The Conversation, ein Netzwerk gemeinnütziger Medien, das Nachrichten von Forschern veröffentlicht, hat britische Experten gebeten, diverse Exit-Strategien aus wissenschaftlichem Blickwinkel zu bewerten. Was dabei herauskam, waren Vorschläge wie eine „Stop-and-Go“-Option mit Sperren, die sich mit Lockerungen abwechseln. Sie fordern dafür aber eine „international koordinierte Planung“.
Aber genau daran hapert es – und zwar nicht nur International, sondern sogar national in Deutschland, wo die ersten Lockerungen aufgrund der COVID-19-Pandemie seit dieser Woche greifen: Viele Geschäfte dürfen öffnen, und Schulbesuche werden – zunächst für Abschlussklassen – wieder möglich.
Die Maßnahmen unterscheiden sich jedoch von Bundesland zu Bundesland erheblich. Einerseits gibt es Lockerungen, andererseits müssen Sachsens (und künftig auch Bayerns) Bürger nun in Bussen, Bahnen und Geschäften Masken tragen; auch Mecklenburg-Vorpommern schreibt dies ab dem 27. April in öffentlichen Verkehrsmitteln und Taxis vor.
Die Strategien – zum einen einer Lockerung in manchen Bereichen, aber auch einer Verschärfung (Maskenpflicht) in anderen – hat politisch, aber auch wissenschaftlich, geteiltes Echo hervorgerufen. Wo bleibt die Evidenz dafür, lautet eine Frage, die die neue Veröffentlichung nun unter anderem thematisiert.
Andere Länder, andere Strategien
Auch die europäischen Nachbarn schlagen zum Teil unterschiedliche Wege ein:
Lockerungen gibt es ebenfalls in Österreich.
Dagegen geht in Frankreich der Lockdown mindestens bis zum 11. Mai weiter, und Schutzmasken sind generell zu tragen. Das gab Staatspräsident Emmanuel Macron in einer TV-Ansprache bekannt.
Auch Spanien verlängert solche Einschränkungen. Lockerungen stellte Ministerpräsident Pedro Sánchez erst zum 11. Mai in Aussicht.
Italien hat die Ausgangssperre bis zum 3. Mai verlängert. Schweden aber bleibt bei seinem laxen Kurs ohne tiefgreifende Restriktionen – und setzt auf eine kontrollierte Durchseuchung der Bevölkerung.
Prof. Dr. Anders Tegnell, er arbeitet als Epidemiologe in staatlichem Auftrag, gibt sich optimistisch. Er rechne noch im Mai mit einer Herdenimmunität in Stockholm, sagte er schwedischen Medien, sieht aber auch Handlungsbedarf: „Wir müssen darüber nachdenken, was wir noch tun können, um ältere Menschen besser zu schützen als bisher.“ Denn die Sterblichkeit in schwedischen Alten- und Pflegeheimen ist hoch.
Kritik am schwedischen Weg kommt von Prof. Dr. Cecilia Söderberg-Nauclér, Virologin am Karolinska-Institut in Stockholm: „Was jetzt passiert, ist ein gefährliches Experiment. In Schweden und insbesondere in der Gegend um Stockholm kann es zu einer sehr ernsten Situation kommen“, warnt sie. Immerhin will die schwedische Regierung mehr Patienten mit Verdacht auf eine SARS-CoV-2-Infektion testen.
Für Kanzleramtschef Helge Braun ist die schwedische Herangehensweise über eine Herdenimmunität keine mögliche Option: „Um nur die Hälfte der deutschen Bevölkerung in 18 Monaten zu immunisieren, müssten sich jeden Tag 73.000 Menschen mit Corona infizieren“, erklärte er in einer Pressekonferenz. „So hohe Zahlen würde unser Gesundheitssystem nicht verkraften und könnten auch von den Gesundheitsämtern nicht nachverfolgt werden. Die Epidemie würde uns entgleiten.“
Offene Fragen zur Immunität
„Es ist noch zu früh, wir wissen noch nicht, ob Menschen nach COVID-19-Infektionen tatsächlich eine anhaltende schützende Immunität entwickelt haben“, meint Dr. Zania Stamataki von der University of Birmingham im Statement der Wissenschaftler. „Bis zum Abschluss der entsprechenden Studien müssen wir alle Vorsichtsmaßnahmen treffen, auch um eine erneute Exposition bereits Genesener zu vermeiden.“ Vom Dengue-Virus sei beispielsweise bekannt, dass eine erneute Infektion zu schwereren Erkrankungen führe. Ob dies auf SARS-CoV-2 zutreffe, wisse man eben noch nicht.
Stamataki: „Deshalb ist es wichtig, sorgfältig zu planen, wie Menschen mit einem hohen Risiko für schwerwiegende Komplikationen geschützt werden können.“ Sie schlägt vor, die in Großbritannien etablierten frühen Einkaufszeiten für ältere Menschen beizubehalten und solche Maßnahmen auf andere Risikogruppen, etwa Menschen mit Vorerkrankungen, auszudehnen.
In Deutschland gab es ähnliche Ideen auf regionaler Basis. Beispielsweise hat ein Supermarkt in Mühlheim an der Ruhr die frühen Öffnungszeiten für ältere Menschen und Personen mit Vorerkrankungen reserviert, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren. Daraufhin wurden Angestellte beleidigt und der Filialleiter bedroht. Er stellte die Sonderregelungen kurz darauf wieder ein.
Stop and Go statt Warten auf dem Impfstoff
Auch Prof. Dr. Beatrice Heuser von der University of Glasgow zweifelt an den aktuellen Maßnahmen. Europaweit hätten sich einige Länder entschieden, nur Bars und Restaurants weiterhin zu schließen, Großveranstaltungen zu verbieten und den Tourismus zu unterbinden. Massentests, Schutzmasken und die Isolierung Infizierter seien ebenfalls weit verbreitete Strategien.
Aus Sicht von Heuser sei es sinnvoll, den Lockdown so lange fortzusetzen, bis es einen Impfstoff oder einen Arzneistoff gebe – sprich jetzt nicht die Maßnahmen sukzessive zurückzufahren. Perspektivisch bleibe aber noch „eine Stop-and-Go-Option mit neuerlichen Sperren, die sich mit Lockerungen abwechseln“. Hinsichtlich solcher Folgemaßnahmen fordert die Expertin eine „international koordinierte Planung“.
Diese Einschätzung bestätigt Prof. Dr. David Hunter von der Oxford University. Er kann sich vorstellen, Einschränkungen „schrittweise und möglicherweise reversibel“ zu lockern – und Berufe hinsichtlich ihrer Relevanz für die Gesellschaft unterschiedlich zu behandeln. Das heißt, nicht jeder Betrieb darf sofort seine Arbeit aufnehmen. Hunter: „Diese Schritte werden zu Kontroversen führen, Gewinner und Verlierer hervorbringen und den sozialen Zusammenhalt gefährden.“ Darauf müssten Regierungen vorbereitet sein.
Derartige Entscheidungen würde Prof. Dr. Jonathan Ball, University of Nottingham, lieber auf Basis einer Triage treffen. Wer nicht zu den bekannten Risikogruppen gehöre, dürfe eben früher in den Job. Um wissenschaftliche Grundlagen für generelle Lockerungen zu haben, sieht Ball jedoch nur PCR-Tests in großem Umfang. Überraschenderweise erwähnt er an dieser Stelle keine Tests auf Antikörper im Blut, wie sie gerade in Deutschland durchgeführt werden.
Vorschlag aus der Wissenschaft: „Rote“ und „grüne“ Zonen statt landesweiter Lockerungen
Es gibt aber noch weitere Denkanstöße: Auf der Basis mathematischer Simulationen haben Prof. Dr. Miquel Oliu-Barton, Université Paris Dauphine, und Prof. Dr. Bary S. R. Pradelski, University of Oxford, ein Modell entwickelt, das sich deutlich von europäischen Szenarien unterschiedet. In einem Artikel bei The Conversation stellen auch sie klar, Herdenimmunität sei keine Lösung. Und man brauche jetzt Szenarien, denn bis zur Verfügbarkeit von Impfstoffen könnten noch Monate vergehen.
Ihr Modell sieht vor, mit klar abgegrenzten Verwaltungseinheiten zu arbeiten, etwa Städten oder Landkreisen. Auch hier sind unzählige PCR-Tests Teil des Programms. Hier existieren „rote“ Regionen mit vielen SARS-CoV-2-Neuinfektionen bzw. aktiven Infektionen und „grüne“ Gebiete mit sehr geringen Fallzahlen. Auf dieser Basis könnten Behörden in „grünen“ Gebieten den Lockdown stärker aufweichen. Man darf wieder zur Arbeit, zum Einkaufen oder ins Restaurant – allerdings nur im jeweiligen Gebiet. Die eigene Zone zu verlassen, wäre verboten.
Gelingt es einem „roten“ Nachbargebiet, den „grünen“ Status zu erreichen, könnten beide zusammen eine größere „grüne“ Zone bilden, und der Aktionsradius von Menschen würde ausgeweitet. „Rote“ Zonen wiederum blieben so lange isoliert, bis sich der Status in Grün ändert.
Oliu-Barton und Pradelski sehen in ihrem Konzept einen Vorteil: Verglichen mit flächendeckenden Lockerungen sei das Risiko, später zurückzurudern und neuerliche Einschränkungen durchzusetzen, geringer.
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Diesen Artikel so zitieren: Wie rasch aus dem Shutdown? Wissenschaftler bewerten verschiedene Exit-Strategien und machen Vorschläge - Medscape - 21. Apr 2020.
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