Howes.
Psychotischer Symptome Ursache oder Folge des Cannabis-Konsums?
Cannabis gehört zu den weltweit am häufigsten konsumierten psychoaktiven Substanzen. In den USA konsumieren Schätzungen zufolge jährlich mehr als 15% der Bevölkerung Cannabis. In Deutschland haben 42% der Erwachsenen schon einmal Cannabis konsumiert. Knapp über 7% der Erwachsenen haben es 2018 mindestens einmal genommen. Zudem gibt es einen weltweiten Trend zur Entkriminalisierung und Legalisierung.
Aktuell ist der Freizeitkonsum von Cannabis in Kanada, Uruguay sowie in 11 US-Bundesstaaten legal. Der alleinige Konsum von Cannabis ohne Besitz ist – wie auch von Betäubungsmitteln allgemein – nebenbei bemerkt in Deutschland noch nie strafbar gewesen.
Bisherige Forschungen zu den THC-Folgen bei gesunden Probanden kamen zu keinen eindeutigen Ergebnissen. Das Ziel der aktuellen Analyse war es, die THC-Wirkung allein und in Kombination mit Cannabidiol (CBD) im Vergleich zu Placebo hinsichtlich der psychiatrischen Symptome bei Gesunden zu untersuchen.
„Es gibt zwar eine Menge Evidenzen dafür, dass Cannabis das Risiko psychotischer Symptome erhöht, aber die große Frage war, ob dies auf die Inhaltsstoffe des Cannabis zurückzuführen ist oder ob Menschen, die bereits Symptome hatten oder vulnerabel waren, Cannabis konsumierten, um damit fertig zu werden. Wir wussten einfach nicht, was Ursache und was Wirkung war“, erläutert Howes.
Die Metaanalyse umfasste 15 Studien zur akuten THC-Einnahme und 4 zu THC plus CBD. Mitberücksichtigt wurden auch Studien, bei denen Symptome mithilfe der Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS) und der Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS) nach der akuten i.v.-, oralen oder nasalen THC-, CBD- und Placebo-Aufnahme festgehalten wurden.
Diese Bewertungsskalen messen Veränderungen schizophrener Symptome. Untersucht wurde die allgemeine Psychopathologie (z.B. depressive und Angstsymptome, kognitive Beeinträchtigungen) sowie Plus- und Minussymtome. Als Plus- bzw. Positivsymptome gelten dabei psychotische Symptome wie Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Minus- bzw. Negativsymptome sind etwa stumpfer Affekt, Anhedonie und Amotivation.
In den analysierten Studien wurden THC-Dosierungen zwischen 1,25 mg und 10 mg betrachtet, was zu THC-Serumpeaks von 4,56 bis 5,1 ng/ml nach oraler Zufuhr und 110 bis 397 ng/ml nach i.v.-Gabe oder Inhalation führte. Howes merkt an, dass die in den Studien erreichten Dosierungen „so angelegt waren, dass sie den THC-Mengen beim Rauchen eines typischen Joints entsprachen“. Bei allen Teilnehmern wurden durch Anamnese und Untersuchung psychische Vorerkrankungen, Vulnerabilitäten und somatische Störungen ausgeschlossen.
Keine protektive Wirkung durch CBD
Im Vergleich zu Placebo erhöhte THC signifikant den Schweregrad psychiatrischer Symptome insgesamt mit hoher Effektstärke (standardized mean change, SMC: 1,10; 95%-Konfidenzintervall: 0,92–1,28; p < 0,0001) sowie den Schweregrad der Plus- oder Positivsymptomatik (SMC: 0,91; 95%-KI: 0,68–1,14; p < 0,0001) und der Minus- oder Negativsymptomatik (SMC: 0,78; 95%-KI: 0,59–0,97; p < 0,0001).
„Was mich überraschte, war, dass der Effekt bei allen psychiatrischen Symptomen recht ähnlich aussah“, sagt Howes. Es gab keine eindeutigen Evidenzen für einen dosisabhängigen Zusammenhang. Dies sei jedoch kein „sehr solider Befund“, da die Dosierungen je nach Darreichungsform variierten, wobei höhere oral verabreichte Dosen zu „einem veränderten Aufnahmeprofil“ führten, berichtet Howes.
Das mittlere Alter der Probanden in den verschiedenen Studien reichte von Anfang 20 bis Ende 20. Nach der Analyse hat das Alter keinen Einfluss auf psychotische Symptome, doch sah man bei höheren Altersgruppen eine höhere Anfälligkeit für Minussymptome wie sozialen Rückzug und fehlenden Antrieb.
Obwohl der Bericht keine Aussagen über das Risiko von THC für Personen mit einer Disposition für psychiatrische Erkrankungen erlaubt, ist es doch wahrscheinlich, dass solche Patienten „mindestens genauso empfindlich reagieren, möglicherweise auch stärker“ als die gesunden Probanden in den Untersuchungen, sagt Howes.
Darüber hinaus fanden die Untersucher keine Evidenzen dafür, dass CBD die psychotischen Auswirkungen von THC abmilderten. Es gab zwar eine kleine Studie, nach der sich die THC-induzierten Plussymptome durch CBD signifikant verringerten, doch ließ sich dieses Ergebnis in 3 größeren Studien nicht wiederholen. „Insgesamt muss man wohl sagen, dass es keine klaren Evidenzen dafür gibt, dass CBD vor der THC-Wirkung schützt“, resümiert Howes.
Schließlich stellten die Forscher einen negativen Zusammenhang zwischen Tabakrauchen und Plussymptomen, die durch THC induziert werden, fest (p = 0,019). Sie merken jedoch zugleich an, dass dieses Ergebnis in weiteren Arbeiten bestätigt werden müsste, und dass er keinesfalls als Empfehlung für die Verwendung von Tabak zur Bekämpfung der THC-Wirkung verstanden werden dürfe.
„Wichtig und beunruhigend“
Dr. Petros Levounis, Professor und Vorsitzender der Abteilung für Psychiatrie der Rutgers New Jersey Medical School, Newark, USA, hält die Ergebnisse in seinem Kommentar für Medscape für „sehr stark und konsistent. Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag zur bestehenden Literatur“. Wie bei Alkohol, Kokain und anderen Drogen sei es wichtig zu wissen, was bei der THC-Einnahme zu erwarten ist, sodass die Daten aus dem Review klinisch nützlich seien, sagt er. „Wir verfügen damit über sehr gute Evidenzen dafür, dass eine Cannabisvergiftung kurzfristig zu einer signifikanten Psychose führt, was eine wichtige Erkenntnis ist“, erklärt Levounis.
Er wird nun seinen Patienten, die Marihuana konsumieren, erklären, dass sie nach Cannabiskonsum mit psychotischen Symptomen rechnen müssen. „Diese Information ist wegen möglicher Unfälle und der Schwierigkeiten, in die man geraten kann, wenn man in dieser Phase schwer paranoid wird, sehr wichtig. Das gilt vor allem heutzutage, wo die THC-Konzentrationen der Cannabisprodukte sehr hoch sind“, sagt Levounis.
Allerdings, warnte Levounis, sage der Review nichts über das langfristige Psychos-Risiko von THC aus. Und die Ergebnisse, dass CBD keine antipsychotischen Eigenschaften habe, kämen „etwas überraschend“, da dies „eine sehr weit verbreitete Vorstellung“ sei.
In einem begleitenden Editorial strichen Dr. Carsten Hjorthøj und Dr. Christine Merrild Posselt, vom Copenhagen Research Center for Mental Health der Kopenhagener Unikliniken den Umstand heraus, dass selbst niedrige THC-Dosen psychotische Symptome hervorrufen können. Dies sei „äußerst wichtig und beunruhigend“, da die Dosierungen denen von medizinischem Cannabis ähnlich seien. Sie fügten jedoch hinzu, dass dies nicht bedeute, dass einzelne THC-Dosen „letztlich zur Schizophrenie oder zu anderen schweren Störungen führen werden“.
Die Feststellung, dass es keine eindeutigen Evidenzen dafür gebe, dass die gleichzeitige Verabreichung von CBD die durch THC verursachten Symptome reduziert, „ist erstaunlich“, da CBD „als potenzielle Wunderdroge mit antipsychotischen, anxiolytischen und anderen Eigenschaften angepriesen wird“, schreiben sie.
„Obwohl es durchaus möglich ist, dass sich für CBD einige therapeutische Anwendungen ergeben (wenn randomisierte Studien durchgeführt wurden), stützt dies die Vermutung, dass viele der ersten Berichte und Meldungen zur Nützlichkeit sowohl von reinem CBD als auch von Ganzpflanzenextrakten von Cannabis im Vergleich zu dem, was in der klinischen Praxis zu erwarten ist, etwas übertrieben waren“, so die Autoren weiter.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Einmal kann einmal zu viel sein: Schon nach dem ersten Joint können psychotische Symptome auftreten - Medscape - 27. Apr 2020.
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