Verfassungswidrig! Bundesländer entmachtet? Gutachten und Experten kritisieren die Novelle des Infektionsschutzgesetzes

Christian Beneker

Interessenkonflikte

15. April 2020

Ist die eben beschlossene Novelle des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) verfassungsrechtlich wasserdicht? [1] Zweifel daran sät jetzt eine Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes (WD) des Bundestages [2].

Im Auftrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag hat der Dienst in der Ausarbeitung WD 3 3000-080/20 vor allem die Änderung des § 5 IfSG unter die Lupe genommen. Der Paragraf ermächtigt das Bundesgesundheitsministerium (BMG), Anordnungen und Rechtsverordnungen zu erlassen, die möglicherweise in die Kompetenzverteilung von Bund und Ländern eingreifen. Diese Verteilung ist aber von § 80 des Grundgesetzes (GG) geschützt. Die Ausarbeitung des WD zitiert eine Reihe von Rechtswissenschaftlern, die die Kritik des WD teilen.

 
Wir haben das Gesetz zwar mitgetragen, haben aber verfassungsrechtliche Bedenken. Katja Keul
 

„Wir haben das Gesetz zwar mitgetragen, haben aber verfassungsrechtliche Bedenken“, sagt Katja Keul zu Medscape, rechtspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag. Immerhin habe man durchsetzen können, dass der Bundestag und nicht allein die Bundesregierung den Epidemiefall feststellen und auch wieder aufheben kann. Außerdem hätten die Grünen für eine generelle Befristung des Gesetzes auf ein Jahr gesorgt, so Keul.

Tatsächlich sieht der neue § 5 Abs. 2 IfSG im Fall einer „epidemischen Lage nationaler Tragweite“ zum Beispiel vor, dass das Bundesgesundheitsministerium „unbeschadet der Befugnisse der Länder ermächtigt“ wird, Personen, die nach Deutschland einreisen, zu einer ärztlichen Untersuchung zu zwingen. Auch soll es ohne Zustimmung des Bundesrates Schritte unternehmen dürfen, die Arzneimittelversorgung sicherzustellen oder „zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung“ in die Arbeit von Praxen, Apotheken, Labors oder Reha-Einrichtungen einzugreifen, und zwar auch „in Abweichung von bestehenden gesetzlichen Vorgaben“.

Bundesländer ohne Rechte?

Die Kritik der Grünen an den Regelungen ist grundsätzlicher Art: Die an das BMG vom Gesetzgeber delegierten Befugnisse seien „weder klar umrissen noch zeitlich begrenzt“, heißt es. Das Gesetz sei mit heißer Nadel genäht.

„§5 Abs. 2 ist einfach schlecht gemacht“, erklärt Keul. „Da wird geregelt, dass der Gesundheitsminister in bestimmten Fällen Länderkompetenzen an sich ziehen kann – und zwar unbeschadet der Rechte der Länder. Es ist völlig unklar, was damit gemeint ist. Denn entweder bleibt man dabei, dass die Länder zuständig sind, dann braucht man die Neuregelung nicht. Oder man ignoriert die Zuständigkeit der Länder – dann ist es verfassungsrechtlich nicht tragbar.“

 
Dass ein einzelnes Ministerium und nicht die Bundesregierung als Kollegialorgan ermächtigt wird, macht die Sache sogar noch bedenklicher. Prof. Dr. Pierre Tielbörger und Benedikt Behlert
 

Tatsächlich schlägt das Gutachten des WD in dieselbe Kerbe. Die Ermächtigungen nach § 5 Abs. 2 IfSG seien „erheblich problematisch.“ Der § 5 Abs. 2 berühre mit den „Abläufen“ im Gesundheitswesen, die die „Versorgung der Bevölkerung aufrechterhalten“ sollen, die meisten der 77 Paragrafen des IfSG, so das Gutachten. Damit werde die Exekutive ermächtigt, von einer unüberschaubaren Zahl von gesetzlichen Vorschriften des IfSG abzuweichen.

Der WD beklagt auch bei den neuen Rechten des BMG in der pflegerischen Versorgung „Grundrechtseingriffe“, wie etwa durch das Aussetzen von Betreuungs- und Pflegemaßnahmen. Hier sei das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit berührt.

Der WD zitiert schließlich eine Reihe von Verfassungsrechtlern, die die Position des Gutachtens bestätigen und bemängeln, die Ermächtigungen des BMG im IfSG widersprächen Art 80 des Grundgesetzes (GG). Dort steht unter anderem, dass solche Ermächtigungen nur unter Angabe von ihrem „Inhalt, Zweck und Ausmaß“ erlassen werden dürfen. Eben dies treffe beim IfSG nicht zu.

 
Der Notfall, den es zu bekämpfen gilt, bedarf der Überprüfung; die Maßnahmen, die er rechtfertigen soll, umso mehr. Prof. Dr. Christoph Möllers
 

So schreiben zum Beispiel Prof. Dr. Pierre Tielbörger und Benedikt Behlert von der Universität Bochum im „Verfassungsblog“: „Gem. § 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG-E soll das Bundesministerium für Gesundheit nun ‚durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates‘ Ausnahmen zu Vorschriften des IfSG zulassen können. Das ist mit den Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 GG schlichtweg nicht zu vereinbaren. Dass ein einzelnes Ministerium und nicht die Bundesregierung als Kollegialorgan ermächtigt wird, macht die Sache sogar noch bedenklicher.“

Man dürfe in der Not „nicht zu kleinkariert mit der Bewertung politischer Entscheidungen umgehen“, meint zwar Prof. Dr. Christoph Möllers von der Humboldt-Universität Berlin. Im IfSG würden aber nicht einfach einzelne Regeln außer Kraft gesetzt, sondern große, nicht abgegrenzte Teile des Gesetzes. „Mit Art. 80 Abs. 1 GG ist das nicht zu vereinbaren“, konstatiert Möllers. Sein Fazit: „Der Notfall, den es zu bekämpfen gilt, bedarf der Überprüfung; die Maßnahmen, die er rechtfertigen soll, umso mehr.“

Spahns Zorn

Grünenpolitikerin Keul vermutet hinter dem Gesetz den Zorn des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn (CDU). „Offenbar war man verärgert, dass das Land Bayern mit einigen Initiativen im Zusammenhang mit der Corona-Krisenbewältigung vorgeprescht ist und wollte klar machen, wer in der Sache das Sagen hat“, so Keul zu Medscape. „Spahn wollte ein Zeichen setzen.“

Wie dem auch sei. Mit dem Gutachten des WD im Rücken müsse man nun abwarten, wo Spahn von dem neuen §5 Abs. 2 Gebrauch machen wolle. „Wir als Grüne fordern, dass im Zweifel der Bundestag und der Bundesrat eingebunden werden – auch wenn das Gesetz das nicht vorsieht.“

Das BMG indessen will auf die Kritik der Verfassungsrechtler nicht eingehen und verweist auf Anfrage auf die Begründung des Gesetzes. Dort wird die dringliche Situation im Zusammenhang mit der Corona-Krise als Grund für die Gesetzesnovelle genannt.

„Um einer Destabilisierung des gesamten Gesundheitssystems vorzubeugen, muss die Bundesregierung in die Lage versetzt werden, schnell mit schützenden Maßnahmen einzugreifen“, so die Gesetzesbegründung. Auf eine eventuelle Konkurrenz zu Art. 80 GG geht die Gesetzesbegründung nicht ein.

 

Kommentar

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