Etliche COVID-19-Fallberichte nähren den Verdacht, dass es sich bei der Infektion um deutlich mehr als eine Atemwegserkrankung handeln könnte. Obwohl bisher kein kausaler Zusammenhang bekannt ist, spielen bei COVID-19-Patienten und vor allem Personen mit Vorerkrankungen folgende Beschwerden eine Rolle: Herzkrankheiten, akute Leberschädigungen, anhaltende gastrointestinale Störungen, Hautmanifestationen und neurologische Störungen.
Dr. Julie Helms von der Université de Strasbourg und Kollegen beschreiben jetzt für 58 Patienten, die mit akuter Atemnot ins Krankenhaus eingeliefert wurden, eine Enzephalopathie mit Unruhe, Verwirrtheit und Pyramidenbahnzeichen. Ihr Bericht ist im New England Journal of Medicine veröffentlicht worden [1].
Nierenschäden eine häufige Komplikation
Auch in der Yale-New-Haven-Klinik im US-Bundesstaat Conneticut lassen sich überraschende Komplikationen aus nächster Nähe beobachten. Fast die Hälfte der Betten dort ist mit COVID-19-Patienten belegt. Auf der Intensivstation befinden sich über 100 Personen, von denen knapp 70 intubiert sind. Von den bisher mehr als 750 COVID-19-Einweisungen konnten erst rund 350 entlassen werden. „Selbst in einer schlimmen Grippesaison sieht man so etwas nie. Es ist uns in dieser Form völlig unbekannt“, sagte Prof. Dr. Harlan Krumholz, ein Kardiologe aus Yale, der die Versorgung dort leitet.
„Bei vielen Patienten, die auf Intensivstationen kommen, sehen wir akute Nierenschäden. Viele haben auch endokrine Probleme, entgleiste Blutzuckerspiegel, Gerinnungsstörungen und Embolien. Wir entdecken und erkennen erst, in welch vielfältiger Weise dieses Virus den Menschen befallen kann. Unsere Unwissenheit ist enorm“, so Krumholz, aber die Wissenschaft erkenne langsam, „dass dieses Ding fast jedes einzelne Organsystem anzugreifen vermag, und dabei können Atemwegssymptome auftreten – oder auch nicht“.
Ganz ähnliche Erfahrungen werden im Mount Sinai South Nassau im New Yorker Stadtteil Oceanside gemacht. „Wir sehen viele Nierenschädigungen bei Patienten mit Komplikationen und viele Fälle mit akuter Dialyse“, aber es sei unklar, wie viel davon auf das Konto des Virus gehe und wie viel einfach auf die Vorerkrankungen der Menschen, sagt Prof. Dr. Aaron Glatt. Der Infektiologe ist medizinischer Leiter der Klinik. Er sagt aber auch, dass es bei ihnen besser aussähe als in Yale.
„Die Erkrankungszahlen steigen nicht mehr im gleichen Maße wie zuvor, und es kommt auch zunehmend zu Extubationen und Entlassungen. Wir haben eine Reihe von Patienten mit der Plasmatherapie behandelt, und wir hoffen, dass dies hilfreich ist. Wir haben auch ein gewisses Ansprechen auf das Immunsuppressivum Tocilizumab (Actemra®) beobachtet, und eine sehr gute Response auf sorgfältig angewendete Beatmungstherapien. Ich denke, wir sehen ein Abflachen der Kurve“, ergänzt Glatt.
Auf der Suche nach bislang unbekannten Symptomen
Das wachsende Bewusstsein für unbekannte Manifestationsformen bei COVID-19 zeigt sich auch bei Medscape Consult . Auf unserer US-Plattform können Ärzte und Medizinstudenten Informationen austauschen und um Rat und Hilfe ersuchen. Seit Januar gab es hier über 200 Threads zum Thema COVID-19.
Anfänglich ging es dabei noch meist um das typische klinische Bild der Atemwegsbeteiligung, aber in letzter Zeit verlagert sich der Schwerpunkt auf nicht respiratorische Themen. Viele Ärzte wollen wissen, ob das, was sie sehen, mit dem Virus zusammenhängt, und ob andere Kliniker vielleicht dieselben Beobachtungen machen.
In einer Fallbeschreibung geht es um einen 37-jährigen Mann mit Magenschmerzen, Erbrechen und Durchfall, ohne respiratorische Symptomatik, aber mit einem positiven Test auf SARS-CoV-2. Das Thorax-CT, das gleichzeitig mit dem Abdominal-CT durchgeführt worden war, ließ eine signifikante beidseitige Lungenbeteiligung erkennen.
Eine 69-jährige Frau mit einer Laparotomie in der Anamnese und einem neu aufgetretenen Subileus hatte bei der anschließenden explorativen Re-Laparotomie nur einige Adhäsionen aufzuweisen, ansonsten ging es ihr gut. Doch plötzlich erlitt sie eine Ateminsuffizienz, wurde zunehmend bradykard und starb 3 Tage später. Eine Aspirationspneumonie, eine Lungenembolie und ein Myokardinfarkt konnten ausgeschlossen werden. „Das Muster des kardiovaskulären Versagens sprach für eine Myokarditis, aber wir haben keinen anderen Anhaltspunkt“, sagte der Arzt, der von einem weiteren ähnlich gelagerten Fall zu berichten wusste.
Ein anderer Arzt erzählt in dem Forum von erhöhten Herz-Enzymen ohne Anzeichen eines Koronarverschlusses bei einem positiv getesteten Patienten, der einen Schock bei einer Ejektionsfraktion von 40 % erlitt und eine deutliche Herzwandverdickung aufwies, aber keine Lungenbeteiligung. Es gab auch 2 Fälle einer idiopathischen Thrombozytopenie ohne Fieber oder Hypoxie.
Ein italienischer Gastroenterologe aus Verona empfiehlt den Kollegen: „Halten Sie nach ungewöhnlichen Symptomen Ausschau.“ Man sollte zudem die Anamnese um Fragen nach einer plötzlichen Dysgeusie und/oder Anosmie erweitern. „Diese Symptome sind zu meiner diagnostischen Richtschnur geworden“, heißt es weiter. „Den meisten Patienten wird zudem übel und nichts schmeckt mehr gut. Wenn ich solche Angaben in der Anamnese finde, ist der Patient mit Sicherheit positiv für das Corona-Virus.“
Auch bei SARS war nicht nur die Lunge beteiligt
An diesen und anderen Berichten bestand in dem Forum reges Interesse, ebenso an den Kommentaren von Ärzten, die Theorien darüber haben, was durch das Virus verursacht wird und was nicht, aber auch keine sicheren Antworten darauf wissen.
Wahrscheinlich spiele bei all den Symptomen eine direkte Viruswirkung eine Rolle, sagte Prof. Dr. Stanley Perlman, Mikrobiologe und Immunologie an der Universität von Iowa, Iowa City.
Den ACE2-Rezeptor, über den das Virus in die Zellen eindringt, gibt es in vielen Organen. Außerdem fanden sich im Rahmen der SARS-Pandemie vor fast 20 Jahren ebenfalls extrapulmonale Manifestationen. Zumindest bei SARS seien „bei den Autopsien der Opfer viele Organe infiziert gewesen“, sagte Perlman.
Die Entzündungsreaktion des Körpers spielt mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls eine gewichtige Rolle. Progressive Abweichungen von Entzündungsmarkern wie dem CRP, dem D-Dimer oder dem Ferritin korrelieren mit einer schlechteren Prognose, und „der Zytokinsturm, der bei diesen Patienten auftritt, kann mit einer Enzephalopathie, Myokarditis, Leber- und Nierenschädigung verbunden sein – mit anderen Worten mit einem Multiorgan-Dysfunktionssyndrom“, erklärt Prof. Dr. William Shaffner. Er ist Präventionsmediziner und Infektiologe am Vanderbilt University Medical Center in Nashville, Tennessee.
Nicht immer ist SARS-CoV-2 die Erklärung für Symptome
Aber in manchen Fällen ist das Virus wohl auch einfach nur ein „Bystander“ bei einem Krankheitsprozess, mit dem es eigentlich nichts zu tun hat. In wieder anderen Fällen können auch die eingesetzten experimentellen Behandlungen Probleme verursachen. Tatsächlich wurde aus den Reihen der Kardiologie kürzlich vor Torsade-de-pointes-Tachykardien gewarnt, einer gefährlichen Herzrhythmusstörung, die etwa durch Hydroxychloroquin und Azithromycin auftreten kann.
„Wir glauben, dass es sich um eine Kombination aus diesen Faktoren handelt, aber wir wissen es nicht wirklich“, sagt Krumholz. Und in der Zwischenzeit „sind wir gezwungen, Patienten nach unserem klinischen Eindruck und den herrschenden Prinzipien zu behandeln“, und die Spätfolgen seien unbekannt. „In dieser Situation sollten wir uns nicht allzu lange befinden.“
Um das Beste für die Patienten zu erreichen, „müssen wir uns alle die Hände reichen und verbünden, damit wir schnell voneinander lernen können“, wünscht sich Krumholz. „Unsere Aufgabe ist es, uns sowohl um unsere Patienten zu kümmern als auch sicherzustellen, dass die, die wir nicht retten konnten, nicht umsonst gestorben sind, dass die Erfahrungen, die sie gemacht haben, unseren Erfahrungs- und Wissensschatz vergrößern, damit der nächste Patient hoffentlich besser dran ist.“
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
Medscape Nachrichten © 2020 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Mehr als eine Atemwegserkrankung – COVID-19 ist nicht nur mit Pneumonien, sondern auch anderen Organschäden assoziiert - Medscape - 21. Apr 2020.
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