COVID-19 breitet sich weltweit immer mehr aus: 1.450.087 Menschen haben sich (Stand: 8. April, 16 Uhr) infiziert, 83.472 sind daran gestorben. Verglichen mit den Sterberaten in Italien (12%), Spanien, Frankreich und Großbritannien (um die 10%), China (4%) und den USA (2,5%) ist die Rate in Deutschland mit 1,5% niedrig. Was macht Deutschland anders? Das fragen sich Wissenschaftler und Medien weltweit, so unlängst auch die New York Times (NYT).
Es sei von einer „deutschen Anomalie“ die Rede gewesen, sagte Prof. Dr. Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn, gegenüber der NYT. Streeck bekam Anrufe von Kollegen aus den Vereinigten Staaten. „‚Was macht ihr anders?‘, haben sie mich gefragt“, sagte er. „Warum ist eure Sterblichkeitsrate so niedrig?“
Dass die Sterberate geringer als in anderen Ländern ist, habe wahrscheinlich mehrere Gründe. Ein Grund könnte sein, dass Patienten bei drohender Verschlechterung früh in die Klinik kommen.
Corona-Taxis fahren zu Quarantäne-Patienten
In Heidelberg beispielsweise ermöglichen sogenannte „Corona-Taxis“ Patienten mit COVID-19 einen frühen Zugang zur Versorgung. Medizinstudierende und Pflegekräfte des Uniklinikums Heidelberg bilden die Besatzung der speziellen Taxis, die COVID-19 Patienten in häuslicher Quarantäne nach 8 Tagen aufsuchen, um Abstriche und Blut abzunehmen.
„Am Ende der ersten Woche gibt es einen Wendepunkt“, erklärt Prof. Dr. Hans-Georg Kräusslich, der Leiter der Virologie am Universitätsklinikum Heidelberg, einer der führenden Forschungskliniken Deutschlands, gegenüber der NYT. Dann nämlich zeichne sich ab, ob COVID-19 abklinge oder sich die Symptomatik verschlimmere.
Ist das der Fall, werden die Patienten rasch in die Klinik gebracht. Laut Stefan Kramer vom Gesundheitsamt Rhein-Neckar-Kreis in Heidelberg sind derzeit 3 bis 4 Fahrzeuge im Einsatz. „Die Anzahl der Corana-Taxis richtet sich nach der Zahl der Patientenbesuche. Da wir alle positiv getesteten Personen mindestens einmal am achten Tag besuchen, kann man das relativ gut planen“, erklärt Kramer gegenüber Medscape.
Universitätsklinik und Gesundheitsamt arbeiten bei den Corona-Taxis eng zusammen. Die Idee kam auf, als sich gezeigt hatte, „dass die hausärztliche Versorgung der positiv getesteten Personen nicht so einfach zu gewährleisten ist. Außerdem hat sich gezeigt, dass durch eine frühzeitige stationäre Aufnahme die Krankheitsverläufe abgemildert werden können“, berichtet Kramer.
Und nun auch Test-Taxis
Mit den „Test-Taxis“ startet jetzt ein weiteres gemeinsames Projekt: Patienten in Alten- und Pflegeheimen mit Verdacht auf COVID-19 sollen so schneller entdeckt und zuverlässiger diagnostiziert werden. „Momentan fährt bereits eines dieser Test-Taxis. Wir passen uns dem Bedarf an, ein zweites Fahrzeug ist geplant“, berichtet Kramer.
Über die Test-Taxis werde ein schneller Abstrich der oft immobilen Personen vor Ort ermöglicht. Für den Fall eines COVID-19-Ausbruchs will man so möglichst schnell einen Überblick bekommen und Maßnahmen einleiten können.
Umfangreiche Tests – früh in die Klinik
Hat die geringere Sterberate vielleicht damit zu tun, dass Erkrankte früher in die Klinik kommen? „Das ist zum jetzigen Zeitpunkt noch Spekulation und wohl erst in einigen Wochen zu beurteilen“, meint Prof. Dr. Michael Pfeifer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP).
Doch er räumt ein, die umfangreichen und frühen Tests auf COVID-19 in Deutschland führten dazu, dass sich Patienten in einem früheren Krankheitsstadium in den Kliniken vorstellten. „In einem frühen Krankheitsstadium kann man die Patienten besser stabilisieren“, erläutert er im Gespräch mit Medscape.
Aus den in den USA stark betroffenen Bundesstaaten sei bekannt, dass viele Patienten erst in einem späten Stadium der Erkrankung in die Klinik kommen.
Bislang erkrankten viele jüngere Menschen an COVID-19 – „Epidemie unter Skifahrern“
Auch wenn das Durchschnittsalter der an COVID-19 Gestorbenen in Deutschland bei 82 Jahren liegt, so ist das Durchschnittsalter der Erkrankten hier doch niedriger als in vielen anderen Ländern, es liegt gerade mal bei 49 Jahren. In Frankreich liegt es dagegen bei 62,5 Jahren und in Italien bei 62 Jahren, wie aus den letzten nationalen Berichten dort hervorgeht.
Die Erklärung für den Unterschied: Viele der frühen Patienten in Deutschland haben sich in österreichischen und italienischen Skigebieten mit dem Virus angesteckt und waren relativ jung und gesund, so Kräusslich. Die Pandemie habe hierzulande als „Epidemie unter Skifahrern“ begonnen.
In dem Maße, wie sich COVID-19 ausbreite, seien nun aber auch immer mehr ältere Menschen betroffen. Entsprechend ist auch die Sterberate – die Anfang März noch bei 0,8% gelegen hatte – gestiegen, wie RKI-Präsident Prof. Dr. Lothar M. Wieler bereits früher angekündigt hatte.
Inzwischen 350.000 Tests pro Woche in Deutschland
Auch dass in Deutschland weit mehr Menschen getestet werden als in den meisten anderen Ländern, lässt die Sterberate niedrig erscheinen. Denn es werden auch mehr Menschen mit nur geringen oder keinen Symptomen getestet, was die Zahl der bekannten Fälle, nicht aber die Zahl der Todesfälle erhöht. „Das senkt automatisch die Todesrate auf dem Papier“, sagt Kräusslich.
Inzwischen führt Deutschland über 350.000 Coronavirus-Tests pro Woche durch – mehr als jedes andere europäische Land. Mitte Januar schon hatte die Charité in Berlin einen Test entwickelt und die Anleitung veröffentlicht.
Als Deutschland im Februar seinen ersten COVID-19-Fall hatte, waren in Laboren im ganzen Land bereits Tests verfügbar. „Der Grund, warum wir in Deutschland im Vergleich zur Zahl der Infizierten derzeit so wenige Todesfälle haben, lässt sich vor allem damit erklären, dass wir eine extrem hohe Zahl von Labordiagnosen durchführen“, sagt auch Prof. Dr. Christian Drosten, Leiter der Virologie an der Charité, dessen Team den Test entwickelt hat.
„Wenn ich eine frühe Diagnose habe und Patienten frühzeitig behandeln kann – sie z.B. an ein Beatmungsgerät anschließen kann, bevor sie sich verschlechtern – ist die Überlebenschance viel höher“, bestätigt Kräusslich.
Um die Tests beim medizinischen Personal zu rationalisieren, haben einige Kliniken damit begonnen, Blocktests durchzuführen, wobei Abstriche von 10 Mitarbeitern zusammengenommen werden und nur bei positivem Ergebnis einzelne Tests nachgeschaltet werden.
Ende April ist nun auch eine große Antikörperstudie in der Bevölkerung geplant, um festzustellen, inwieweit sich bereits eine Immunität aufgebaut hat.
USA: Weniger Tests
Dass in Deutschland mehr getestet wird als in den USA, hat auch damit zu tun, dass die Kosten für die Tests von den Krankenkassen übernommen werden. In den ersten Wochen des COVID-19-Ausbruchs war das in den USA nicht der Fall. Erst im vergangenen Monat verabschiedete der Kongress ein Gesetz, das kostenlose Tests auf den Erreger vorsieht.
Aber nicht nur die Kosten für den Test, auch eine fehlende Krankenversicherung hält Menschen in den USA davon ab, einen Arzt aufzusuchen. „Dass ein junger Mensch, der nicht krankenversichert ist, allein wegen Kratzen im Hals zum Arzt geht, ist wenig wahrscheinlich – er riskiert damit aber umso eher, andere Menschen anzustecken“, sagt Streeck.
Wie Streeck berichtet, sind in den meisten Ländern, auch in den USA, Tests weitgehend auf die kränksten Patienten beschränkt, so dass eher jungen Menschen, die wenige oder keine Symptome haben, eher ein Test verweigert werde.
Deutschland: Testkapazitäten begrenzt, weil die Reagenzien fehlen
Das sei in Deutschland in der Regel anders. Er berichtet vom Fall eines jungen symptomlosen Mannes, der in Bonn wegen des Besuchs einer Faschingsveranstaltung mit Infizierten getestet und als „positiv“ aufgedeckt worden war. Er war in einer Schule beschäftigt, diese wurde geschlossen, alle Kinder und Mitarbeiter mussten 2 Wochen in häuslicher Quarantäne verbringen, und rund 235 Personen wurden getestet.
„Testen und Verfolgen ist die Strategie, die in Südkorea erfolgreich war, und wir haben versucht, daraus zu lernen“, so Streeck. Doch man lerne auch aus früheren deutschen Fehlern: Die Strategie der Ermittlung von Kontaktpersonen hätte noch aggressiver eingesetzt werden müssen, sagt er. So hätten z.B. alle, die aus dem Skiort Ischgl nach Deutschland zurückgekehrt waren, aufgespürt und getestet werden müssen.
In seinem NDR-Podcast Corona-Udpate vom 7. April weist Drosten allerdings darauf hin, dass die Testkapazitäten begrenzt sind, weil zunehmend Reagenzien knapp werden. „Wir sind jetzt so seit ein, zwei Wochen immer schmerzlicher an diesem Punkt, wo wir in den Laboren merken, wir bestellen Vorrat für zwei Wochen, und wir kriegen geliefert für drei Tage von allen möglichen Reagenzien“. Man lebe quasi „von der Hand in den Mund“. Wichtig ist aus seiner Sicht deshalb, dort zu testen, wo es wirklich notwendig ist.
Vorbereitung über mehr Intensiv-Kapazitäten und Intensiv-Register
Noch ein Argument, warum Deutschland gut dasteht: Im ganzen Land haben die Krankenhäuser ihre Intensivpflegekapazitäten erweitert. Und sie sind von einem hohen Niveau aus gestartet. Vor COVID-19 verfügte das Uniklinikum Gießen über 173 mit Beatmungsgeräten ausgestattete Intensivbetten. Inzwischen hat das Krankenhaus die Zahl der Betten um 40 und die Zahl der Bereitschaftskräfte für die Intensivpflege um bis zu 50% erhöht.
„Wir haben jetzt so viel Kapazität, dass wir Patienten aus Italien, Spanien und Frankreich aufnehmen können“, sagt Prof. Dr. Susanne Herold, Leiterin der Sektion Klinische Infektiologie am Uniklinikum Gießen. „Wir sind sehr stark im Bereich der Intensivmedizin.“
Im Januar gab es in Deutschland rund 28.000 beatmungsfähige Intensivbetten, das sind 34 pro 100.000 Menschen. Zum Vergleich: in Italien sind es 12 und in den Niederlanden 7. Mittlerweile stehen in Deutschland 40.000 Intensivbetten zur Verfügung.
Ein wichtiger Teil der Vorbereitung auf die COVID-19-Pandemie ist das DIVI-Intensivregister. Dort sollen die 1.100 bis 1.200 Intensivabteilungen in den deutschen Kliniken ihre freien Kapazitäten eintragen und so eine bessere und tagesaktuelle Koordination ermöglichen. LINK?
Mit ihren klinisch-ethischen Empfehlungen haben sich Deutschlands Notfall- und Intensivmediziner aber trotz allem auch darauf vorbereitet, wie zu verfahren ist, wenn die intensivmedizinischen Ressourcen trotz Kapazitätserhöhung nicht ausreichen sollten (wie Medscape berichtete). „Es ist wichtig, dass wir Richtlinien für Ärzte haben, wie sie die Triage zwischen den Patienten praktizieren können, wenn es sein muss“, sagt Streeck. „Aber ich hoffe, dass wir sie niemals anwenden müssen.“
Einige Experten sind vorsichtig optimistisch, dass soziale Distanzierung die Kurve der schweren Erkrankungen so weit abflachen könnte, dass das Gesundheitssystem die Pandemie überstehen könnte, ohne dass Intensivbetten und Beatmungsgeräte knapp werden.
Trägt auch die Bundeskanzlerin ihren Teil dazu bei?
Die New York Times stellt auch die These auf, dass womöglich die Krisenkommunikation der Bundesregierung Anteil daran habe, dass die Sterblichkeitsrate niedrig gehalten werden konnte. Die Bundeskanzlerin, selbst Naturwissenschaftlerin, habe während der Krise klar, ruhig und regelmäßig kommuniziert, als sie dem Land immer schärfere soziale Abgrenzungsmaßnahmen auferlegte.
Die Beschränkungen, die für die Verlangsamung der Ausbreitung der Pandemie entscheidend sind, seien auf wenig politischen Widerstand gestoßen und würden weitgehend befolgt. „Unsere vielleicht größte Stärke in Deutschland“, meint auch Kräusslich, „ist die rationale Entscheidungsfindung auf der höchsten Regierungsebene in Verbindung mit dem Vertrauen, das die Regierung in der Bevölkerung genießt.“
Medscape Nachrichten © 2020 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Was machen wir besser? Hypothesen, warum in Deutschland die Sterberate an COVID-19 nach wie vor eher niedrig ist - Medscape - 9. Apr 2020.
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