Eine Frage des Timings: Schottische Studie spricht für 37 Wochen Zwillingsschwangerschaft

Petra Plaum

Interessenkonflikte

16. April 2020

Alles spricht dafür, eine unkompliziert verlaufende Zwillingsschwangerschaft nicht zu früh zu beenden – auch eine aktuelle Studie in JAMA Pediatrics [1]. Ein Team um Dr. Sarah Murray – MRC Centre for Reproductive Health, Queen’s Medical Research Institute, University of Edinburgh in Schottland – analysierte Daten zur Entwicklung von mehr als 43.133 seit 1980 geborenen Zwillingen und schlussfolgert: „Die Ergebnisse dieser Studie legen nahe, dass ohne medizinische Komplikationen Zwillinge nicht routinemäßig vor Vollendung von 37 Schwangerschaftswochen zur Welt gebracht werden sollten.“

 
Die Studie ist jedoch nicht nach monochorialen und dichorialen Gemini aufgeschlüsselt, was die Aussagekraft erheblich limitiert. Prof. Dr. Constantin von Kaisenberg
 

Allerdings: Ab 38 vollendeten Schwangerschaftswochen (SSW) steige das Risiko für den Tod von einem oder beiden Babys im Mutterleib – nach Geburten vor der 37., aber nach der 35. SSW haben Zwillinge dagegen ein erhöhtes Risiko für einen speziellen Förderbedarf im späteren Leben.

Der Gynäkologe Prof. Dr. Constantin von Kaisenberg, Leiter der Geburtshilfe und Pränatalmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), kommentiert: „Die Methodik scheint solide zu sein, die Studie ist jedoch nicht nach monochorialen und dichorialen Gemini aufgeschlüsselt, was die Aussagekraft erheblich limitiert.“ Denn dichoriale Gemini haben ein deutlich geringeres Risiko als monochoriale, zu früh zur Welt zu kommen und Folgeschäden davonzutragen.

Von Kaisenberg engagiert sich in der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) und ist maßgeblich an der neuen AWMF-Leitlinie „Überwachung und Betreuung von Zwillingsschwangerschaften“ beteiligt, die im Sommer publiziert werden soll. Beteiligt sind daran mehrere Fachgesellschaften, neben der DGGG zum Beispiel auch die Deutsche Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin.

Design: Registerdaten ab 1980 im Visier

Für ihre populationsbasierte Kohortenstudie konnten Murray und ihre Kollegen auf Registerdaten aus 39 Jahren zurückgreifen. Diese waren in der Scottish Morbidity Record 02 (SMR02), Scottish Stillbirth and Infant Death Survey (SSBID) und im Scottish Exchange of Educational Data (ScotXed) erfasst worden.

Die Indikation für eine vorzeitige Entbindung war im Register SMR02 nicht erfasst. Allerdings waren Diagnosen wie Diabetes mellitus, Fehlgeburten in der Anamnese oder Hypertonie der Mutter verzeichnet.

Die Autoren entschieden sich für 2 primäre Outcomes:

  • Zum einen hinterfragten sie, nach welcher Schwangerschaftsdauer die Mortalität am höchsten bzw. niedrigsten war.

  • Zum anderen brachten sie das Gestationsalter und einen späteren Förderbedarf (kognitiv wie motorisch, im Alter zwischen 4 und 18 Jahren) in einen Zusammenhang.

Nach SSW aufgeschlüsselte Daten waren vorhanden für 43.133 Kinder, die zwischen 1980 und 2015 nach mindestens 34 SSW in schottischen Krankenhäusern zur Welt gekommen waren. Kinder mit kongenitalen Fehlbildungen sowie vor der 35. SSW im Mutterleib gestorbene Gemini wurden aus der Analyse ausgeschlossen. Die Analyse wurde jeweils um Störfaktoren wie Entbindungsjahr, Alter und Parität der Mutter, sozioökonomischen Status und Nikotinabusus bereinigt.

In der Kohorte kam es zu 354 Totgeburten, 472 perinatalen Todesfällen und 118 neonatalen Todesfällen. „Der größte Teil der Zwillinge – 21.057 oder 48,8% – wurden zwischen 37 und 38 vollendeten SSW geboren“, informiert Murray, „und 16.961 Zwillinge (39,1%) wurden zu früh geboren.“

Diese vorzeitige Geburt resultierte in jeder Schwangerschaftswoche in einer erhöhten Mortalität, so die Autoren: Verglichen mit reif geborenen Zwillingen lag die adjustierte Odds Ratio (AOR) für den Tod nach 34 SSW bei 2,59 (95% KI: 1,99-3,39), nach 35 SSW bei 2,12 (95% KI: 1,63-2,76) und nach 36 SSW bei 1,99 (95% KI: 1,53-2,69).

 
Nach mehr als 37 Wochen übertraf das Risiko für eine Totgeburt jenes für einen neonatalen Tod signifikant. Dr. Sarah Murray
 

Die Autoren merken an, dass es für die Kinder signifikant gefährlicher war, nach 34 oder 35 SSW geboren zu werden, als in diesem Zeitraum im Mutterleib zu verbleiben. Das Risiko für einen neonatalen Tod bei nach 34 und 35 SSW geborenen Kindern lag signifikant über demjenigen für den Tod im Mutterleib und eine darauf folgende Totgeburt in diesem Gestationsalter. Die Risikodifferenz betrug -2,49 nach 34 Wochen, -2,43 nach 35 Wochen.

Nach genau 37 SSW lagen die Risiken für einen Tod im Mutterleib und einen neonatale Tod gleichauf. Dies ist offensichtlich ein geeigneter Zeitpunkt, um die Geburt einzuleiten oder einen Kaiserschnitt vorzunehmen, denn: „Nach mehr als 37 Wochen übertraf das Risiko für eine Totgeburt jenes für einen neonatalen Tod signifikant“, so Murray.

Je früher geboren, desto mehr Förderbedarf

Das Überleben ist natürlich der wichtigste Outcome, doch Eltern wünschen sich auch, dass ihre Kinder körperlich und geistig gesund heranwachsen. Weil Frühgeburtlichkeit häufig mit Beeinträchtigungen der kognitiven wie motorischen Entwicklung einhergeht, erforschten Murray und ihre Kollegen anhand der Zwillingskohorte, inwiefern auch späte Frühgeborene eher körperliche oder geistige Beeinträchtigungen zurückbehalten.

Hierfür analysierten sie die bildungsrelevanten Daten von 9.519 Kindern im Alter von 4 bis 18 Jahren, wie sie in der Datenband ScotXed erfasst waren. Von Interesse war die Prävalenz eines speziellen Förderbedarfs, sei es aufgrund einer geistigen oder Lern-Behinderung, einer Dyslexie, einer körperlichen oder motorischen Beeinträchtigung, einer Störung der Sprachentwicklung oder wegen sozialer, emotionaler oder Verhaltens-Auffälligkeiten bzw. nach einer Autismus-Diagnose. 

Die Subgruppe umfasste nur Kinder aus Zwillingspärchen, d.h. gesichert dichoriale Zwillinge aus der Datenbank ScotXed. Im Register SMR02 ist nämlich nicht notiert, ob Gemini mono- oder dichorial sind.

Von den 9.519 Kindern hatten 1.069 (13,8%) einen speziellen Förderbedarf. „Eine inverse lineare Assoziation wurde zwischen dem Gestationsalter bei Geburt und speziellem Förderbedarf gesehen“, schreibt Murray.

Nach 34 und 35 SSW lag die adjustierte Odds Ratio bei 1,35, nach 36 Wochen bei 1,39, verglichen mit nach 37 SSW Geborenen. Kinder, die länger als 37 Wochen im Mutterleib geblieben waren, hatten in Bezug auf einen späteren Förderbedarf keinen signifikanten Vorteil.

Zudem zeigte die schottische Studie: Zwillinge hatten unabhängig vom Gestationsalter immer eine höhere Wahrscheinlichkeit, spezielle Förderung verordnet zu bekommen, als einer anderen Studie zufolge nach derselben Schwangerschaftsdauer geborene Einlinge. Woran das lag, konnte nicht ermittelt werden.

Wichtig: Beratung beim Gynäkologen mit detaillierten Ultraschallkenntnissen

Die Analyse von Murray und ihren Kollegen spricht dafür, werdende Eltern mit Gemini wie folgt zu beraten: 37 Schwangerschaftswochen sind bei einer unkomplizierten Schwangerschaft mit dichorialen Zwillingen genug.

Von Kaisenberg empfiehlt insgesamt die engmaschige Überwachung – bei Gynäkologen mit detaillierten Ultraschallkenntnissen. Zeichnet sich wirklich keinerlei Komplikation bei Mutter und Feten ab, sei das Ideal: „dichoriale Gemini nach 37+0 bis 38+0 SSW entbinden, monochoriale bei 36+0 bis 37+0 SSW.“

Ein Sonderfall bleiben die seltenen monochorialen und monoamniotischen Zwillinge: „Sie sollten nach 32+0 bis 32+6 Schwangerschaftswochen entbunden werden“, so die Empfehlung von Kaisenberg.
 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....